Von Peter Scherrer

NS-Geschichte in Nordwestmecklenburg*

Ein Kunstprojekt erinnert an die menschenverachtende Rassenideologie der Nationalsozialisten. Künstler:innen machen auf das Schicksal von Zwangsarbeiterinnen und ihren ermordeten Kindern aufmerksam.

Maurinmühle liegt nur wenige Kilometer von der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze entfernt, nicht weit vom Ratzeburger See. Ein Ort mit einer Vergangenheit, von der durch das Kunstprojekt „ORTSZEIT” jetzt ein trauriger Teil wieder in die Gegenwart gerückt wird. Es geht um das unbarmherzige Schicksal von Zwangsarbeiterinnen und ihren Kindern in Nazideutschland.

Von der Mühle zum Waisenhaus

Das kleine Flüsschen Maurine trieb hier seit dem Mittelalter eine Getreidemühle an. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts änderte sich die Nutzung der Mühle und des ehemaligen Wohnhauses der Müllerfamilie. Der Mühlenkomplex diente nun als Fremdenpension, Lungenheilanstalt und Erholungsheim. Schließlich wurde an diesem abgelegenen Ort ein Waisenhaus eingerichtet. Während des von Nazideutschland entfachten Krieges wurden ab 1943 hierher auch Säuglinge polnischer, ukrainischer und russischer Zwangsarbeiterinnen verschleppt. Es begann das tödlichste Kapitel des Ortes. Diese Babies wurden bewusst vernachlässigt und so “zu Tode gepflegt”.

Die DDR tilgte die Spuren des Waisenhauses. Anfang der sechziger Jahre ließ die Gemeinde das Gebäude verfallen. Seine Geschichte verschwand aus dem öffentlichen Bewusstsein. Jahrelang schwiegen Zeitzeugen und ihre Nachkommen über den erschütternden Säuglingsmord. Die Archive sind lückenhaft, die Geschichte von Maurinmühle schien vergessen.

Kunst für Wahrheitsfindung und Versöhnung

Das Kunstprojekt „ORTSZEIT” des Rostocker Frauenkultur-Vereins „Die Beginen” hat sich zwei Jahre lang intensiv mit diesem grausamen Kapitel der NS-Zeit auseinandergesetzt. Für das Projekt hat die University of the Arts Magdalena Abakanowicz in Poznań (Polen) die Schirmherrschaft übernommen. Das Konzept, die Kuration und die Projektleitung verantwortet die in Nordwestmecklenburg lebende Künstlerin Annette Czerny. Polnische und deutsche Künstler:innen beteiligen sich daran.

Grabe wo du stehst – es gibt noch viel zu entdecken und zu erforschen

Der Wismarer Historiker Lukas Augustat hat zu den Verbrechen an den Kindern der Zwangsarbeiterinnen in Maurinmühle geforscht. In Augustats Aufsatz (1) finden sich zahlreiche Quellennachweise wie Aktenvermerke von NS-Jugendämtern, Korrespondenzen verantwortlicher Dienststellenleiter und zuständiger Ministerien sowie Auszüge aus Interviews. Darunter erschütternde Dokumente. „Die Beschreibungen des körperlichen Zustandes decken sich mit den vielfach belegten ‘Greisengesichtern’ dort verhungernder Säuglinge”, so der Lukas Augustat. Der Historiker der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg hat mit vielen Quellen gearbeitet. Offen bleiben dennoch beispielsweise Fragen nach der Finanzierung des Heimes, nach weiteren Orten der Reproduktionskontrolle im Raum Schönberg, Fragen zum Leben und Sterben der Säuglinge auf den Höfen wie zur Rolle der Väter, meint der Historiker Augustat. Vorrangig sollte es nach seiner Auffassung aber „darum gehen, alle die Identitäten und Lebensgeschichten der Opfer zu ermitteln sowie alle Tatorte und Grabstätten ausfindig und sichtbar zu machen”.

Zeichen der Erinnerung

Auf dem Friedhof im nahegelegen Carlow gibt es einen Hinweis. „Der damalige Bürgermeister, Heinz Buchholz, sorgte durch die Aufstellung eines schlichten Grabsteines mit der Aufschrift „Hier ruhen neun Kinder der Volksrepublik Polen“ für eine erste Form des öffentlichen Gedenkens.”

Grabsteininschrift – zu sehen auf dem Friedhof Carlow (Alle Fotos: Peter Scherrer)

Kunst will vermitteln

Das Kunstprojekt zeigt Arbeiten von vierzehn Künstler:innen aus der Schweiz, Polen und Deutschland. Schon im vergangenen Jahr setzten sich die Organisator:innen unter dem Titel „ORTSZEIT III” mit dem Schicksal der Zwangsarbeiterinnen und ihrer Kinder auseinander. „ORTSZEIT IV“ knüpft daran an. Es gibt zwei Ausstellungsorte. In der St. Laurentius-Kirche Schönberg werden Fotografien, Malereien, Zeichnungen, Grafiken, Skulpturen, Objekte und Videoinstallationen präsentiert. Direkt vor Ort in Maurinmühle finden sich künstlerische Klang-, Boden- und Raum-Installationen.

Zeit für die Kunst vor Ort – Ortszeit IV

Kuratorin Annette Czerny beim Aufbau ihrer Installation „Die unbewohnbare Hoffnung“

Es geht der Künstlerin Annette Czerny darum zu zeigen, dass an diesem Ort Mütter ihre Kinder nicht schützen durften. Hier im Waisenhaus in Maurinmühle seien damals keine Lieder an der Wiege erklungen. Die Worte und die Klänge, die Annette Czerny in der Soundcollage für die Installation zusammengestellt hat, sind den toten Kindern gewidmet – und all jenen, denen Schutz und Fürsorge verwehrt bleibt. Welches Konzept die Kuratorin verfolgt und was sie selbst über ihre Sound-Installation sagt hören Sie hier.

Alle eingesungenen Lieder lassen sich über diesen link anhören:

https://soundcloud.com/annette-czerny/wahrheitsfindung-und-versohnung

Hier eine Auswahl von Kunstwerken die in den beiden Ausstellungen zu sehen sind. Beide Ausstellungen sind noch bis zum 10. September 2023 zu sehen.

Die Ausstellungen finden im Rahmen des 37. Schönberger Musiksommers statt. Ortszeit IV wird organisiert vom Rostocker Frauenkulturverein „Die Beginen“.

Fotogalerie

Alle Fotos: Peter Scherrer

Janet Zeugner
"Erinnerung", die Experimental-Fotografin Janet Zeugner hat mit ihren Fotografien Zeugen der Erinnerung im ehemaligen Waschhaus des Waisenheims geschaffen
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*Dieser Beitrag ist urprünglich bei „katapult-mv“ am 11. August 2023 erschienen. (1)Augustat, Lukas: Maurinmühle in Mecklenburg: NS-Kinderheim und ‚Ausländerkinder-Pflegestätte‘. Verbrechen, Spuren und Aufarbeitung, S. 11 (April 2023). 

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