Peter Scherrer ist freier Journalist und hat Im Mai 2022 Litauen besucht und dort und dort mit verschiedenen Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Gewerkschaften, Wirtschaft und Politik über die aktuelle soziale und wirtschaftliche Lage in Litauen gesprochen und über die Auswirkungen des Krieges Russlands gegen die Ukraine auf Litauen. Scherrer hat die Gespräche in einem längeren Artikel zusammengefasst. Aufgrund der Länge veröffentlicht Europablog den Beitrag in zwei Teilen. Dieser zweite Teil gibt einen Einblick in die gewerkschaftliche Arbeit in zwei litauischen Betrieben: Das Chemiewerk AB Achema in Jonava und in die Chemiefabrik AB Lifosa in Kėdainiai. Der erste Teil gibt die Gespräche mit Vertretern und Vertreterinnen aus Wissenschaft, Politik, Wirtschaft und Gewerkschaften wieder (für Teil 1 bitte hier klicken).

 

Von Peter Scherrer

Der Tarifkampf bei AB Achema in Jonava

Knapp 90 km von der litauischen Hauptstadt Vilnius entfernt liegt die Rajongemeinde Jonava[1]. In der 26.000 Einwohner zählenden Stadt ist das Chemiewerk AB Achema mit seinen 1.300 Beschäftigten der größte privatwirtschaftliche Arbeitgeber. Das aus einem 1962 gegründeten Düngemittelwerk hervorgegangene Chemieunternehmen produziert auch heute noch Düngemittel, hat die Produktpalette aber auf 40 chemische Produkte erweitern können[2]. Rechnet man weitere Unternehmensteile, der “Achemos Grupe” hinzu, so finden im Chemiewerk in Jonava rund 2.500 Menschen ihre Arbeit. In Litauen beschäftigt der Konzern rund 4.500 Mitarbeiter:innen.

Auf der Fahrt von Jonava zur Nato-Kaserne in Rukla hat man einen guten Blick auf das Chemiewerk “AB Achema”. (Foto: Peter Scherrer)

Die Gewerkschaft Achemos DPS

In der Innenstadt von Jonava, einige Kilometer von ihrer Arbeitsstätte entfernt, ist  das neue Büro von Birutė Daškevičienė. Sie ist Vorsitzende der Gewerkschaft “Achemos DPS” und in ihrem neuen Büro noch von Umzugskartons umgeben. Die Geschäftsführung hat sie nach den Konflikten um den Haustarifvertrag “ausgelagert”. Für ihre Büroräume auf dem Werksgelände sei anderweitig Bedarf angemeldet worden, hatte ihr das Management kurzfristig mitgeteilt. Sie vertritt mit ihrer 600 Mitglieder zählenden Arbeitnehmervertretung fast die Hälfte der Belegschaft und kämpft seit 2019 um den Abschluss eines verbindlichen Tarifabkommens für ihre Mitglieder[2]. Eine Tarifvereinbarung hat die Leitung des Unternehmens aber bislang verweigert.

Was will die Gewerkschaft?

Gefordert hatten die Gewerkschaft die Anhebung der Löhne und Gehälter oberhalb eines Inflationsausgleichs und einen jährlichen Bonus von mindestens einem Monatsgehalt. Das Durchschnittseinkommen der Beschäftigten bei AB Achema liegt mit 1820 Euro (2021) zwar über dem Durchschnittseinkommen anderer  Arbeitnehmer:innen in der litauischen Privatwirtschaft, aber deutlich unter dem von vergleichbaren Chemieunternehmen. Möglich werde ein solches Durchschnittseinkommen auch nur mit zahlreichen Überstunden, erläutert Daškevičienė. Damit die Entgelte der Beschäftigten transparent berechnet werden können, forderte die Arbeitnehmervertretung, dass das Entlohnungssystem Teil des Tarifvertrages wird. Bilang entschied allein das Management über die Berechnung der Löhne und Gehälter. Auch dass die Arbeitnehmervertretung bei der Vereinbarung von Überstunden mitbestimmen kann, war Teil des Forderungskatalogs. In Litauen ist die Anzahl der Überstunden auf jährlich 180 Stunden gesetzlich begrenzt. Darüber hinausgehende Mehrarbeit bedarf der Genehmigung. Da Überstunden wegen ihrer Zuschlagszahlungen beliebt sind, forderte die Gewerkschaft eine Legalisierung der Mehrarbeit. Ebenfalls wollte die Gewerkschaft bei der Einteilung der Schichtarbeit die Beteiligung ihres Komitees im Tarifvertrag festschreiben.

Streik und die Folgen

Auf die wiederholt vorgetragenen Forderungen reagierte die Geschäftsführung nicht, obwohl die Finanzlage des Unternehmens das ohne Probleme zugelassen hätte. “AB Achemos” arbeitete profitabel. In 2020 wurden 69 Millionen Euro, und im Jahr darauf 58 Millionen Euro Gewinn erzielt. Eine Lohnerhöhung gab es jedoch

nicht.  “Das Management hat im Januar das Entlohnungssystem umgestellt. Wir bekamen fünf Prozent weniger Einkommen, und von einem Bonus war nicht die Rede”, empört sich die energische Gewerkschafterin Daškevičienė. Das Gewerkschaftskomitee organisierte eine Urabstimmung. Von den 600 Mitgliedern votierten 425 für einen Streik. Am 8. Februar traten sie in den Ausstand. Noch am Abend vorher versuchte die Werksleitung durch ein Angebot von bis zu 6,5 Prozent Lohnerhöhung den Streik abzuwenden. “Noch in der Nacht drohte das Management per Email mit einem “Befehl” an die Arbeiter der Nachtschicht, sich nicht am Streik zu beteiligen, denn der Streik sei illegal” schildert die Gewerkschaftsvorsitzende die unverhohlenen Drohungen der Werksleitung. Dennoch traten 260 Werksangehörige in den Ausstand, zahlreiche Krankmeldungen kamen hinzu. Aber die Drohungen der Chefetage wiederholten sich, und sie zeigten Wirkung. Entlassungen und eine mögliche Aussperrung wurden angekündigt. Gleichzeitig wurden Streikbrecher aus dem zum Konzern gehörenden Werk in Klaipeda nach Jonava gebracht. Mitarbeiter:innen, die sich nicht am Streik beteiligten, wurde der Lohn verdoppelt bis verdreifacht. Die streikenden Gewerkschaftsmitglieder erhielten für ihren Gewerkschaftsbeitrag[4] das Streikgeld aus dem Fond der Achemos DPS. Kurz vorm 24. Februar, dem Beginn des Angriffskrieges Russlands auf die Ukraine, waren nur noch 12 Gewerkschafter:innen im Streik. Aufgrund der Kriegssituation erklärte die litauische Regierung den Ausnahmezustand. Nach litauischem Recht musste der Streik umgehend abgebrochen werden.

Gewerkschaftsvorsitzende Birutė Daškevičienė in ihrem Büro in Jonava (Foto: Peter Scherrer)

Das Unternehmen stoppte nach dem vorläufigen Streikende umgehend die Extrazahlungen für nicht-streikende Beschäftigte. Immerhin erhielten alle Mitarbeiter:innen eine Lohnerhöhung von 5 Prozent. Ein Einmalbonus wurde gezahlt. Auch ein Urlaubsgeld von bis zu einem Monatslohn sowie eine weitere Lohnerhöhung von 6,5 Prozent wurden von der Geschäftsführung versprochen unter der Bedingung, dass die Gewerkschaft den Streik, der gegenwärtig nur ausgesetzt ist, für endgültig beendet erklärt.

Das Management übt unterdessen weiter Druck auf die Gewerkschaft aus. “Im Moment lässt die Werksleitung durch die Staatsanwaltschaft prüfen, ob unser Streik legal war. Es sind zahlreiche Schreiben der Rechtsvertretungen der Geschäftsleitung bei uns eingegangen, die uns unter anderem Falschinformationen vorwerfen”, beschreibt Daškevičienė die Situation. Die Achemos DPS- Mitglieder wollen weiterhin  den Abschluss eines verbindlichen Tarifvertrags erreichen. Das ist nun abhängig von den politischen Entscheidungen der Regierung. “ Ende Juni soll der Ausnahmezustand aufgehoben werden, kündigt die Regierung an. Bis dahin wird unser Vorstand die Zeit nutzen, um zu beraten, wie wir unseren verbindlichen Tarifvertrag bekommen”, gibt sich die kämpferische Gewerkschafterin Daškevičienė zuversichtlich.

Die Chemiefabrik AB Lifosa in Kėdainiai

Ziemlich genau in der Mitte Litauens, am Flüsschen Nevėžis liegt die 22000 Einwohner zählende Kreisstadt Kėdainiai. Schon vor 70 Jahren planten die politischen Verantwortlichen, hier eine Phosphor-Fabrik für die Düngemittelproduktion aufzubauen. Die Geschichte des Betriebes ist wechselvoll. Die über 1000 Mitarbeiter:innen durchlebten Umstrukturierungen, Privatisierung und Eigentümerwechsel. Seit 2014 ist AB Lifosa Teil der EuroChem Group, einem weltweit führenden Düngemittelunternehmen, seit 2015 mit Sitz in Zug, in der Schweiz.  Der Konzern EuroChem wurde vom russischen Oligarchen Andrey Melnichenko gegründet. Die Sanktionen gegen Russland betrafen auch Melnichenko. Deshalb trennte er  sich im März 2022 von seinem Aktienpaket [5]. Weltweit setzt die EuroChem Gruppe sechs Milliarden Dollar um und beschäftigt 27.000 Mitarbeiter:innen[6]

Vitalijus Varnas ist im Chemiebetrieb AB Lifosa der Vorsitzende einer unabhängigen Gewerkschaft, die zum Dachverband Solidarumas gehört. Neben dem Düngemittelhersteller gibt es in Kėdainiai noch ein größeres Unternehmen, den Lebensmittelhersteller Vikonda, der etwa 650 Menschen beschäftigt. Der Arbeitnehmervertreter Varnas erinnert sich noch genau an den 9. März, als die Russland-Sanktionen auch gegen seinen Arbeitgeber wirksam wurden. Die Produktion musste technisch bedingt sukzessive heruntergefahren werden. Die Konten des Unternehmens wurden quasi schock-gefroren und die Zugänge von einem auf den nächsten Tag komplett blockiert. Die Konten aller Mitarbeiter:innen wurden auf mögliche Verbindungen zu dem Firmeneigentümer Andrey Melnichenko und seiner Verwandtschaft überprüft. Die in Litauen bedeutende Swedbank AB brauchte dafür eine ganze Woche. Natürlich haben sich Varnas und seine Kolleg:innen beschwert. Erfolglos protestierten die Gewerkschaften bei den verantwortlichen Aussen- und Finanzministern. “Wir mussten bis zum Premierminister und Staatspräsidenten gehen, um unsere Löhne ausgezahlt zu bekommen”, beschreibt der Gewerkschafter die Aktionen.

Eng mit Kėdainiai und dem Chemiebetrieb AB Lifosa verbunden,Gewerkschafter Vitalijus Varnas
(Foto: Peter Scherrer)

Das Unternehmen verfügt über ausreichend Finanzmittel. Der monatliche Durchschnittslohn von 2.700 Euro liegt deutlich über dem Durchschnitt Litauens. AB Lifosa beschäftigt ebenso wie die beiden anderen bedeutenden Chemieunternehmen, AB Achema und die Mažeikiai Ölraffinerie hoch qualifizierte Spezialisten der Branche, die entsprechende Einkommen erzielen. Die Beziehungen zwischen den im Betrieb vertretenen Gewerkschaften und dem Management bezeichnet Varnas als konstruktiv. Davon zeuge auch die mit zwei Prozent sehr niedrige Fluktuationsquote. Als positiv verzeichnet er, dass es seit Jahren einen Tarifvertrag gäbe, an den sich die Geschäftsleitung auch hielte. Klar sei es, dass es auch zu Meinungsunterschieden komme, wie beispielsweise bei der Forderung nach einem höheren Festgeldanteil bei Löhnen und Gehältern. Bislang gelte die 50/50 Regelung, so Varnas. Sie sehe vor, dass die eine Hälfte des Lohnes festgelegt ist und die andere sich aus flexiblen Bestandteilen errechne. “Gerade jetzt brauchen wir mehr Sicherheit, was die Einkommen angeht”, begründet Varnas die Forderung der Arbeitnehmer:innen. Dass die Firmenleitung die Beschäftigten halten wolle, hätte sie nach Varnas’ Auffassung auch überzeugend zugesagt. Bislang sei niemand entlassen worden.

Die Russland-Sanktionen hatten zur Folge, dass seit dem 1. April über 400 der Beschäftigten in den Urlaub geschickt wurden. Etwa 200 erhalten in der Ausfallzeit den Mindestlohn von 730 Euro. Die anderen Mitarbeiter:innen überwachen die Anlagen, erledigen administrative Arbeiten oder reparieren, was schon immer mal repariert werden musste. Produziert wird gegenwärtig noch nicht. Durch den Rückzug des russischen Oligarchen Melnichenko wäre nun der Weg frei für die Wiederaufnahme der Produktion im Juni.

Varnas hält die Voraussetzungen einerseits für gut, denn die Lager seien voll. Aber mit Blick auf die Rohstoffpreise werde die wirtschaftliche Zukunft nicht einfach zu meistern sein, befürchtet Varnas. Die letzten Monate hätten zu spürbarer Verunsicherung in der Belegschaft geführt. Viele Kolleg:innen wünschten sich die Abschaffung der Sanktionen, auch wenn die Meinungen zum Angriffskrieg Russland sehr eindeutig ausfielen. Dabei ist Varnas die europäische Kooperation mit Gewerkschaftern aus dem Eurochem Werk Antwerpen wichtig. Und auch was die gegenwärtige Aggression Russlands gegen die Ukraine angeht, fühlt sich Varnas international durch die Präsenz der Nato-Verbündeten unterstützt. “Wir empfinden es als große Rückenstärkung, dass auch deutsches Militär zu unserem Schutz in Litauen ist. Das gibt uns emotionale Stabilität”, unterstreicht der Kommunalpolitiker Varnas. Bei der kommenden Wahl zum Stadtrat will er für die sozialdemokratische Partei kandidieren und sich in seiner Heimatgemeinde besonders für die Belange der arbeitenden Menschen stark machen.


Anmerkungen

[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Rajongemeinde_Jonava

[2] https://www.achema.lt/en

[3] Interview mit Birutė Daškevičienė, Vorsitzende Achemos DPS, am 24. Mai 2022

[4] monatlich 0,8 Prozent vom Bruttolohn

[5] https://gothamcity.ch/2022/03/11/huitieme-fortune-de-suisse-andrey-melnichenko-quitte-le-navire/

[6]https://www.handelszeitung.ch/unternehmen/300-reichste-andrey-melnichenko-verlasst-eurochem-in-zug

Titelbild: © Peter Scherrer

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