Von Frederik D. Tunnat

Wer derzeit die Nachrichten zum Corona-Virus, zum Lock down wie zur Befindlichkeit der deutschen Bevölkerung aufmerksam verfolgt, kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass ein Überbietungs-Wettbewerb von Politikern, Parteien, Bundesregierung, Ministerpräsidenten eingesetzt hat, wie auf die immer fiebrigere Erwartungshaltung der Bevölkerung zu reagieren sei.

Lockerungsübungen, wie wir sie so nur aus Muki-Buden, Fitness-Centern, kurz sämtlichen körperlichen Ertüchtigungs-Institutionen kennen, scheinen derzeit – im Angesicht der heraufdräunenden Bundes- und Landtagswahlen – Politiker aller Parteien, speziell jedoch bestimmte Ministerpräsidenten, deren kommunikativen Hofstaat, sowie Teile der Bundesregierung erfasst zu haben.

Was soll es: auch wenn die Mutationen unseres inzwischen vertraut gewordenen Corona-Virus sich pestartig und rasant aus Süd-Afrika, aus dem Vereinigten Königreich, sowie anderen hochinfektiösen Weltgegenden laut Testlaboren über das Land verbreiten, ansteckender, gefährlicher, tödlicher als das gute, alte, liebgewonnene Original sein sollen, hat die sich locker machenden Politiker eine fiebrige Aufregung erfasst. Wie Jagdhunde, die sich witternd und schnürend gegen den Wind ihrer Jagdbeute nähern, haben unsere vom Virus und dessen Beherrschung überforderten Politiker die Witterung der unruhiger, zorniger werdenden Bevölkerung aufgenommen.

Statt mit klaren, wissenschaftlich begründeten Argumenten an die verbliebenen Reste erwachsener Persönlichkeitsanteile in der erwachsenen – und damit wahlberechtigten – Bevölkerung zu appellieren, scheint sich das Gros unserer Politiker, allen voran eine Anzahl Ministerpräsidenten und schwergewichtige (nicht bloß im übertragenen Sinne) Bundesminister wild dazu entschlossen zu haben, Ratschläge und Warnungen der Wissenschaft auf den Mars zu schießen bzw. in den Wind zu schlagen. Wie viel leichter lässt sich doch mit dem, seit nunmehr einem Jahr nicht nur in den eigenen vier Wänden, sondern im eigenen Körper eingesperrten inneren Kindern der Wählerinnen und Wähler kommunizieren. Die trotzigen, inneren Kinder sind es leid, sich der erwachsenen Kontrollinstanz, die für Argumente von Politik und Wissenschaft zugänglich ist, Lock down und andere eklige Maßnahmen stoisch als notwendig akzeptiert, länger zu unterwerfen.

Die Sonnenstrahlen lassen den unbändigen Wunsch nach Freizügigkeit, Urlaub, Reisen, Party, Grill-Party, Shopping-Events, Kreuzfahrten, Club Med, Sonne, Strand, Alkohol und Spaß ohne Ende ins Unendliche anschwellen. Den von derart erregten Menschen ausgeströmten Duft nehmen die vor ihrer Wiederwahl stehenden Politiker längst voller Inbrunst auf, weshalb jüngst ein Überbietungswettbewerb eingesetzt hat, was so alles an notwendigen, weil der Gesundheit der Bevölkerung und der Beherrschbarkeit der Pandemie geschuldeten Maßnahmen wann kassiert werden kann, damit die inneren Kinder endlich ihrem Spiel- und Vergnügungstrieb folgen können, um zu einer zweiten Steigerungs-Rallye der Infektionszahlen und der folgenden ultimativen Kollabierung des Gesundheitssystems nachhaltig und energisch beizutragen.

Darf ich dem geneigten Leser in Erinnerung rufen: am 6. Juni 2020, zu Beginn der damaligen Reisewelle in Folge Aufhebung des Lockdown und der meisten Restriktionen, verfügte Deutschland über gerade mal 186.000 Infizierte und knapp 8.800 Corona-Tote. Dann tobten sich unsere inneren Kinder quer durch Europa, rund ums Mittelmeer, sowie in den angesagten Fernreisezielen aus, und, zurückgekehrt, setzte zu Beginn Oktober 2020 die Quittung für unser kollektiven Über-die-Stränge-schlagen ein, das Virus schlug zurück. Es hatte die Sommermonate genutzt, um sich unbemerkt und heftig zu verbreiten. Bereits Mitte Dezember 2020, nur gut zwei Monate nach Ende der Reise-Saison, konnten wir bereits 1,5 Millionen Infizierte verzeichnen, sowie rund 27.000 Tote.

Der Katzenjammer war groß. Beleidigt zogen sich die inneren Kinder in ihre inneren Schmollwinkel zurück. Der Erwachsene in uns war erneut bereit, die neuen, notwendig gewordenen Maßnahmen, den neuerlichen Lock down samt allem, was dazu gehörte, zu akzeptieren. Auf fast 80% Zustimmung zu den uns eingeschränkenden und einsperrenden Maßnahmen brachten wir, die bundesdeutsche Bevölkerung es damals – vor knapp drei Monaten. Doch das Gedächtnis ist eine fragile Sache, vergisst gern, speziell, wenn der innere Schweinehund wild darauf aus ist, zu reisen, sich zu vergnügen und zu besaufen, kurz die Sau rauszulassen. Angesichts des inneren Wunschkonzerts, das sich auf wundersame Weise bis in die Köpfe und Ohren der zur Wiederwahl stehenden Politiker seinen Klang gebahnt hat, haben die erwähnten Lockerungs-Übungen eingesetzt.

Statt an den Erwachsenen in uns zu appellieren und diesen zu überzeugen, hat ein gefährlicher Überbietungswettbewerb eingesetzt, nach dem Motto, darfs a bisserl mehr sein? Grenzenloses Reisen zu Ostern, im Sommer, klar. Die mutierten Viren blenden wir mal großzügig aus. Auch die Tatsache, dass wir in Deutschland noch nicht mal ernsthaft begonnen haben, zu impfen.

Doch die vor der Tür stehenden Wahlen sorgen dafür, dass die Bedenken der Wissenschaft vor den Emotionen wiederwahlgeiler Politiker dahin schmelzen, wie Schnee in der Karibik. Gebt den inneren Kindern was sie fordern und wünschen. Lasst sie reisen, ohne Masken und Lock down Fun haben. Wir wissen ja, das Virus kann Kindern wenig anhaben. Wer fühlt sich innerlich nicht jung wie zu Kinderzeiten? Auf jeden Fall Jede/er, der endlich die beengende Wohnung verlassen, reisen, Party machen, Sonne tanken, sich amüsieren will. Das mögliche böse Ende und die Konsequenzen blenden wir erst mal definitiv aus.

Lockerungsübungen in Deutschland, Anfang März 2021. Wer am meisten bietet, hat die größte Chance, an der Wahlurne bestätigt zu werden. Das zählt, darauf kommt es an!

Nur mal zur Erinnerung: aktuell haben wir knapp 2,5 Millionen Infizierte in Deutschland, davon sollen statistisch 2,25 Millionen das Virus „überstanden“ haben. Leider fehlt die Zahl Derjenigen, die, obwohl sie das Virus überlebt haben, auf Pflege, Rehabilitations-Maßnahmen etc. angewiesen sind. Die Berichte werden selten herausgestellt in der Presse – man will den Menschen ja keine unnötige Angst machen … außerdem haben wir seit einem Jahr die Kleinigkeit von 71.000 zusätzlichen Toten zu verzeichnen, was bedeutet, dass bloß rund 300.000 Menschen als nahe Angehörige davon betroffen sind.

Ich wage mal die Schätzung, im Vergleich zum Vorjahr, dass wir in einem halben Jahr, nach Ende der Urlaubssaison, nachdem auch der Bundestag gewählt ist, und keine so ausgeprägte Lockerungs-Bereitschaft mehr nötig scheint, wie aktuell, dass wir uns im Herbst 2021 – je nach Lockerungsgrad – 5 bis 7,5 Millionen Infizierten und 150. bis 200.000 Toten gegenüber sehen werden.

Doch was soll’s? Zur Zeit ist Lockerung angesagt. Wo gehobelt wird, da fallen Späne. Hoffen wir mal, dass es keines der uns bekannten inneren Kinder trifft, selbstverständlich uns persönlich sowieso nie. In diesem Sinne wünsche ich fröhliches Reisen, fröhliches Lockern. Wie sang doch uns Herbert Grönemeyer so treffend: „Lasst die (inneren) Kinder an die Macht“ ….

Titelbild: Corona colors by mhobl CC BY-ND 2.0 via FlickR

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