Während sich unsere Nachbarn im Norden auf die Wahlen vorbereiteten, fand in Rom ein Treffen zwischen Orbán und Meloni statt, „“der Vorhut unter den europäischen Regierungschefs, die eine absolutistische Auffassung von Demokratie vertreten“. Zu diesem Club möchte auch Geert Wilders gehören, dessen PVV viele Stimmen gewinnen konnte.

Essay von Ilja Leonard Pfeijffer | 3. November 2025

Zwei Tage bevor die Wahllokale in den Niederlanden ihre Türen für eine vorgezogene Wahl zur Zweiten Kammer öffneten, die notwendig geworden war, weil die erste Regierung Wilders ohne Wilders, die am 2. Juli 2024 ihr Amt angetreten hatte, am 3. Juni 2025 gestürzt worden war, als Wilders seiner eigenen Regierung die Unterstützung entzog, weil seine Koalitionspartner sich weigerten, seinen verfassungswidrigen und nicht realisierbaren Zehn-Punkte-Plan gegen Asylmigration zu unterstützen, woraufhin es am 22. August dieses Jahres erneut zu einem Sturz kam, als die Minister des Neuen Sozialvertrags [NSC] das Kabinett wegen Uneinigkeit über die Zweckmäßigkeit einer Reaktion auf den israelischen Völkermord in Gaza verließen, besuchte der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán Italien.

Am Morgen des 27. Oktober wurde er im Cortile di San Damaso des Apostolischen Palastes von Papst Leo XIV. empfangen, dann besuchte er nach dem Mittagessen Premierministerin Giorgia Meloni im Palazzo Chigi auf der Piazza Colonna 370. Am nächsten Tag traf er den stellvertretenden Premierminister Matteo Salvini in dessen Ministerium in der Via Nomentana 2.

Orbán kam, um eine pazifistische Botschaft zu überbringen. So zumindest bezeichnete er sie selbst. Er will Frieden in der Ukraine erreichen, indem er das Land an Putin abgibt. Seiner Analyse zufolge ist die Europäische Union ein Nichts, und eine Annäherung an Moskau ist für einzelne Länder in Europa der einzige Weg, um Einfluss zu gewinnen. Er war nach Rom gekommen, um die italienische Regierung einzuladen, sich der sogenannten pazifistischen Achse in Mitteleuropa anzuschließen, die aus Ungarn, der Slowakei und Tschechien besteht, und den fruchtlosen Widerstand gegen die russische Expansion aufzugeben.

Pazifismus

Zufällig hatte ich mich in diesen Tagen gerade in ein Buch von Michel Coquet vertieft, das größtenteils aus Gesprächen mit einem Meister des Zen-Buddhismus und des japanischen Schwertkampfs aus Shizuoka besteht, der sich hinter dem Pseudonym Takeuchi verbirgt.

Über Pazifismus sagt Meister Takeuchi Folgendes: „Diejenigen, die behaupten, wir sollten uns ergeben und nie wieder eine Waffe in die Hand nehmen, sind in der Regel die ersten, die klagen, wenn Widrigkeiten ihre Ruhe und ihr Wohlergehen stören. Wir müssen Krieg vermeiden, aber das darf kein Grund sein, dass wir uns unserer Verantwortung entziehen.

Wer sich weigert, das Notwendige zu tun, überlässt unter dem Deckmantel der Friedfertigkeit die Drecksarbeit anderen. Der moderne Pazifismus ist lediglich Ausdruck einer dekadenten Gesellschaft, einer engstirnigen und ängstlichen Mentalität und einer materialistischen Einstellung, die Ideale ablehnt und auf nichts anderes aus ist, als das eigene kleine, egoistische Selbst zu bewahren.“

Man könnte versucht sein zu sagen, dass Takeuchi bei seiner Analyse den spezifischen Fall Orbán im Blick hatte, denn dessen sogenannter Pazifismus ist ganz offensichtlich durch Überlegungen des Materialismus, Egoismus und der Selbsterhaltung motiviert. Ungarn ist ebenso wie die Slowakei, Tschechien und Italien in hohem Maße von russischem Öl und russischem Gas abhängig.

Da im Frühjahr Wahlen in Ungarn stattfinden, bei denen Orbán zum ersten Mal seit Jahrzehnten ernsthaft herausgefordert wird, kann er sich keinen wirtschaftlichen Rückgang leisten. In Rom kündigte er an, dass er in Kürze nach Washington reisen wolle, um Donald Trump davon zu überzeugen, dass die Importbeschränkungen für Öl und Gas aus Russland aufgehoben werden müssen.

Für die italienische Gastgeberin war der Besuch von Orbán nicht einfach. Meloni betrachtet Orbán aufgrund seiner absolutistischen Demokratieauffassung, deren erstes Opfer die Pressefreiheit in Italien war, als Vorbild und als Verbündeten in ihrem Kampf gegen Einwanderung und für die Wiederherstellung der traditionellen Familie, aber sie unterstützt die Ukraine und das europäische Wiederaufrüstungsprogramm.

Dies ist genau der Hauptstreitpunkt mit ihrem Koalitionspartner Salvini, der auch in dieser Frage der Linie von Orbán und Putin folgt. Das Treffen zwischen Orbán und Salvini am Dienstag gab Meloni daher Anlass zur Sorge. Hinzu kommt, dass Meloni sich ihrer guten Beziehungen zu Trump rühmt und daher Orbáns Forderung, sich von den Exportbeschränkungen, die Trump Russland auferlegt hat, zu distanzieren, nicht nachkommen kann.

Hass der Wählerschaft

Die Rolle Europas auf der Weltbühne, die am Dienstagabend, dem 28. Oktober, erneut auf die Probe gestellt wurde, als Israel trotz des vereinbarten Waffenstillstands seine groß angelegten Angriffe auf den Gazastreifen wieder aufnahm, bei denen in einer Nacht mindestens hundert Menschen ums Leben kamen, und all diese existenziellen Entwicklungen, die für die Zukunft Europas entscheidend sind, waren während des hitzigen Wahlkampfs in den Niederlanden kaum Gegenstand der Debatte.

Frans Timmermans war als ehemaliger Staatssekretär und Außenminister sowie als ehemaliger Kommissar und Vizepräsident der Europäischen Kommission der einzige Spitzenkandidat, der über das Wissen und die Erfahrung verfügt, um geopolitische Entwicklungen richtig einzuschätzen, doch gerade deshalb wurde er während des Wahlkampfs zunehmend verteufelt.

Timmermans spricht offenbar acht Sprachen und liest Bücher. Es gelang ihm nicht, zu verbergen, dass er sich in vielen Bereichen auskennt. Nichts ruft bei den Wählern so viel Hass hervor wie Fachwissen

Er spricht offenbar acht Sprachen und liest Bücher. Obwohl er dies während des Wahlkampfs natürlich klugerweise verbarg, gelang es ihm nicht, zu verheimlichen, dass er sich in vielen Bereichen auskennt. Nichts ruft bei den Wählern so viel Hass hervor wie Fachwissen. Er wurde mit dem Tod bedroht.

Ein weiteres Thema, das in der niederländischen Wahlkampagne keine Rolle spielte, waren die Ergebnisse einer aktuellen Umfrage von Ipsos I&O, die zeigte, dass unter den niederländischen Wählern große Uneinigkeit darüber herrscht, wie die Demokratie funktionieren sollte.

„Nach Ansicht der Wähler rechtspopulistischer Parteien (PVV, JA21, BBB, FvD)”, schrieb die NRC, „steht die niederländische Demokratie vor allem deshalb unter Druck, weil „der Wille des Volkes” ignoriert wird. „Das Volk stimmt mit klarer Mehrheit für bestimmte politische Maßnahmen”, sagt ein JA21-Wähler in der Umfrage, aber diese werden dann „durch Verträge, Institutionen und Beamte ausgehebelt”.

„Wähler linker, progressiver und Mitte-Parteien kommen zu genau dem gegenteiligen Schluss. Ihrer Meinung nach besteht das Problem darin, dass der Schutz von Minderheiten in den Niederlanden unter Druck steht und die Gegenmacht von Richtern, Beratungsgremien und Medien zu oft beiseite geschoben wird. ‚Politiker respektieren die Richter und den Rechtsstaat nicht‘, sagt ein D66-Wähler.“

Der Forscher Sjoerd van Heck fasste es wie folgt zusammen: „Zwei Wählergruppen haben eine gegensätzliche Vorstellung davon, was Demokratie eigentlich ist. Dieser grundlegende Unterschied wirkt sich auf alles aus.”

Die traditionelle konstitutionelle Demokratie wird nun durch ein alternatives Modell der absoluten Demokratie herausgefordert, das eine Diktatur der Mehrheit durchsetzen will

Dieser grundlegende Unterschied in der Definition der Demokratie resultiert aus der Tatsache, dass das traditionelle Modell einer konstitutionellen Demokratie, ein Begriff, der lange Zeit als Pleonasmus betrachtet werden konnte, seit kurzem durch ein alternatives Modell der absoluten Demokratie in Frage gestellt wird, in dem dem Wahlsieger das demokratische Mandat übertragen wird, die Institutionen des Rechtsstaats zu ignorieren und eine Diktatur der Mehrheit zu errichten.

Absolute Demokratie

Orbán und Meloni stehen an der Spitze der europäischen Regierungschefs, die eine absolutistische Auffassung von Demokratie vertreten. Der Besuch des ungarischen Ministerpräsidenten in Rom diente nicht nur seiner pro-russischen Agenda, von der er im Voraus wusste, dass Salvini dafür empfänglicher sein würde als Meloni, sondern vor allem eine Bestätigung des unausgesprochenen verfassungswidrigen Paktes, der beide zu Gegnern der vorgeschlagenen Reformen der Europäischen Union macht, die eine Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit ermöglichen und damit das Vetorecht einzelner Staaten abschaffen sollen, und der beiden eine privilegierte Verbindung zu Donald Trump verschafft.

Dass Trumps Vorliebe für eine absolute Demokratie für die Innenpolitik souveräner Nationen von Bedeutung ist, zeigte sich bei den Parlamentswahlen in Argentinien am 26. Oktober, bei denen Trump die argentinischen Wähler erfolgreich erpresst hatte (https://www.demorgen.be/ nieuws/populariteit-milei-hapert-vs-steunen-argentijnse-president-met-lening-van-20-miljard-dollar~b11dc07c/) , indem er mit Einfuhrzöllen drohte, für den Fall, dass die Kandidaten von Trumps Favoriten Javier Milei nicht gewinnen sollten.

Anhänger der absoluten Demokratie haben denselben Bekehrungseifer, der auch den Idealisten der konstitutionellen Demokratie eigen ist, aber aufgrund ihrer Überzeugung werden sie dabei weniger durch Skrupel behindert, die aus Respekt vor der internationalen Rechtsordnung entstehen.

Die Zukunft des Rechtsstaats, des Völkerrechts und Europas stand bei den niederländischen Wahlen am Mittwoch, dem 29. Oktober, auf dem Spiel, aber niemand schien sich dessen bewusst zu sein. Dass große Gruppen von Niederländern völlig unterschiedliche Vorstellungen davon haben, wie Demokratie funktionieren sollte, war kein Thema der Debatte.

Gegensätze

Diese nie thematisierte Dichotomie spiegelte sich im Wahlergebnis wider. Die Partei von Wilders, dem ausgesprochensten Verfechter des absolutistischen Ideals, und die linksliberale D66 von Rob Jetten, die sich im Wahlkampf und davor als überzeugendster Anti-Wilders profiliert hat, sind die beiden größten Parteien geworden. In ihren Ansichten über die Bedeutung der Rechtsstaatlichkeit und in ihren Definitionen dessen, was Demokratie ist, unterscheiden sich beide Parteien diametral voneinander.

Außerdem sind Wilders‘ PVV, die Unzufriedene mobilisiert und Sündenböcke benennt, und die kosmopolitische D66, die sich mit der selbstgefälligen Vernunft der Hochschulabsolventen profiliert, die Parteien, die die größte Anziehungskraft auf die Verlierer bzw. Gewinner der Globalisierung ausüben. Dass beide die größten Parteien sind, spiegelt die Polarisierung der niederländischen Gesellschaft wider, die sich auch darin zeigt, dass es in der niederländischen Parlamentsgeschichte noch nie vorgekommen ist, dass die größte Partei so klein war.

Die klassische Linke hat es nicht geschafft, aus der Tatsache Kapital zu schlagen, dass die Niederlande in den letzten zwei Jahren unter einer rechtsextremen Regierung in Stillstand und Chaos versunken sind. Die Fusionspartei aus Sozialisten und Grünen unter der Führung von Timmermans verlor sogar ein Fünftel ihrer Sitze.

In den guten alten Zeiten hatten die Sozialisten allein doppelt so viele Sitze wie die beiden Parteien jetzt zusammen. Kurz nach der Veröffentlichung der Exit-Umfrage gab Timmermans seinen Rücktritt als Parteivorsitzender bekannt. Er ist erschöpft und zermürbt von dem Hass, der ihn wie ein Fluch verfolgt.

Dies sind keine Zeiten für Kompetenz. Dennoch liegt es nicht an ihm. Der unvermeidliche Niedergang der Linken begann bereits vor dreißig Jahren, als die Sozialisten des Dritten Weges den freien Markt und den Neoliberalismus übernahmen. Seitdem sind die Arbeiter mit ihrem Ruf nach Veränderung zu den Revolutionären der extremen Rechten übergelaufen. Seitdem erweist es sich für die Linke als schwierig, den Vorwurf der Heuchelei zu entkräften. Seitdem ist die Glaubwürdigkeit der Linken erschüttert.

Dieser Essay von Ilja Leonard Pfeijffer erschien ursprünglich am 31. Oktober 2025 unter dem Titel „‘Niets roept zoveel haat op bij het electoraat als deskundigheid’: Ilja Leonard Pfeijffer over de Nederlandse verkiezingen“ in der belgischen Zeitung „De Morgen“. Übersetzung ins Deutsche: Jürgen Klute

Titelbild:  Rob Bogaerts / Anefo CC01 1.0 Universal DEED via Wikimedia

Auch ein Blog verursacht Ausgaben ...

… Wenn Ihnen / Euch Europa.blog gefällt, dann können Sie / könnt Ihr uns gerne auch finanziell unterstützen. Denn auch der Betrieb eines Blogs ist mit Kosten verbunden für Recherchen, Übersetzungen, technische Ausrüstung, etc. Eine einfache Möglichkeit uns mit einem kleinen einmaligen Betrag zu unterstützen gibt es hier:

Ilja Leonard Pfeijffer

Foto: Stephan Vanfleteren

661