Von Jürgen Klute
Wer an Fabeln denkt, denkt schnell an den griechisch-antiken Fabeldichter Äsop oder auch an französischen Autor Jean de La Fontaine. Fabeln gibt es allerdings auch in anderen Kulturkreisen, so etwa im kurdischen. Dort sind sie allerdings Teil einer volkstümlichen Erzählkultur und lassen sich nicht einzelnen Autoren oder Autorinnen zuordnen.
Fettah Timar, der 1953 in der osttürkischen Stadt Kars unweit der trükisch-armenischen Grenze geboren wurde, sammelt schon seit einigen Jahren Fabeln und Märchen aus seiner Herkunftsregion. Bisher hat er sieben Bände in kurdischer Sprache veröffentlicht. Mit dem neuen Band „Tiergeschichten – Kurdische Fabeln“ hat hat erstmals eine deutschsprachige Ausgabe kurdischer Fabeln veröffentlicht.
Timar hatte in der Türkei Deutsch studiert und später dort auch als Deutschlehrer an einer Schule gearbeitet. Als dann Anfang der 1980er Jahre die Repressionen gegen den kurdischen Bevölkerungsteil in der Türkei massiv zunahmen, ist er nach Deutschland ausgewandert. Dort hat er Deutsch, Türkisch sowie Kurdisch unterrichtet und zudem sein Germanistikstudium fortgesetzt und um ein Studium der Politikwissenschaften ergänzt. Seit 2018 ist der in Bottrop lebende Timar, wie er sagt, „Lehrer im Ruhestand“.
Nachdem er bereits mehrere Bände mit Fabeln und Erzählungen in kurdischer Sprache veröffentlicht hat, will er mit dem neuen deutschsprachigen Band auch deutschsprachige Leserinnen und Leser ansprechen und mit kurdischer Kultur vertraut machen. Das ist allerdings nur ein Grund für die deutschsprachige Fabelsammlung. Wie Timar sagte, gibt es auch mehr und mehr jüngere Kurden in Deutschland, die nach einer deutschsprachigen Version kurdischer Fabeln gefragt haben. Der Grund: Die die Kinder und Enkel der kurdischer Migranten und Migrantinnen in Deutschland sind nicht mehr so vertraut mit der Sprache ihrer Eltern und Großeltern, da Deutsch ihre Hauptsprache geworden ist.
Gesammelt hat Timar die Fabeln in der Umgebung seiner Geburtsstadt Kars.* In den Dörfern dieser Region hat er sich die Fabeln von Männern und Frauen erzählen lassen und hat sie mit einem Tonrekorder aufgezeichnet. Dann hat er sie verschriftlicht und ins Deutsche übertragen. Allerdings, so Timar, folgen mündliche Erzählungen oft einer anderen Erzähllogik als schriftliche Texte. Zudem gibt es von Dorf zu Dorf auch unterschiedliche Versionen der Fabeln. Das bedeutet, dass Timar nicht einfach ein Protokollant der gehörten Fabeln war. Vielmehr hat er unterschiedliche Erzählvarianten zusammen bringen müssen und zugleich hat er aus einem mündlichen Erzähltext einen schriftlichen Text machen müssen, der einerseits inhaltlich dem Gehörten entspricht, sich aber der Erzählabfolge einer schriftlichen Erzählform anpassen musste. In diesem Sinne ist er nicht nur Protokollant und Übersetzer der Fabeln, sondern auch Mitautor.
Mit praktischer und finanzieller Unterstützung durch den in Bottrop ansässigen Verein Escher Freunde e.V. konnte der Band, der knapp 200 Seiten und 20 Fabeln umfasst, im Mai 2025 fertiggestellt und veröffentlicht werden.
Am 1. Juni wurde der Band im Rahmen einer zweisprachigen Lesung, an der knapp 30 Menschen teilnahmen, im Kurdischen Kultur- und Bildungszentrum e.V. in Köln-Kalk vorgestellt.
Moderiert wurde die Lesung von Hasan Taskale. Klaus Vatter, Vorsitzender von Emscher Freunde e.V., las die deutschsprachige Version der Fabeln vor und Fettah Timar die kurdisch sprachige Version.
Ergänzt wurde die Lesung durch eine Diskussion über die gehörten Fabeln. Die Fabel „Die Ziege und ihre Zicklein“ z.B. erinnert an das grimmsche Märchen „Der Wolf und die sieben Geißlein“. In der grundlegenden Erzählhandlung gleichen sich die beiden Erzählungen. Ein Wolf erschleicht sich das Vertrauen der Geißlein, die von der Ziege allein zu Hause gelassen wurden und frisst die Geißlein bis auf eines, das sich verstecken konnte. Als die Ziege zurückkommt, erzählt das überlebende Geislein, was passiert ist. Die Ziege schneidet dem schlafenden Wolf den Bauch auf und rette die Zicklein, die wiederum den Bauch des Wolfes mit Steinen füllen. Nach dem der Wolf wieder aufgewacht ist, verspürt er Durst und geht zu einem Brunnen um zu trinken, doch das Gewicht der Steine in seinem Bauch lässt ihn in den Brunnen stürzen. In der kurdischen Variante gibt es allerdings keine sieben Geißlein, sondern nur 3 und die tragen zudem Namen. In der Diskussion ergab sich dann unter anderen die Frage, ob die kurdischen Fabeln trotz mancher Ähnlichkeiten mit Fabeln anderer Kulturkreise etwas spezifisch Kurdisches enthalten. Eine klare Antwort auf diese Frage gab es nicht.
In Fabeln übernehmen Tiere die Rollen von Menschen und im Kern sind es Lehrgeschichten über das, was man tun oder lassen sollte und sie vermitteln Erfahrungen und manchmal auch kluge und weise Problemlösungen.
Manchmal sind sie auch subtile Widerstandserzählungen wie die Fabel vom Löwen und dem Fuchs. In dieser Fabel besiegt ein schlauer Fuchs den kräftemäßig überlegenen Löwen und fesselt ihn. Schließlich rette eine Maus den Löwen, indem sie die Fesseln durchnagt. Zum Schluss fragt die Maus den Löwen, der sich aus dem Staub machen will:
„Bruder Löwe, wohin gehst du denn jetzt?“ Da drehte er sich um und antwortete: „Liebe Maus, das weiß ich nicht. Aber in einer Gegend wie dieser, in der ich von einem Fuchs besiegt und von einer kleinen Maus gerettet wurde, da kann ich unmöglich leben. Jedenfalls nicht als Löwe!“
Dies waren die letzten Worte, die man von ihm gehört hat. Der Löwe wurde hier nie wieder gesehen.
Vielleicht ist diese Geschichte eine, die noch am stärksten kurdisch geprägt ist. Denn mit unterschiedlichsten Formen des Widerstandes sind Kurden seit Generationen vertraut.
Bibliographische Angaben:
Fettah Timar: Tiergeschichten. Kurdische Fabeln. Zusammengestell von Fettah Timar. Book on Demand, Hamburg, 2025, ISBN 978-3-8192-7906-5
* Usprünglich hieß es: „Gesammelt hat Timar die Fabeln in der Region Serkat, die östlich des Van-Sees liegt, nicht allzu weit entfernt von der türkisch-iranischen Grenze.“ Diese Aussage basierte auf einem Missverständnis. Dementsprechend wurde der Satz abgeändert und korrigiert. (10.06.2025)
Titelbild/Fotos: Jürgen Klute
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