Von Frederik D. Tunnat

Differenziert und vernichtend ist das Urteil, das 24 prominente Autoren aus Publizistik und Wissenschaft über die Amtszeit der deutschen Kanzlerin fällen: In schwierigen Situationen habe Merkel Entscheidungen gefällt, die ebenso weitreichend wie fatal waren – sei es bei Euro-Krise, Energiewende, Flüchtlingskrise oder Impfstoff-Beschaffung. Angela Merkel konnte nichts für all die schweren Krisen, die ihre Amtszeit überschatteten. Doch für ihren Umgang mit diesen Herausforderungen müsste sie Verantwortung übernehmen, bzw. zur Rechenschaft gezogen werden.

„In der Öffentlichkeit wurde Merkel in all den Krisenjahren oft als überlegt agierende Staatenlenkerin dargestellt, teils in geradezu hymnischen Worten. Unsere Merkel-Bilanz ist tatsächlich ein Kontrast zum Dauerlob, das Merkel in vielen Medien lange Zeit erfahren hat“, schreibt Philip Plickert. “Wir glauben, dass sie in entscheidenden Krisen und Fragen opportunistisch gehandelt und gravierende Fehler gemacht hat, die Deutschland noch auf Jahre belasten werden.”

Das Buch widmet sich Merkels Agieren in den vier wichtigen Bereichen: Euro-Krise, Energiewende, Asylkrise und Corona-Pandemie. Als besonders schwerwiegend beurteilt Plickert das Handeln der scheidenden Kanzlerin im Jahr 2015, dem Jahr der Flüchtlingswelle: “Die schwerste Hypothek ist wohl aus der Politik der offenen Grenzen in der Flüchtlingskrise entstanden. Das hat Europa leider gespalten und kostet Deutschland noch Hunderte Milliarden durch schwer integrierbare Zuwanderer”. „Merkel habe im Herbst 2015 primär aus Angst vor “unschönen Bildern” agiert“, kritisiert Publizistin Cora Stephan: „Die Kanzlerin wollte damals unbedingt vermeiden, dass Aufnahmen von Migranten, die an der Grenze zurückgewiesen werden, durch die Medien wandern. Deshalb habe sie sich auch geweigert, den bereits vorliegenden Befehl an die Bundespolizei zur Grenzsicherung zu unterzeichnen“. Die Folge: “Ungebremst ließ man das Land ins Chaos schlittern, jedoch nicht aus Humanität oder Ausweglosigkeit, sondern weil man sich vor einer Entscheidung drückte, die unkontrollierte Zuwanderung von Hunderttausenden zu stoppen oder zumindest zu steuern” in der Lage gewesen wäre. Anders beurteilt Historiker Michael Wolffsohn Merkels damalige Motive. Er sieht bei ihr einen “humanitären Imperativ”, kritisiert jedoch ebenfalls Merkels chaotische Asylpolitik.

Das Vorgehen Merkels im Zusammenhang mit der Energiewende, passt überhaupt nicht in das Bild der alles “vom Ende her denkenden” Kanzlerin. Dieses Bild sei “Fiktion”, schreibt Plickert: „Merkel habe gerade bei schwerwiegenden Entscheidungen [stets] ohne Plan gehandelt”. Das gelte für die deutsche Energiewende, die in Zukunft weitere Unsummen verschlingen wird. Auch hier waren es unschöne Bilder vom Fukushima-Unglück 2011, die eine urplötzliche Total-Kehrtwende in Merkels Energiepolitik einleiteten. Merkels einsame Entscheidung des beschleunigten Ausstiegs aus der Atomenergie war eine Entscheidung ohne Vorbild und ohne Nachahmer. „Der ehemalige Umwelt- und heutige Wirtschaftsminister Peter Altmaier schätzt die Gesamtkosten auf eine Billion Euro“. Ökonom Justus Haucap spricht in diesem Zusammenhang von “Deutschlands teurem Irrweg”, der horrende Stromkosten bei minimaler Klimaschutzwirkung bewirkt“ habe. “Das Absurde dabei ist, dass die klimapolitische Wirkung der deutschen Energiewende praktisch gleich null ist”, meint Plickert. “Keine Tonne CO2 wird in Europa eingespart, denn die Gesamtmenge der CO2-Emissionen ist durch den europäischen Emissionshandel gedeckelt. Verbraucht Deutschland weniger CO2-Zertifikate, fällt deren Preis, und andere Länder und Industrien kaufen mehr Zertifikate: Die Gesamtmenge der Emissionen bleibt absolut gleich.” Daher entpuppe sich die Kanzlerin als politischer “Scheinriese”.

„Scheinbar souverän schien Merkel zunächst die Corona-Krise zu meistern, bis ihre Entscheidung fiel, die Impfstoffbeschaffung der EU-Kommission zu übertragen. Das Ergebnis: Die Beschaffung der Impfstoffe verzögerte sich um Monate, was weitere Menschenleben kostete und neuerlich volkswirtschaftliche Schäden in Milliardenhöhe verursachte“.

Merkels Kanzlerschaft kam die Deutschen überaus teuer zu stehen. „Die Steuer- und Abgabenlast ist kontinuierlich gestiegen. Deutschlands Abgabenquote zählt für Normalverdiener zu den höchsten unter den OECD-Staaten. Wichtige Investitionen in die Infrastruktur wurden gleichzeitig vernachlässigt. Der Vermögensaufbau wurde den Bürgern erschwert“. Der “Dauerbegleiter von Merkels Kanzlerschaft”, die Euro-Krise, ist bis heute nicht überstanden. Merkel wollte Griechenland unbedingt im Euro-Raum halten, den Brexit konnte Merkel trotzdem nicht verhindern. Dass Griechenland noch immer Europas finanzpolitisches Sorgenkind ist, macht Währungsexperte David Marsh deutlich: „Einen Großteil der an das Land vergebenen dreistelligen Milliarden-Hilfskredite werden abzuschreiben sein, was Deutschland wiederum einen zweistelligen Milliardenbetrag kostet. Gleichzeitig verwandelte sich der Euro-Raum Schritt für Schritt in eine Schulden- und Transferunion“. Damit werde ein zentrales Wahlkampf-Versprechen von Merkel Vorgänger Helmut Kohl gebrochen.

Am Ende von Merkels Kanzlerschaft bleiben deshalb viele Enttäuschungen: “Als Angela Merkel noch Oppositionsführerin war und recht weitreichende Reformforderungen erhob, wurde sie mit der ‘neoliberalen’ Reformerin Margaret Thatcher verglichen”, schreibt Historiker Dominik Geppert. “Nach 16 Jahren Kanzlerschaft Merkels ist jedoch klar, dass zwischen ihr und der 2013 verstorbenen ‘Eisernen Lady’ Welten liegen. Gerade der Kontrast zu Thatcher ist erhellend: Die legendäre britische Premierministerin inszenierte ihre politischen Projekte als Kreuzzüge, bei der deutschen Bundeskanzlerin waren es hingegen “Ermattungsschlachten: Es handelte sich nicht um ideologische Triumphe wie bei Thatcher”, meint Geppert: “Merkel überwältigte den politischen Gegner nicht, sie stahl seine Kleider.” Das wirft die entscheidende Frage auf, wie diese Frau an der Spitze Deutschlands eigentlich tickt, was ihre tatsächlichen politischen Überzeugungen sind und waren. Wenn Merkel morgen abtritt, wird sie noch immer mehr als die Hälfte ihres Lebens in der DDR verbracht haben. Diese Zeit hat sie stärker geprägt, als gemeinhin angenommen. Allerdings halten sie die meisten Beobachter nicht für eine überzeugte Sozialistin, sondern für eine „Politikerin ohne ordnungspolitischen Kompass, die sich je nach politischer Großwetterlage anpasst“. Auffallend ist: „Sowohl die erfolglose Energiewende, als auch das Fiasko bei der Impfstoffbeschaffung entsprangen planungswirtschaftlichem Denken“.

Vier unbestreitbare Erfolge hat Angela Merkel aus 16 Jahren Kanzlerschaft vorzuweisen: Sie gewann die Bundestagswahlen 2005, 2009, 2013 und 2017. Doch Merkels politischer Machterhalt darf kein Selbstzweck an sich bleiben. Wahlerfolge dürfen kein Maßstab für die Bilanz einer Politikerin sein – schon gar nicht, wenn es um ihre weltpolitische Einordnung geht. Im Gegensatz zu Merkel, trafen deren Vorgänger teils sehr unpopuläre, weitreichende Entscheidungen, die sie die Kanzlerschaft kosteten, aber für Deutschland erforderlich und entscheidend waren: “Helmut Schmidt riskierte und verlor wegen der von ihm als richtig erkannten NATO-Nachrüstung den Rückhalt in seiner Partei. Gerhard Schröder hat in verzweifelter Lage sozial- und wirtschaftspolitische Reformen gewagt und diesen seine Kanzlerschaft geopfert, aber die Grundlage für den wirtschaftlichen Wiederaufstieg Deutschlands gelegt.” Angela Merkels Entscheidungen kosteten sie nie die Kanzlerschaft, erwiesen sich im Nachhinein jedoch als contraproduktiv. Merkel konnte zwar alle Wahlen gewinnen und jeden parteiinternen Gegner ausschalten. Ob das ausreicht, ihr zu bescheinigen, wie das soeben Englands Premier Johnson tat, „eine Titanin“ gewesen zu sein, glaube ich nicht. Der Abstand einiger Jahre, das sogenannte Urteil der Geschichte, wird ihr ihren angemessenen Platz zuweisen. In meinen Augen überwiegen ihre Fehler. Die durch Merkels Fehlentscheidungen erzeugten Kosten werden mindestens eine Generation lang enorme Abzahlungen nach sich ziehen und deshalb den finanziellen Spielraum der nächsten 5-6 Regierungen negativ belasten.

Titelbild: Angela Merkel by Jan Maximilian Gerlach CC BY-SA 2.0 via FlickR

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