Silke Jäger | Foto: Privat

Beitrag von Silke Jäger

Silke Jäger ist freie Journalistin und spezialisiert auf medizinische Themen und Gesundheitspolitik. Für Politik interessiert sie sich immer schon. Seitdem sie in London lebt, ist fasziniert davon, wie sehr das Thema Nordirland die europäischen Fragen beeinflusst. Zu ihrer Webseite geht es hier.

 

Vor einem Jahr, am 23. Juni 2016, schlug das Ergebnis des Brexit-Referendums ein wie eine Bombe: Europa war erschüttert und das Königreich stand zu großen Teilen unter Schock. Doch erst nach und nach zeigt sich, wie die gewaltigen Veränderungen des Brexits aussehen werden und was sie bedeuten könnten. Besonders, seitdem Theresa May und ihre konservative Partei (Tories) mit der Wahl am 8. Juni ihre bequeme absolute Mehrheit gegen eine einfache Mehrheit eingetauscht haben und eine Minderheitsregierung stellen, sind die Sorgen der Briten gewachsen.

Die Tories in der Zwickmühle

Regierungskoalitionen sind im britischen Unterhaus unüblich und werden als deutliches Zeichen von Schwäche angesehen. Manche Londoner, mit denen ich bei einem Kaffee (ja, der wird hier auch getrunken) darüber gesprochen habe, stoßen sich allein daran. Dass der Partner der Tories die nordirische Demokratische Unionist Party (DUP) ist, spielt für sie keine besonders große Rolle. Auch Lord Heseltine, Tory-Politiker und früherer Vize-Premier, teilt diese Einschätzung. Er sagte am 20. Juni 2017 in der BBC Newsnight, dass es egal ist, mit wem sich die Konservativen verpartnern. Er prognostiziert, dass diese Minderheitsregierung so oder so nicht lange im Amt sein wird.

Enge Bande möchten die Tories noch nicht einmal knüpfen, sie suchen lediglich nach einer Zusage der DUP, dass sie für ihre konservativen Gesetzesvorschläge stimmt. Ohne diese Zusage ist die Regierungspartei kaum handlungsfähig, denn die Oppositionsparteien im Unterhaus haben längst klargemacht, dass sie in so ziemlich jeder Hinsicht einen anderen Weg einschlagen als die Konservativen, einen Soft Brexit zum Beispiel (was auch immer das genau sein soll). Wenn die Tories also wenigstens einen Teil ihrer Vorstellungen durch die nächsten 5 Jahre bringen wollen, bleibt ihnen nichts Anderes übrig, als sich mit den 10 Abgeordneten der DUP zu verschwistern, um auf eine Mehrheit von 326 Stimmen zu kommen. Dabei sieht es im Moment eher so aus, als ob May um jeden weiteren Tag im Amt schachern muss. Die Verhandlungen mit der DUP sind zäh und der Abschluss ist heute wieder einmal verschoben worden, auf nächsten Donnerstag, den 29. Juli – ein wichtiges Datum für Nordirland, wir kommen gleich noch darauf zurück.

 

Nordirland kam lange nicht vor – warum?

Anders als meine Londoner Bekannten und Lord Heseltine schlagen viele Medien in England, Irland und Nordirland inzwischen sehr kritische Töne zu diesem bevorstehenden Tory-DUP-Deal und zum Brexit insgesamt an. Wie Dr. Nikos Skoutaris in einem Blogbeitrag hier schon bemerkte, kommen die Bedenken allerdings recht spät: Die europäische Presse gab sich insgesamt schweigsam, wenig war zu lesen darüber, was der Brexit für Nordirland bedeutet. Dass sich das nun ändert, hat natürlich auch mit den Westminsterquerelen zu tun. Es brauchte offenbar genau diese Situation, um die Brisanz des Brexits, eben nicht nur des Wahlausgangs, für Nordirland und die nordirische Grenze in Erinnerung zu rufen. Warum der Brexit in der Lage ist, den Frieden in Nordirland zu gefährden, hat aber nicht nur mit dem DUP-Deal zu tun, sondern mit einer Reihe von Umständen (manche reichlich undurchsichtig), die ich hier ein wenig erklären möchte – allerdings nicht vollständig und nicht bis ins Detail, denn die Sache ist kompliziert.

Warum der Brexit für Nordirland brisant ist

  • Nordirland hat seit Januar 2017 keine Regierung, weil DUP (hier mehr Infos über die Partei) und Sinn Féin (hier mehr Infos über die Partei) sich in wichtigen Fragen nicht einigen können. Die Vorgängerregierung zerbrach, nachdem der 1. Minister Martin McGuiness (Sinn Féin, inzwischen verstorben) aus Protest gegen die Haltung der DUP zurückgetreten war. Einer der Gründe: Die DUP lehnte eine Untersuchung über ihre Rolle in einem Skandal über erneuerbare Energien ab und tut dies nach wie vor (hier mehr Infos dazu).
  • Eine Einigung zwischen Sinn Féin und DUP für eine gemeinsame Regierung in Belfast müsste bis zum 29. Juli kommen, ansonsten werden Neuwahlen angesetzt, die 2. in diesem Jahr, nachdem im März schon einmal vorgezogene stattgefunden hatte. Auch die fanden wenig Beachtung in den Medien. Die langen Verhandlungen in Westminster tragen dazu bei, dass die Verhandlungen in Belfast noch schwieriger werden, egal wie das Ergebnis sein wird. Denn die DUP ist jetzt mit den Tory-Gesprächen beschäftigt und kann sich nicht gleichzeitig um die Regierungsbildung in Belfast kümmern.
  • Die DUP stellt Bedingungen für ihren Pro-Tory-Kurs im Unterhaus. Nach Medienberichten könnten das zusätzliche Investitionen in die nordirische Infrastruktur sein, in Schulen, Straßen und auch ins Gesundheitssystem. Die Summe, die im Raum steht, geht hoch bis zu 2 Milliarden Pfund. Erfüllt Westminster die Forderungen, könnten Wales und Schottland fragen, wo ihr Extrabudget bleibt. Gleichzeitig hätte die DUP einen taktischen Vorteil für kommende Wahlen in Nordirland errungen, denn sie könnte mit ihrem Verhandlungserfolg im Wahlkampf punkten. Ist der Deal zwischen Tories und DUP erfolgreich, ist es jedenfalls mit der Neutralität Westministers dahin.
  • Westminster hat bereits mit der Aufnahme der DUP-Verhandlungen seine neutrale Haltung eingebüßt. Auch ein gemeinsames Treffen mit der irischen Regierung und den beiden Nordirland-Parteien konnte keine Entspannung in dieser Frage bringen – im Gegenteil. Sinn Féin teilte nach dem Treffen mit, dass sie die Tory-DUP-Verhandlungen als einen Bruch des Karfreitagsabkommen ansehen und juristische Schritte prüfen.
  • Inzwischen gibt es eine Klage gegen die Tories. Die irischen Grünen haben sie eingereicht.
  • Immer wieder gibt es Gerüchte darüber, wie die nordirischen Parteien mit den militanten Kräften des Nordirlandkonflikts verbunden sind. Der Sinn Féin wird vorgeworfen, der politische Arm der IRA zu sein, die DUP soll ehemalige Ulster-Terroristen schützen oder sogar in ihren eigenen Reihen haben. Wäre das so, kann jeder Streit zwischen den Parteien ein Streit zu viel sein und die militanten Kräfte in Nordirland stärken, denen bislang der Rückhalt aus der Bevölkerung fehlt.
  • Die DUP ist für einen harten Brexit. Sie hat mehr Geld in die Leave-Kampagnen zum Brexit-Referendum gesteckt als in die Nordirland-Wahl im März 2017. Wesentlich mehr.
  • Die Grenze zwischen Nordirland und Irland wäre nach dem Brexit die einzige Landgrenze, die Großbritannien mit der EU hat. Diese Grenze ist zurzeit unsichtbar, müsste aber nach dem Brexit in irgendeiner Form kontrolliert werden, zumindest nach EU-Recht. Und auch, um die Hintertür für illegale Einwanderung über Irland zu schließen. Gleichzeitig ist es für den Frieden in Nordirland entscheidend, dass die Grenzposten, die an Kriegszeiten erinnern, nicht wieder installiert werden und dass Iren, Nordiren und Waren ungehindert passieren können. Das Thema stand deshalb in den Brexit-Verhandlungen ganz oben auf der Liste, wurde aber nun nach den ersten Gesprächen als langfristiger Verhandlungspunkt eingestuft, für den man sich genügend Zeit nehmen möchte. Ein Hinweis darauf, dass eine Lösung als kompliziert eingestuft wird.
  • Wie kompliziert, wird auch daran deutlich, dass Irland angekündigt hat, dem Brexit-Vertrag nicht zuzustimmen, wenn das Karfreitagsabkommen dadurch in Gefahr gerät.

Einbruch der Realität oder übertriebene Zukunftsangst?

Der Weg der Briten ist mehr als steinig, nicht nur wegen des Bergs an EU-Regularien, die ersetzt werden müssen, den finanziellen Verstrickungen und Streitigkeiten mit der EU, sondern vor allem auch innenpolitisch. Die strauchelnden Tories in Westminster sind zum unkalkulierbaren Risiko für den nordirischen Friedensprozess geworden. Das Schauspiel ist aber nur ein Vorgeschmack auf den Druck, der in Nordirland durch den Brexit erzeugt wird. Das wird nun zunehmend auch in den Medien thematisiert. In Brüsseler Stuben hatte man das Thema schon von Anfang an als eines der schwierigsten Punkte erkannt.

Die Londoner Bürger, mit denen ich gesprochen habe, halten beim Thema Nordirland die Luft an. Viele erinnern sich noch an die Zeiten der IRA-Anschläge. Keiner kann sich vorstellen, dass diese Zeiten zurückkommen, aber alle haben Sorge, dass sie sich irren. Dass der Brexit tatsächlich kommen könnte, hatten die meisten hier ja auch nicht für möglich gehalten.


Titelfoto: Graffiti in Belfast | Stéphane Moussie CC BY-NC-SA 2.0

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