Von Jürgen Klute

Das 1941 verfasste Manifest von Ventotene lässt sich als Zeichen der Hoffnung in einer der finstersten Epochen Europas im 20. Jahrhundert lesen. Es wurde eine der Grundmauern der heutigen Europäischen Union.

Heute befinden sich die  Mitgliedsländer der EU zwar nicht im Krieg wie 1941. Aber die EU steckt in einer tiefen Krise. Deshalb hat die „Spinelli-Gruppe“ im Europäischen Parlament, die mit Liberalen, Linken, Konservativen und Grünen bewusst breit aufgestellt ist, nun ein neues Manifest verfasst, dass an das Manifest von Ventotene anknüpft und es fortschreibt, wie der linke Europaabgeordnete Helmut Scholz, der Mitautor des Manifests ist, am 11. Oktober 2023 im Rahmen der feierlichen Übergabe des Dokuments an das Archiv des Europäischen Parlaments erklärte.

Was die Mitglieder der „Spinelli-Gruppe“ vereint, ist das Ziel, die notwendigen Debatten um den weiteren Entwicklungsweg der EU zu intensivieren und dabei Denkanstöße und konkrete Vorschläge für eine stärkere gemeinschaftliche Ausrichtung zu bieten. Neben Vertreter:innen der Gruppe nahm auch Parlamentspräsidentin Roberta Metsola an der Überreichung des Manifest teil, was Scholz als ein wichtiges Zeichen wertete.

Die Schrift nimmt Bezug auf das 1941 von Altiero Spinelli (Kommunist), Ernesto Rossi (Liberaler) und Eugenio Colorni (Sozialreformer) verfasste Manifest von Ventotene. Vor über 80 Jahren, als die Völker Europas in dem vom deutschen Hitlerfaschismus und seinen europäischen und japanischen Verbündeten entfachten Weltenbrand die bislang dunkelsten Stunden europäischer und globaler Geschichte durchstehen mussten, waren die drei Antifaschisten auf der Insel nördlich von Neapel gemeinsam eingekerkert. Welche politischen Schritte können ähnliche dunkle Kapitel für die Zukunft verhindern? Wie kann ein Zusammenleben jenseits von Nationalchauvinismus und Hass gedacht und in der Praxis organisiert werden? Auf diese Fragen suchen die drei Verfasser Antworten. Ihre Vision: Die Errichtung eines neuen Europas, das nationale Grenzen hinter sich lässt und ein tatsächlich solidarisches Miteinander begründet.

Foto: Marzia Bisognin ocasaggia CC BY-NC-ND 2.0 via FlickR

Alleine die Auseinandersetzungen um eine europäische Asyl- und Migrationspolitik, die grundlegenden Geboten des Humanismus und der Solidarität gerecht wird und im Einklang mit völkerrechtlichen Pflichten steht, zeigen: Eine Weiterentwicklung der europäischen Integration tut not, will die Union sich ernsthaft den drängenden Herausforderungen der Gegenwart stellen. Diese Verantwortung anzunehmen, hieße, gemeinschaftliche Interessen auszuloten und entsprechende Instrumente bereitzustellen, also EU-Politik so ausrichten, dass sich demokratische Mehrheiten in allen Mitgliedstaaten selbstbestimmt nationalistischem Egoismus und zersetzender Marktmacht entgegenstellen.

Aus diesem Grund hatten sich im August vergangenen Jahres Politiker:innen, Wissenschaftler:innen und Vertreter:innen der Zivilgesellschaft auf Ventotene versammelt. Auf der symbolträchtigen italienischen Insel, stellten sie eine modernisierte, ergänzende Fassung des Manifests vor. Denn Jahrzehnte nach dieser Urschrift und 65 Jahre nach Unterzeichnung der Römischen Verträge haben sich die Rahmenbedingungen tiefgreifend verändert und es gilt, Erfahrungen der bisherigen Integration, aber auch aus dem Kalten Krieg und der (vermeintlichen oder tatsächlichen) Überwindung der Blockkonfrontation aufzugreifen.

Foto: Marzia Bisognin ocasaggia CC BY-NC-ND 2.0 via FlickR

Die ursprünglichen Anstöße des Manifests aber bleiben noch immer aktuell, spannend und herausfordernd und erfordern weitergehende Antworten: Wie ermöglichen wir Frieden, Stabilität und Wohlergehen für alle Menschen auf unserem Kontinent, ein freundschaftlich verbundenes und, ja, solidarisches Miteinander der Menschen, während wir allseits greifbare Menschheitsaufgaben bewältigen und gleichzeitig in einem Binnenmarkt agieren, der von der Wirkungsmacht des heutigen Finanzkapitalismus geprägt ist? Die Verfasser:innen dieses neuen Manifests haben deshalb bewusst den Kampf gegen den erstarkenden Rechtsextremismus in Europa sowie die Forderung nach einem konsequenten Einsatz zur Bewältigung der Klimakrise als Überlebensfrage aufgenommen und eine stärkere Zusammenarbeit in den Bereichen Gesundheit, Bildung, Migration, Soziales und digitaler Wandel gefordert. Helmut Scholz betonte, dass es für ein sehr wichtiges Signal halte, dass das „Manifest für ein föderales Europa – souverän, sozial, ökologisch“ nun in einem solchen Rahmen übergeben wird.

Der Europaabgeordnete Guy Verhofstadt, Mitgründer der „Spinelli-Gruppe“ und ehemaliger belgischer Premierminister, merkte zur Übergabe des Dokumente mit einem leichten Schmunzeln an, dass ihn die Vorstellung, dass das Manifest nun an ein Archiv übergeben werde, etwas nachdenklich gemacht habe. Er hoffe, dass es dort nicht vergessen wird. Aber, so Verhofstadt weiter, wenn es dann in 60 oder 80 Jahren wiederentdeckt würde – ähnlich dem Manifest von Ventotene – und dann die Bürger:innen erneute inspiriere, sei das für ihn auch ein Erfolg.

Helmut Scholz, Foto: Jürgen Klute

Aber vielleicht erzielt das Manifest doch schon früher Wirkung. Ausgehend sowohl von dem Manifest und als auch von den Ergebnissen der Europäischen Zukunftskonferenz haben haben einige Europaabgeordnete im Ausschuss für konstitutionelle Fragen des Europäischen Parlaments (AFCO) Mitte September 2023 ein umfangreiches und ehrgeiziges Projekt zur Vertragsänderung der EU vorgestellt, der mit einem Antrag verbunden ist, in dem der Rat aufgefordert wird, die vorgelegten Reformvorschläge unverzüglich und ohne weitere Beratung dem Europäischen Rat vorzulegen, mit dem Ziel, einen Konvent nach dem ordentlichen Änderungsverfahren gemäß Art. 48 EUV zu ermöglichen. Der Antrag steht am 25. Oktober 2023 im AFCO zur Abstimmung und Anfang November im Plenum des Europäischen Parlaments. Die Berichterstatter rechnen damit, dass der Antrag angenommen wird. Erarbeitet wurde er von einem Ko-BerichterstatterInnenteam im AFCO, dem Guy Verhofstadt (Renew, BE), Sven Simon (EPP, DE), Gabriele Bischoff (S&D, DE), Daniel Freund (Greens/EFA, DE) und Helmut Scholz (The Left, DE) angehörten.

Ein solches Projekt wird ohne zweifellos Zeit erfordern, bis es zum Abschluss kommt, zumal die Vorschläge aus dem AFCO das heutige Machgefüge der EU-Institutionen weitreichend verändern soll. Aber der Handlungsdruck wird von Tag zu Tag größer, erst Recht, wenn in absehbarer Zeit die Ukraine als neues Mitglied in die EU aufgenommen werden soll.

Foto: Jürgen Klute

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Titelbild: Jürgen Klute

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