Von Frederik D. Tunnat

Wir stehen an einem Scheideweg. Die europäische Gemeinschaft, wie wir sie kennen, steckt tief in institutionell-morastiger Krise – verursacht durch die Geburtsfehler ihrer eigenen Verträge sowie das dadurch mögliche ewige Spiel undemokratischer Mitglieds-Staaten, die mit ihrem Veto Europa und seine Vervollkommnung als politisch-militärisch-wirtschaftliche Einheit blockieren. Polen und Ungarn, die Slowakei, aber ab und an auch Mitglieder wie Italien und weitere bedrohen die Werte, auf denen die EU gründet, und erpressen ihre demokratischen EU-Partner permanent.

Ich fordere ein Ende dieses untragbaren Zustands! Die EU darf nicht länger ein Ort sein, in dem Rechtsstaatlichkeit signifikant verletzt wird, ohne entsprechende Konsequenzen. Die Zeit der faulen Kompromisse ist vorbei. Die heutige EU ist nicht mehr handlungsfähig, sondern „bankrott“ – vergleichbar einer Firma, die ihr Management verloren hat.

Ich rufe sämtliche noch demokratischen Mitgliedsstaaten auf, die EU in ihrer jetzigen Form und Verfassung formal für bankrott zu erklären, sodann eine „EU der Willigen“ neu zu gründen. Eine neue europäische Gemeinschaft, aufgebaut auf klaren, strengen Verträgen:

  • Proportionale Stimmrechte, die Bevölkerungsgröße und Verantwortung jedes Mitgliedslands
  • Echte Gewaltenteilung zwischen Kommission, Parlament und Mitgliedsstaaten.
  • Klare, verbindliche Sanktionen bei Vertragsbrüchen – kein „weiter so“ für „Unrechtsstaaten“.
  • Verbindliche Austritts- und Kündigungsklauseln, die jedem Mitglied einen geordneten Ausstieg ermöglichen, der Gemeinschaft den Ausschluss nicht vertragskonformer Mitglieder.
  • Gemeinsame Außen-, Innen- und Verteidigungspolitik als eine starke, einige Stimme auf der Weltbühne.
  • Ein gemeinsames Finanzsystem, das Stabilität garantiert, Schuldenvergemeinschaftung eindämmt und Investitionen in eine nachhaltige Zukunft ermöglicht.

Nur so kann die EU ihre ursprüngliche Vision erfüllen: Frieden, Demokratie, Freiheit und Wohlstand für alle Bürger, europaweit. Ein Europa, das wieder handlungsfähig ist, global mitgestalten kann und seine inneren Zerwürfnisse endlich und für immer hinter sich lässt.

Ich appelliere an alle, die Europa lieben: Haben Sie den Mut zu radikalem Wandel! Stoppen Sie das gescheiterte Konstrukt. Lassen sie uns gemeinsam eine neue, stärkere EU aufbauen – für  kommende Generationen, für EU-weite Freiheit und Gerechtigkeit.

Jedem echten Neuanfang wohnt ein Zauber inne – packen wir es an!

Im realen, wirklichen Leben ist als Binsenweisheit bekannt, dass Komplikationen während einer Schwangerschaft ebenso wie während einer Geburt langfristige Auswirkungen, oft lebenslange, auf den davon betroffenen Menschen haben. Von einem Geburtsfehler par excellance müssen wir dieser Tage innerhalb der EU wieder einmal Kenntnis nehmen: zwei von 27 Mitgliedsländern, die zusammen knapp 10% der Bevölkerung repräsentieren, nämlich Polen und Ungarn, haben ihr Veto gegen den neuen Mehrjahreshaushalt der Union samt damit gekoppeltem Covid-19 Sonderhaushalt angekündigt.

Hintergrund ist der von der Mehrheit der EU-Staaten vereinbarte Rechtsstaatlichkeits-Passus, demzufolge die EU-Kommission die Möglichkeit erhalten soll, erstmals in der Geschichte der EU gegenüber Verletzungen der Rechtsstaatlichkeit – sprich dem, was die vertragliche wie rechtliche Grundlage der EU ausmacht – vorzugehen. Das müssen wir uns erst nochmals langsam auf der Zunge zergehen lassen: Staaten, Mitglieder der EU, die nachweislich gegen die legalen, demokratischen Fundamente, auf denen ihre demokratisch verfassten Mitgliedsstaaten aufgebaut sind, verstoßen, sollen nun erstmals für nachweislich vertrags- wie rechtswidriges Verhalten insofern bestraft werden können, als ihnen nach Prüfung und mit den Stimmen der Mehrheit Gelder aus dem EU-Haushalt verweigert werden können, bis die Vertragsverletzungen oder Rechtswidrigkeit abgestellt ist.

Natürlich möchte man sagen, sperren sich ausgerechnet und erwartungsgemäß die beiden oben genannten permanenten Rechts- und Vertragsverletzer der EU: Polen und Ungarn – obwohl angesichts der grassierenden Pandemie speziell die zusätzlichen Hilfsgelder des Pandemie-Fonds unabdingbar für mehrere stark betroffene Mitgliedsstaaten sind.

Damit sind wir zurück bei den Geburtsfehlern, die die Entstehung der EU prägen. Die Macher der Verträge haben gewaltig übertrieben, in dem sie sich statt von politischer Realität und historischer Erfahrung leiten ließen, auf ein christlich anmutendes Experiment einließen, um die moderne EU zu begründen. Neben der geradezu erpresserisch – als Zustimmung zur deutschen Wiedervereinigung – geforderten Aufgabe der DM zugunsten der mit mehr als „heißer Nadel“ gestrickten Gemeinschaftswährung EURO, die seit ihrer Einführung für regelmäßige ökonomisch-politische Erschütterungen unter sehr unterschiedlichen Mitgliedern führt – Stichwort Griechenland-Krise, Gemeinschaftsschulden etc. – ließen sich die Befürworter einer grenzenlosen EU-Erweiterung dazu verleiten, die simpelsten Prinzipien der Verhältnismäßigkeit außer Kraft zu setzen. Das Ergebnis: Jedes noch so kleine Mitgliedsland kann im Prinzip alle anderen mit seinem Veto blockieren.

Zudem wurde, um auch das kleinste Land mit einem Bruchteil der -EUBevölkerung im Verhältnis zu den großen Mitgliedsländern übertrieben gleichzustellen, die Stimm- und Pöstchenvergabe nicht proportional vereinbart, sondern kleinere Mitglieder überproportional bevorteilt.

Blauen Auges übersahen die Verfasser der EU-Verträge elementare Problemstellungen, wie sie unser Zusammenleben prägen. Statt vorab einen vernünftigen, strikt geregelten vertraglichen Ablauf für eine Scheidung, sprich das Verlassen der Union, zu formulieren, wurde rein gar nichts vereinbart. Die Trümmer dieser Fehlleistung, in Form des Brexit, erleben wir seit Jahren – ein warnendes Beispiel dafür, wie man es nicht machen sollte. Ebenso blauäugig gingen die Aufrichter der erweiterten, modernen EU mit Spielregelverstößen um: Null, Nichts, Nada, Niente. Regelverletzer, die gegen Buchstaben und Geist der EU verstoßen und sich diktatorischen Strukturen verschrieben haben, können nicht mal rausgeschmissen werden. Kein vor die Tür setzen.

Diese naiven Verträge sind die Ursache für die derzeitige Zerreißprobe.

So stehen wir erneut bei den Blockaden der semi-diktatorischen Regime in Polen und Ungarn, die besser in eine Konföderation undemokratischer Staaten passen als in die EU. Es zeichnet sich leider ab, dass wieder faule Kompromisse gefunden werden, mit denen Unrechtsstaaten weiterhin alimentiert werden, statt konsequent ausgeschlossen zu werden. Ohne EU-Unterstützung wären diese Regime längst politisch abgestraft.

Aus der Perspektive eines ehemaligen Managers stellt sich mir die Frage: Warum lässt sich die EU von zwei undemokratischen Regimen „verarschen“ und finanziert so deren Demokratieabbau?

Das könnte man einfach lösen – durch ein Insolvenzverfahren analog dem Insolvenzrecht von Unternehmen:

Die EU wird von der Mehrheit der demokratisch verfassten Mitgliedsstaaten für bankrott erklärt.

Aus den Trümmern der bankrotten EU gründen diese Staaten eine neue, wahrhaftige EU mit einer zeitgemäßen Verfassung. Darin findet sich eine echte Machtbalance zwischen Kommission, Mitgliedsstaaten, Parlament und Euro. Gemeinsame Politik, gemeinsame Währung, Gewaltenteilung, knallharte Spielregeln und Konventionalstrafen. Ein klar geregeltes Verfahren für Mitgliedschaftsaufnahme und Austritt. Die Repräsentation richtet sich endlich proportional nach Bevölkerungsgröße.

Dieses Vorgehen befreit die EU von ihren Geburtsfehlern, macht sie wieder attraktiv für ihre Bürger und entzieht Nationalisten den Boden. Eine kleinere, schlagkräftige EU könnte global gegenüber China, den USA, Russland und anderen aufstrebenden Mächten ernsthaft mitspielen. Die Gefahr weiterer illiberaler Tendenzen würde so dauerhaft gebannt. Gemeinsame Außen-, Innen-, Verteidigungs-, Wirtschafts- und Finanzpolitik beenden das ewige Gerangel um Schuldenverallgemeinerung und fördern Stabilität.

Ich appelliere an unsere politischen Führer, wie Präsident Macron und die nächste Bundeskanzlerin, diese historische Chance zu erkennen und mit Herz und Verstand Nägel mit Köpfen zu machen.

Europa muss den Mut zu einem radikalen Neubeginn zeigen, anstatt weitere faule Kompromisse einzugehen. Erinnern wir uns an Hermann Hesse: Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns hilft zu leben.

In Ergänzung zum früheren Text hier die heutige Agenda:

Wirtschaftliche Neuausrichtung der EU als Grundpfeiler

Die neu begründete EU braucht eine verbindliche gemeinsame Finanz- und Wirtschaftspolitik. Ein stabilitätsorientierter Haushalt mit Ausgleichsmechanismen für wirtschaftliche Gegensätze innerhalb der Union wird geschaffen. Die Eurozone bekommt ein eigenständiges Finanzministerium mit exekutiven Befugnissen, das die Geldpolitik der EZB ergänzt und sich auf nachhaltiges Wachstum und Beschäftigung fokussiert.

Unkontrollierte Schuldenvergemeinschaftung gehört der Vergangenheit an. Klare Schulden- und Kreditobergrenzen werden verbindlich durchgesetzt, sodass der Fiskalpakt keine hohle Phrase bleibt. Ein EU-Finanzstabilisierungsfonds dient nur in Ausnahmefällen unter strengen Rechtsstaatskriterien als Schutzschirm.

Investitionen konzentrieren sich auf ökologische Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Innovation und Infrastruktur. Zukunftspläne sichern den Zusammenhalt und stärken die Wettbewerbsfähigkeit, ohne neue Abhängigkeitsverhältnisse zu schaffen.

Sicherheits- und Verteidigungspolitik als strategisches EU Fundament

Die neue EU etabliert eine koordinierte Sicherheitsarchitektur mit abgestimmtem Verteidigungsbudget und gemeinsamen Streitkräften – inklusive eines Zentrums für Cyber- und Hybridabwehr. Nur so wird die EU autonomer gegenüber Großmächten und schützt die gemeinsame Demokratie.

Außenpolitische Entscheidungen werden künftig mehrheitlich getroffen, um ein geschlossenes Auftreten gegenüber globalen Akteuren wie China, Russland und den USA zu gewährleisten. Wirtschaftliche und diplomatische Sanktionen sind feste, durchgesetzte Instrumente der Werteverteidigung.

Illiberale Staaten, welche die europäischen Werte sabotieren, werden isoliert und aus wichtigen sicherheitsrelevanten Netzwerken ausgeschlossen – eindeutige Verbote und konsequente Maßnahmen sollten bald Gesetz werden.

Fahrplan zur Umsetzung der Neugründung der EU

  1. Politisierung und Mehrheitsbildung: Die demokratischen Staats- und Regierungschefs erklären die aktuelle EU für bankrott und initiieren eine „EU der Willigen“. Polen, Ungarn und andere Vertragsverletzer werden von der Neugründung ausgeschlossen.
  2. Außerordentliche Versammlung: Delegierte der demokratisch legitimierten Mitgliedstaaten treffen sich zu einer verfassunggebenden Versammlung.
  3. Juristische Ausarbeitung: Internationale Juristenteams entwickeln eine neue Verfassung mit echter Gewaltenteilung, stabilen Machtverhältnissen, Proportionalität, Austrittsklauseln, Kündigung dr Mitgliedschaft und schmerzhafte Sanktionen.
  4. Legitimierung: Nationale Parlamente und Bürger beteiligen sich an der Ratifizierung der neuen EU-Grundlagenverträge – Transparenz und Bürgernähe sind hierbei Pflicht.
  5. Integration der Wirtschaftspolitik: Einrichtung des neuen EU-Finanzministeriums, Festlegung der Haushalts- und Stabilitätsregeln, Etablierung von Investitionsprogrammen.
  6. Aufbau der Sicherheitsarchitektur: Gemeinsame Streitkräfte, Cyberabwehrzentrum und koordinierte Außenpolitik werden eingeführt und operativ umgesetzt.
  7. Anpassung bestehender Institutionen: Die Europäische Kommission, das Parlament und der Rat passen ihre Aufgaben an die neue Ordnung und Verfassung bzw. EU-Verträge an und überwachen die Einhaltung der neuen Regeln.
  8. Öffentliche Kommunikation: Kontinuierliche Information und Einbindung der Bürger vor Auflösung, während Vertragsneugestaltung und Einführung bzw. Neugründung sichern Akzeptanz und politische Stabilität.

Jetzt, liebe EU Politiker in Kommission, Rat und Parlament, ist die Stunde, mit klarem Kopf und mutigem Herzen Europa neu und stark zu formen! Kein weiteres Vertagen, kein „Weiter so“ – der Zauber eines echten Neuanfangs wartet auf eine aus vergangenen Fehlern klug gewordene EU.

(*) Vor fünf Jahren schrieb ich folgenden Artikel in Sachen Neuanfang der EU unter der Überschrift: EU-Neuanfang statt ewiger Erpressung und fauler Kompromisse

Titelbild:  Yukiko Matsuoka CC BY 2.0 DEED via FlickR

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