Beitrag von Jürgen Klute

Seit wenigen Tagen präsentiert sich das European Balcony Project auf einer eigenen Website. Das Kernelement des Projekts kann dort von Besucher*innen bereits eingesehen werden, nämlich das von Ulrike Guérot, Robert Menasse, Milo Rau und dem Projektteam vom European Democracy Lab verfasste Manifest, das am 10. November um 16 Uhr zeitgleich von den teilnehmenden Partnern überall in Europa verlesen werden soll. In zwölf Sprachen steht das Manifest bereits zur Verfügung, unter anderem auch in Türkisch.

Nicht zufällig wurde der 10. November 2018 für diese künstlerisch-wissenschaftliche Intervention ausgewählt: Es ist der Vorabend des Tages, an dem vor genau 100 Jahren der 1. Weltkrieg offizielle endete. Auf den Schlachtfeldern des ersten wie des zweiten Weltkriegs sowie im Holocaust wurde die Idee des Nationalismus und des Nationalstaates durch ihre Protagonisten selbst unwiederbringlich delegitimiert. Aus diesen blutigen historischen Erfahrungen zieht das Manifest folgerichtig die Konsequenz, dass es nun – mehr als 60 Jahre nach Abschluss der Römischen Verträge – endlich an der Zeit ist, die nötigen weiteren Schritte zu tun, um das Konzept der Nationalstaaten endgültig und unwiderruflich Geschichte werden zu lassen.

Das Manifest ist allerdings alles andere als ein unkritisches Jubelpamphlet für die gegenwärtige EU. Es geht hart ins Gericht mit der bestehenden Europäischen Union und verweist schonungslos auf deren Fehlentwicklungen: „Der Binnenmarkt und der Euro konnten ohne politisches Dach zur leichten Beute einer neoliberalen Agenda werden, die der Idee der sozialen Gerechtigkeit widerspricht.“, heißt es in dem Text. Die Verantwortung verortet das Manifest zurecht bei den Mitgliedsstaaten der EU. „Daher“, so heißt es weiter, „muss die Macht in den europäischen Institutionen erobert werden, um den gemeinsamen Markt und die gemeinsame Währung in einer gemeinsamen europäischen Demokratie zu gestalten.“

Es ist konsequent und richtig, das es wenige Zeilen weiter heißt: „Der europäische Rat ist abgesetzt“. Denn es ist genau diese EU-Institution, die den Nährboden für die gegenwärtigen inneren Zersetzungsprozesse der Europäischen Union bildet. Die heutige Souveränität der Nationalstaaten soll in einer Europäischen Republik an die Bürgerinnen und Bürger übertragen werden, um den inneren, die weitere Entwicklung der EU blockierenden Widerspruch, der durch den EU-Rat erzeugt wird, zu überwinden.

Das Manifest knüpft nicht nur an die innereuropäischen Kriegserfahrungen an, sondern auch an die kaum weniger blutige und gewalttätige europäische Kolonialgeschichte und bekennt sich ausdrücklich zu dem damit verbundenen Unrecht: „Wir sind uns bewusst, dass der Reichtum Europas auf Jahrhunderten der Ausbeutung anderer Kontinente und der Unterdrückung anderer Kulturen beruht. Wir teilen deshalb unseren Boden mit jenen, die wir von ihrem vertrieben haben. Europäer ist, wer es sein will. Die Europäische Republik ist der erste Schritt auf dem Weg zur globalen Demokratie.“ Als Konsequenz aus dem Unrecht des Kolonialismus erklärt das Manifest alle Menschen, die in Europa leben, zu Bürgern und Bürgerinnen der Europäischen Republik und erklärt Europa zu einem offenen Kontinent. „Wir nehmen unsere Verantwortung für das universale Erbe der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte an“, unterstreicht der Text, „und geloben, sie endlich auf diesem Kontinent zu verwirklichen.“

Das sind dankenswert klare und mutige Worte. Sicher ist eine solche Europäische Republik nicht von heute auf morgen aus der Taufe zu heben. Eine reale Alternative zu einer Europäischen Republik gibt es jedoch nicht – es sei denn erneut Krieg, Leid, Zerstörung und die Marginalisierung Europas. Deshalb muss die Europäische Idee verteidigt werden. Verteidigt werden kann die Europäische Idee aber nur, wenn die Europäische Union von Bürgerinnen und Bürgern weiterentwickelt wird.

Der Wert dieses messerscharf formulierten Manifests liegt vor allem darin, der weiteren Entwicklung der Europäischen Idee eine klare Richtung zu geben, für die es lohnt sich zu engagieren. Der Text hat genau deshalb eine große Verbreitung verdient. Vor allem sollte er in Schulen, Hochschulen und Volkshochschulen gelesen und diskutiert werden. Nicht zuletzt auch im Blick auf die Europawahlen im Mai 2019.

Die ersten 50 Bürgerinnen und Bürger, die ihre bisherige Staatsangehörigkeit gegen eine Mitgliedschaft in der neuen Europäischen Republik austauschen wollen, sind auf der neuen Webseite bereits aufgelistet. Diese symbolische Mitgliedschaft konnte erlangen, wer sich mit einem bestimmten Betrag an der Crowdfunding-Action zur Finanzierung des European Balcony Projects im Frühjahr dieses Jahres beteiligte.

Über das Manifest hinaus bietet die neue Webseite einen Überblick über die Partner und Orte, die sich an der symbolischen Verkündung der Europäischen Republik am 10. November 2018 um 16 Uhr beteiligen. Mittlerweile sind auch Akteure aus Tschechien, Slowenien, Ungarn und Rumänien dabei. Eine komplette tabellarische Übersicht über die bisherigen Akteure und Orte findet sich hier.

Bleibt die Frage, wie eine Europäische Republik ohne Nationalstaaten konkret aussehen könnte. Wer detailliertere Antworten auf diese Frage sucht, wird auf der Webseite The European Republic fündig. Dort hat das European Democracy Lab einen Vorschlag für den strukturellen Aufbau einer Europäischen Republik zur Diskussion gestellt.

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