Die russische TV-Journalistin Marina Ovsyannikova zeigte am 14. März 2022 während einer Live-Sendung ihres TV-Kanals ein selbst gefertigtes Schild mit der Aufschrift „Kein Krieg“. Sie erzeugte damit weltweit Aufmerksamkeit. Für diese Aktion, mit der sie nach ihren eigenen Erkläuterungen gegen den russischen Krieg gegen die Ukraine protestieren wollte, wurde sie vorübergehend verhaftet und zu einer Geldstrafe in Höhe von 30.000 Rubel ($ 280; siehe BBC News vom 15. März 2022) verurteilt. Am 11. April 2022 teilte der Axel Springer Verlag mit, dass Marina Ovsyannikova ab sofort als freie Journalisten für die zum Springer Verlag gehörende Zeitung „Die Welt“ aus Russland und der Ukraine berichtet. Ihr erster Artikel in der neuen Funktion erschien am 13. April 2022 unter dem Titel Die Russen haben Angst“ in „Die Welt“. Im folgenden kommentiert und kritisiert Nataliya Popovych die Zusammenarbeit des Axel Springer Verlags mit Marina Ovsyannikova. Nataliya Popocych ist Gründerin von one philosophy, WeAreUkraine.info und Mitgründerin des Ukraine Crisis Media Center (UCMC). (Update vom 15.04.2022)

 

Von Nataliya Popovych

„Ich entschuldige mich aufrichtig dafür, dass ich geschwiegen habe, als die russischen Medien die Ukrainer während der Revolution der Würde als Nazis bezeichneten, als Russland das ukrainische Hoheitsgebiet der Krim besetzte und 2014 einen Krieg im Süden und Osten der Ukraine begann. Ich bin entsetzt, dass weder ich noch meine Kolleginnen und Kollegen vom TV-Sender Pervyi etwas gesagt haben, als Russland ein BUK-Raketensystem einsetzte, um die unschuldigen Passagiere von MH17 über dem ukrainischen Territorium abzuschießen, und dann monatelang zahlreiche Verschwörungstheorien aufstellte, um den Ukrainern und anderen die Schuld zuzuschieben, bis Bellingcat schließlich bewies, dass es Russlands Absicht und sein kriminelles Werk war. Es tut mir leid, dass Russland seit 2014 15.000 ukrainische Soldaten und Zivilisten im Osten und Süden der Ukraine getötet hat. Es tut mir leid, dass seit 2014 1,5 Millionen ukrainische Bürgerinnen und Bürger, die in den Regionen Donezk und Luhansk lebten, zu Binnenflüchtlingen in der Ukraine werden mussten. Jetzt verstehe ich die Lügen, mit denen der TV-Sender Pervyi die russische Bevölkerung überschüttet hat, denn diese Ukrainerinnen und Ukrainer hätten sich wahrscheinlich dafür entschieden, nach Russland zu ziehen, wenn wir so großartig wären, aber sie haben sich dafür entschieden, weiterhin in der Ukraine unter den freien und demokratischen Ukrainern zu leben. Es tut mir leid, dass ich stillschweigend mit angesehen habe, wie Russland Georgien angegriffen hat, wie die russische Regierung in das Hoheitsgebiet Großbritanniens eingedrungen ist, um die Skripals (und die Umgebung, in der diese Familie lebte) zu vergiften, und wie sie den zuvor getöteten Litwinenko mit Polonium vergiftet hat, das auf einem kommerziellen Flug der British Airways transportiert wurde, wodurch das Leben der internationalen Besatzung und das der Passagiere gefährdet wurde. Ich bin der Meinung, dass die russische Regierung, die Akademiker, die Geschäftsleute und das einfache russische Volk für die Verbrechen und das Leid, das wir begangen haben, zur Rechenschaft gezogen werden sollten. Für die Morde an Journalisten wie Anna Politkowskaja, die wir nicht untersucht haben, und die Ermordung von Boris Nemzow, die wir übersehen haben. Nachdem Russland die Reparationszahlungen an die Ukraine und andere geleistet hat, hoffe ich, dass wir als Russen wieder in die zivilisierte Familie der Nationen aufgenommen werden können. Mit freundlichen Grüßen, Marina Ovsyannikova.“

@Axel Springer Verlag, habt ihr eine Erklärung dieser Art von Frau Ovsyannikova? Wenn ja, wäre es sehr spannend, sie sowohl für die Ukrainer als auch für den Kreml zugänglich zu machen. Aber wenn nicht, kann jeder denkende Mensch beim Lesen ihrer Pressemeldung [PM des Axel Springer Verlags vom 11.04.2022; Anm.d.R.] über die Einstellung von Marina Ovsyannikova zu einer Zeit, in der Ukrainer zu Zehntausenden gefoltert und getötet werden, nicht anders, als eine ganze Reihe von Gefühlen zu empfinden: von „ernsthaft?“ bis „wtf“.

Ich beschäftige mich seit 8 Jahren mit russischer Propaganda und hybriden Operationen des Staates und es scheint, als hätte das Management des renommierten deutschen Medienhauses mit dem Beginn des heißen Krieges in der Ukraine plötzlich vergessen, dass der hybride Krieg weitergeht. Owsjannikowa ist ein Instrument dieser russischen hybriden Kriegsführung. Die Tatsache, dass sie nun als freie Korrespondentin über die Ereignisse in Russland und der Ukraine berichten soll, zeigt, dass Axel Springer entweder auf ähnliche Weise bestochen wurde wie Herr Schröder und so viele andere in Deutschland seit Jahren, oder dass das Management des Medienhauses eine falsche Entscheidung zur falschen Zeit getroffen hat.

Die zweite Variante wäre ebenfalls eine schwer verständliche Fehlentscheidung, denn schließlich haben sämtliche Medien die Aufgabe, die Öffentlichkeit aufzuklären und das kritische Denken in der Gesellschaft zu schärfen. Aber an diesem kritischen Denken mangelt es nicht nur bei der Entscheidungsfindung, auch in der Ankündigung der Ernennung von Frau Ovsyannikova kann man irreführende Informationen lesen. Der PR-Manager des Verlags schreibt: „In einer Live-Sendung des teilweise staatlich kontrollierten TV-Senders Perwy hatte sie ein Plakat in die Kamera gehalten, auf dem sie den Krieg und die Propaganda anprangerte.“ Ich frage mich, was die Formulierung „teilweise staatlich kontrollierter Kanal“ für Frau Judith Roth, PR-Managerin des Axel Springer Verlags, bedeutet? Frau Roth, laut öffentlich zugänglichen Quellen gehört Russlands Erster Kanal den folgenden Unternehmen – VTB (bekannt als KGB-Bank), dem russischen Staat, der National Media Group (bekannt als staatliche Mediengruppe) und SOGAZ (das Wort GAS in diesem Unternehmen verrät, wessen Interessen es vertritt) – wie kommen Sie also darauf, dass Pervyi „teilweise staatlich kontrolliert“ ist? Wenn sie sich die Bilanzen des Pervy-Kanals ansehen, werden sie feststellen, dass er in all den letzten Jahren Verluste gemacht hat, die immer von der russischen Regierung, dem Kulturministerium und so weiter gedeckt wurden. Was seine Inhalte und Erzählungen angeht, so wird er vollständig vom Staat kontrolliert. Das wüssten sie, wenn sie diesen Sender über Jahre hinweg beobachtet und sich gefragt hätten, wie viele Nachrichten über das Leid von Ukrainern, Georgiern, Tschetschenen, Syrern usw. in die Berichterstattung dieses Senders entgangen sind und wie viele von diesen Nachrichten nicht das Herz von Frau Ovsyannikova berührt haben, die seit Jahren dort angestellt ist.

Im Rahmen der Arbeit der Hybrid Warfare Analytical Group/UCMC habe ich zusammen mit meinen Kolleginnen und Kollegen jahrelang die Berichterstattung des russischen Fernsehens und seine Bemühungen untersucht, die Ukrainer und alle anderen europäischen Bürger zu entmenschlichen (mit Ausnahme von Weißrussland, dem Muppet-Staat und der Schweiz, wo bis heute die meisten vermögenden Russen ihr Geld aufbewahren). Diese Lügen wurden täglich in Form stundenlanger Propaganda verbreitet und zielten auf die Herzen und Köpfe derjenigen, die russischsprachige Sendungen sehen. Die europäischen Werte wurden als dekadent bezeichnet, die Europäer als schwul, also als etwas, das korrigiert werden muss. Über Deutschland wurde hauptsächlich als Heimatland der Nazis berichtet. Geschichten wie die von Oskar Groening, der seine Verbrechen im Konzentrationslager Auschwitz zugegeben hat und dafür noch im Alter von 94 Jahren zu 4 Jahren Gefängnis verurteilt wurde, wurden auf dem Sender Pervyi prominent dargestellt. Groening hat zwei Jahre lang im Vernichtungslager gearbeitet – das hat zum Tod von Tausenden von Menschen geführt. Wie viele Jahre hat Frau Ovsyannikova in den russischen Medien gearbeitet und Lügen verbreitet, die dazu geführt haben, dass nun Tausende von Ukrainern brutal umgebracht, ihr Leben zerstört, Frauen vergewaltigt und Kinder getötet werden?

Ich frage mich einfach, ob einem Mitarbeiter von Herrn Goebbels – vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs und vor dem Nürnberger Prozess – eine Korrespondentenstelle bei der BBC oder dem Time Magazine angebotenen worden wäre? Auch aufgrund von „guter Führung“? Gleichzeitig hat das deutsche Medienhaus bisher nicht mitgeteilt, wie viele Stipendien es den ukrainischen und ausländischen Journalisten angeboten hat, die wegen der russischen Aggression gestorben sind – in der Vergangenheit und heute. Wie viele Stipendien das Verlagshaus bereit ist, den echten Journalisten im echten Krieg zu gewähren, die vor Ort die Nebelschleier der hybriden Operationen Russlands zu durchdringen versuchen, um zur Wahrheitsfindung beizutragen.

Der erste Artikel von Frau Ovsyannikova heißt „Russen haben Angst“. Sollten wir erwarten, dass der Schreibstil von Frau Ovsyannikova genauso vage ist wie das Plakat, das sie für ihren angeblichen Protest im Fernsehen verwendet hat? Stoppt den Krieg! Welchen Krieg? Krieg, der von wem begonnen wurde? Gegen wen? Sie lügen dich an. Wer lügt? Die Fernsehmoderatorin Genossin Andrejewa oder der Kreml? Oder sind alle Russen Lügner? Kannst du etwas genauer sein? Müssen wir damit rechnen, dass das Narrativ von „die Russen können einem leid tun“ und „es ist nur Putin und wir hatten keine Wahl“ ihr Schreiben und ihre Kommunikation mit der deutschen Öffentlichkeit durchdringt? Wenn ja, dann ist das eine Falle, die der Axel Springer Verlag der deutschsprachigen Öffentlichkeit in DIE WELT stellt.

Es reicht nicht aus, wenn die Russen sagen: „Stoppt den Krieg“. Es reicht nicht aus, wenn die Russen sagen: „Wir haben Angst“. Denn wir müssen uns daran erinnern, dass die Russen Stalin seit Jahren immer wieder zum beliebtesten Russen ernennen, während sie die Erinnerung an diejenigen vernachlässigen, die für ihre Menschenrechte und Freiheiten gekämpft haben, wie Andrej Sacharow, dessen Popularität in den letzten zehn Jahren in den Keller gesunken ist. Es gibt ein Sprichwort, das besagt: „Ein guter Russe ist ein toter Russe“, und wenn man bedenkt, wie viele gute Russen, wie beispielsweise Nemzow, Russland umgebracht hat, scheint sich dieses Sprichwort im 21. Jahrhundert mehr und mehr zu bewahrheiten. Die guten Russen sind wahrscheinlich längst tot. Diejenigen, die heute gut zu sein scheinen, müssen in einem Prozess von kritischem Denken und Kontrollen zuerst überprüft, zur Verantwortung gezogen und dann erst in die Gesellschaft zurückgelassen werden. Das ist ein Minimum, das wir Bucha, Kramatorsk, Mariupol, Tschernihiw, Charkiw, Borodyanka und vielen anderen ukrainischen Städten und Opfern schulden.

Ich werde ihnen sagen, wovor die Ukrainer Angst haben. Wir haben Angst davor, dass der Westen nicht versteht, dass die Russen Angst vor den falschen Dingen haben. Davor, dass sie von der Bildung ihrer Kinder ausgeschlossen werden. Davor, dass sie von guten Hotels ausgeschlossen werden. Davor, dass sie von ihrem Lebensstil ausgeschlossen werden, der von den Öldollars bezahlt wird. Davor, dass man sie so beschimpft, wie sie andere Europäer ohne triftigen Grund so hochmütig beschimpft haben. Die Russen haben Angst vor den Konsequenzen, sind aber nicht bereit, sich zu entschuldigen und für die Ursachen gerade zu stehen – nämlich ihre Verbrechen gegen die Menschenrechte. Und Verbrechen haben sie viele begangen. Die Ukrainer haben so viel Angst vor der Brutalität der Russen, dass sie die Telefonnummern von Verwandten auf den Rücken ihrer Kinder schreiben, für den Fall, dass die Eltern getötet werden!!!

Staaten bestehen aus Menschen, die die Zusammenhänge zwischen Ursache und Wirkung verstehen und anerkennen. Ein Verbrechen hat zur Folge, dass man zur Verantwortung gezogen wird. Danach bekommt man möglicherweise eine Bewährungschance und die Möglichkeit, wieder in der Gesellschaft zu leben. Das ist der Prozess, bei dem jeder Schritt wichtig ist, und dank des Axel Springer Verlags hat Frau Ovsyannikova bereits einige Schritte übersprungen. Diese Entscheidung sollte noch einmal überdacht werden. Frau Ovsyannikova wird in der Ukraine erst dann willkommen sein, wenn die Soldaten ihrer Nation unser Hoheitsgebiet verlassen und in Mariupol oder Bucha zur Rechenschaft gezogen werden.

Wie der estnische Ministerpräsident es so treffend formulierte: „Russlands Aggression gegen die Ukraine ist ein Angriff auf die Menschheit, und die Folgen werden global sein. Es braucht Mut, moralische Klarheit und Taten, um dagegen aufzustehen und den Angriff zu stoppen. Wir haben versprochen „nie wieder“. Wir müssen jetzt handeln, wenn wir wirklich wollen, dass dies das letzte Mal ist. Gleichgültigkeit ist die Mutter aller Verbrechen“. Gleichgültigkeit gegenüber dem, was die Ukrainerinnen und Ukrainer in Situationen wie dieser zu sagen haben, ist angesichts unserer Verletzbarkeit durch Russlands „Spezialoperationen“ sowohl gefährlich als auch unmoralisch.

Ich möchte nicht einmal die Fotos der russischen Propagandisten oder des Medienhauses posten, das es schafft, falsche Entscheidungen zu treffen. Wenn sie sich heute Fotos ansiehen, dann lass es die sein, die die Wahrheit von heute sagen.

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Titelbild / Foto: privat

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