Am 31. März 2019 finden in der Türkei die nächsten Kommunalwahlen statt. Es sind die ersten Wahlen nach dem dubios gescheiterten Putsch von 2016. Aber nicht nur deshalb finden in einer politisch extrem angespannten Situation statt. Das brutale militärische Vorgehen der türkischen Regierung und des türkischen Militärs gegen die Zivilbevölkerung in den kurdischen Siedlungsgebieten hat ebenso zu dieser Situation beigetragen wie die Verhaftung und Verurteilung vieler gewählter politischer Vertreter*innen der kurdisch geprägten Partei HDP.

Am 6. März 2019 hatte ich die Gelegenheit, Leyla Imret in Brüssel zu treffen und mit ihr über die Lage in der Türkei zu sprechen.

Beitrag von Jürgen Klute

Leyla ist eigentlich die Bürgermeisterin von Cizre, einer türkisch-kurdischen Stadt im Süd-Osten der Türkei nahe der Grenze zu Syrien. Gewählt wurde sie im März 2014. Zu dem Zeitpunkt schien es noch, dass der Friedensprozess, zu dem Abdullah Öcalan am Newroz-Fest im März 2013 aufgerufen hatte, auf einem guten und erfolgversprechenden Weg ist.

Eineinhalb Jahre später war die Hoffnung auf Frieden zerplatzt und türkische Sicherheitskräfte begannen eine massive Offensive gegen die kurdische PKK und mehr noch gegen die Zivilbevölkerung in einer Reihe überwiegend von Kurden bewohnter Städte, darunter Cizre.

Im Rahmen dieser Offensive der türkischen Sicherheitskräfte wurde in Cizre zunächst eine neuntägige totale Ausgangssperre vom 4. bis 11. September 2015 verhängt. Während dieser ersten Ausgangssperre wurden 21 Zivilisten durch türkische Sicherheitskräfte getötet.

Bereits am ersten Tag dieser Ausgangssperre wurde Leyla Imret auf dem Weg zu ihrem Büro im Rathaus von Cizre verhaftet. Rathaus, Amtsgericht, Krankenhäuser und Straßen wurden vom Militär besetzt. Die offizielle Begründung für dieses Vorgehen gegen die eigenen Bevölkerung war, dass man PKK-Kämper*innen in der Stadt bekämpfen wolle. Von kurdischer Seite wird hingegen bestritten, dass PKK-Einheiten in den Städten waren. Tatsächlich wurde auch nie darüber berichtet oder Belege dafür erbracht, dass bei den Offensiven in den kurdischen Städten PKK-Kämpfer*innen gefangen genommen oder getötet wurden.

Vom 14. Dezember 2015 bis zum 2. März 2016 verhängten die türkischen Behörden eine zweite totale Ausgangssperre über Cizre.

Während der beiden Ausgangssperren, so berichtet Leyla Imret, haben die türkischen Sicherheitskräfte die Versorgung der Bürger*innen mit Wasser und Lebensmitteln unterbunden. Auf jeden, der auf der Suche nach Wasser und Lebensmitteln seine Wohnung verließ, wurde geschossen. Zudem wurde Cizre immer wieder auch mit Granaten beschossen. Krankenwagen und Feuerwehr durften während dieser Zeit keine Hilfestellung leisten. Über dieses brutale Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte gegen die Zivilbevölkerung in Cizre wurde auch auf dem „Völkertribunal zu den türkischen Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen gegenüber Kurden“ am 15. und 16. März 2018[*] in Paris ausführlich berichtet.

Am Ende der zweiten Ausgangssperre wurden in Cizre 265 getötete Zivilisten gezählt, rund 30 % der Stadt waren durch Granatbeschuss zerstört und über 10.000 Menschen waren obdachlos, resümiert Leyla Imret. Insgesamt wurden in den Monaten der türkischen Militäroffensive gegen die Kurden rund 400.000 Menschen vertrieben. Die Zerstörungen in anderen Städten sind teils noch deutlich höher als in Cizre – Sur, die Altstadt von Diyarbakir wurde zu etwa 70 % zerstört.

Dennoch haben die Menschen sich nicht entmutigen lassen, berichtet Leyla. In den vier Monaten nach dem Ende der Ausgangssperren haben die Bewohner*innen unterstützt von der Stadtverwaltung und in Zusammenarbeit mit Nachbarstädten einen Teil der Zerstörungen wieder aufbauen können.

Nach dem dubiosen Putschversuch in der Türkei vom 15./16. Juli 2016 hat sich die politische Lage dann erneut zugespitzt. Am 11. September 2016 wurden die gewählten Bürgermeisterinnen in 102 Städten von Regierung abgesetzt.

In den 96 von der kurdisch geprägten Partei HDP regierten Städten wurden die Bürgermeister*innen nicht abgesetzt, sondern die Städte wurden auch unter Zwangsverwaltung durch die zuständigen Gouverneure gestellt. In sechs Städten, in denen die sozialdemokratische CHP die Bürgermeister stellte, wurden zwar die Bürgermeister abgesetzt, aber sie wurden durch neue ersetzt, die kommunale Selbstverwaltung wurde also nicht dauerhaft aufgehoben.
Um einer erneuten Verhaftung und drohenden Verurteilung zu entgehen, ist Leyla Imret nach dem Putsch zunächst für ein Jahr in den Irak gegangen. Im Sommer 2017 kam sie dann zurück nach Deutschland.

Leyla wurde 1987 in Cizre geboren. Nachdem ihr Vaters vom türkischen Militär erschossen wurde, kam sie 1996 zu Verwandten nach Bremen. Erst 2013 ging sie zurück nach Cizre.

„Mittlerweile habe ich meine Heimat also zum zweiten Mal verloren“, sagt sie, „und das ist schmerzhaft. Es ist schließlich etwas anderes, ob man freiwillig geht oder ob man sich gezwungen sieht zu gehen.“

Die Bürgermeister*innen der HDP hätten in ihren Städten angefangen, demokratisch Strukturen aufzubauen und zu stärken, Frauenrechte durchzusetzen, in dem politische Ämter soweit wie möglich jeweils mit einer Frau und einem Mann besetzt wurden, sowie Menschenrechte und die Rechte von Minderheiten zu stärken und kulturelle Vielfalt.

Im Zuge der Zwangsverwaltung kurdischer Städte seien all diese Entwicklungen zurückgesetzt worden. Frauen, so Leyla, seien aus politischen Funktionen und Ämtern unter der türkischen Zwangsverwaltung systematisch entfernt worden. Kulturzentren wurden geschlossen. In der Öffentlichkeit sind nur noch eine Sprache, eine Kultur und eine Religion zugelassen. Obgleich vor einigen Jahren das Verbot der kurdischen Sprache aufgehoben wurde, unterliegt das Sprechen des Kurdischen und die Verwendung kurdischer Symbole in der Öffentlichkeit erneut starken Repressionen.

Insgesamt, erklärt Leyla, zielt die türkische Politik gegenüber den Kurden auf die Produktion von Misstrauen und Unsicherheit. Es wird systematisch eine Atmosphäre erzeugt, in der Kriminalität und Drogenabhängigkeit unter Jugendlichen gedeiht. Menschen können sich nicht mehr sicher sein, ob sie ihren Nachbarn vertrauen können oder ob sie an die Sicherheitskräfte verraten werden. Wer zur türkischen Politik in Opposition geht, der riskiert Gefängnis oder gar ermordet zu werden, wenn er sich nicht ins Exil retten kann.

Trotzdem rechnet Leyla Imret mit einem Erfolg der HDP bei den Kommunalwahlen. Nach aktuellen Umfragen könnte die HDA in Ankara sogar die Mehrheit erringen. Trotz aller Behinderungen kommen zu Wahlveranstaltungen viele Menschen. Sie zählen zu den wenigen verbliebenen Gelegenheiten, sich politisch austauschen zu können.

Wie es dann mit den Zwangsverwaltungen in den kurdischen Kommunen weitergeht, ist eine offene Frage. Mit der Legislaturperiode müssten sie eigentlichen enden. Ob sie nach der Kommunalwahl erneut verhängt werden, lässt sich derzeit nicht sagen. Auszuschließen ist es allerdings auch nicht.

Auch wenn es von außen nicht immer sofort erkennbar ist: Die repressive Politik Erdoǧans wird von der türkischen Gesellschaft nicht widerstandslos hingenommen. Derzeit sind 325 Menschen in türkischen Gefängnissen im Hungerstreik, 14 in Straßburg, 3 in Deutschland, 2 in den Niederlanden (das ist der Stand zum Zeitpunkt meines Gespräches mit Leyla Imret). Einige von ihnen sind mittlerweile in einer lebensbedrohlichen Verfassung.

Das Ziel der Hungerstreikenden ist, den abgebrochenen Friedensprozess wieder aufzunehmen und zu einem erfolgreichen Ende zu bringen. Dazu hatte bereits am 24. Mai 2018 eine Konferenz im Europäischen Parlament in Brüssel, in deren Rahmen das Ergebnis des Permanent Peoples‘ Tribunal vom 15./16. März 2018 in Paris bekannt gegeben wurde, aufgerufen.

Eine zweite Forderung der Hungerstreikenden ist eine Erleichterung der Haftbedingungen für Abdullah Öcalan. Unterstützt werden sie darin durch die Resolution 2260 (2019) des Europa-Rats vom 24. Januar 2019 „The worsening situation of opposition politicians in Turkey: what can be done to protect their fundamental rights in a Council of Europe member State?“ (Absatz 11.1.7.). Ähnlich deutlich deutlich äußert sich der Türkei-Bericht des Europäischen Parlaments vom 13. März 2019.

Am Ende des Gesprächs mit Leyla Imret, die derzeit die Co-Vorsitzende der HDP-Deutschland ist, stellt sich mein Bild von der Türkei als noch widersprüchlich dar, als es ehe schon ist. Bei aller nötigen und berechtigten Kritik an der heutigen Politik und Rolle von Erdoǧans darf man nicht vergessen, dass er zu Beginn seiner Regierungszeit die kemalistische Politik gegenüber den Kurden aufgebrochen hatte. Unter Erdoǧans kam es von 2009 bis 2011 zu den Oslo-Gesprächen, die auf eine Beilegung des bewaffneten Konfliktes zwischen der Türkei und den Kurden zielte. 2013 schien es tatsächlich zu einem endgültigen Durchbruch in den Friedensverhandlungen zu kommen. Zwischenzeitlich war das Verbot der kurdischen Sprache aufgehoben worden. Es kam also zu realen Verbesserungen.

Außerdem machte Erdoǧans sich daran, die Macht des Militärs, dass wiederholt in den zurückliegenden Jahrzehnten die politisch Macht an sich gerissen hatte, politisch zu entmachten. Das Militär, dass sich als Wahrer des säkularen kemalistischen Staat und türkischen Nationalismus sieht, stand einer politischen Lösung des Konfliktes zwischen dem türkischen Staat und den Kurden im Wege. Die politische Entmachtung des Militärs war also eine Voraussetzung für eine politische Konfliktlösung. Sie erfolgte im Rahmen des so genannten Ergenekon-Prozesses von 2007 bis 2013.

Bei der türkischen Parlamentswahl am 7. Juni 2015 erzielte die kurdisch geprägte HDP einen historischen Sieg und überschritt erstmals die 10-Prozenthürde. Da die HDP nicht bereit war, ein politisches Bündnis mit Erdoǧan einzugehen, um der AKP zur Regierungsmehrheit zu verhelfen, kam es zu Spannungen zwischen Erdoǧan und der HDP und infolge am 1. November 2015 zu Neuwahlen.

In der Anfangsphase seiner Regierungszeit hatte Erdoǧan Fethullah Gülen und dessen Bewegung als einflussreichen politischen Bündnispartner zur Seite. Ab etwa 2012 bekam dieses Bündnis erste Risse. Seit dem Putschversuch von Juni 2016 ist das Verhältnis zwischen beiden unwiederbringlich zerrüttet. Erdoǧan sieht in Gülen den Drahtzieher des Putsches und verfolgt seitdem alle realen und vermeintlichen Gülen-Anhänger und bemüht sich zudem um eine Auslieferung Gülens, der in den USA lebt.

Um einer machtpolitischen Isolation innerhalb der politischen Lager der Türkei zu entgehen, habe Erdoǧan sich mittlerweile auf die Seite des Militärs geschlagen. Die im Rahmen des Ergenekon-Prozesses verurteilten Militärs, so Leyla Imret, seien dem entsprechend mittlerweile aus der Haft entlassen. Leyla sieht Erdoǧan deshalb in den Händen seiner früheren Gegner – eher als tragische Figur denn als imposante und einflussreiche politische Figur.

[*] In der ursprünglichen Version stand “2016”. Richtig ist “2018”. Ein aufmerksamer Leser hat auf diesen Tippfehler hingewiesen gehabt – herzlichen Dank für diesen Hinweis.

Titelbild: Cizre nach der Ausgangssperre September 2015 | Foto: Frazljn CC BY-NC-SA 2.0

Dil Leyla

Dil Leyla ist ein Film über Leyla Imret. Er wurde im August 2018 veröffentlicht und kann auf Vimeo angeschaut werden. Der Film ist teils in deutscher und teils in türkischer und kurdischer Sprache und mit deutsch- und englischsprachigen Untertiteln versehen. Ein zweieinhalb minütiger Trailer steht zur kostenfreien Ansicht zur Verfügung. Die Vollversion in einer Länge von 1 Stunde und 11 Minuten ist jedoch kostenpflichtig.


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