Ukrainische KünstlerInnen erzählen, wie sie im Krieg leben.

Von Bernhard Clasen (Kiew, Mönchengladbach)

Viel Abstraktes wird über den Krieg in der Ukraine geschrieben. Man schreibt über Staatlichkeit, Taurus, Verteidigungsfähigkeit, NATO, Abschreckung und andere mehr oder weniger abstrakte Dinge.

Doch am wichtigsten ist der Mensch. Und deswegen sollen im Folgenden Menschen aus der Ukraine zu Wort kommen, die in ihren künstlerischen Werken gegenüber dem Europa-Blog beschreiben, was sie im Krieg fühlen und was die Kunst im Krieg für sie bedeutet.

Michael Reva (Odessa)

Michael Reva gehört zu den bekanntesten Bildhauern und Malern der Ukraine. Von ihm stammt das Wahrzeichen seiner Heimatstadt Odessa, der Stuhl in der Fußgängerzone von Odessa, er hat das Denkmal für Isaak Babel im Zentrum von Odessa geschaffen und aus seinen Händen stammt das Denkmal für die Opfer des Terrorismus, das 2005 vom ukrainischen Präsidenten Kutschma in Kiew aufgestellt worden war.

„Ich habe mehrere Stadien durchlaufen in diesem Krieg: Verzweiflung, Gekränktsein, den intensiven Wunsch nach Rache und Bestrafung der Schuldigen dieses Krieges.

Fast jede Nacht höre ich Drohnen, die nur wenige Meter über unser Dach hinwegfliegen. Besonders weh tut mir, dass ausgerechnet Russland, wo ich mehrere Jahre gelebt habe, unser Feind ist.

50 km von Odessa ist meine Dacha entfernt. Dort ist kein Militär, nichts. Und in der Nachbarschaft befindet sich ein Sanatorium. Eines Tages ist eine Rakete auf dem Gelände des Sanatoriums eingeschlagen. Ein riesiger Krater mit dreißig, vierzig oder fünfzig Meter Durchmesser war entstanden. Mit einem Schlag war das Sanatorium zu einem Skelett geworden. In diesem Augenblick war mir erneut klar geworden, wie zerbrechlich unser Leben ist. In nur einem Augenblick kannst du alles verlieren. Man kann nicht planen. Wenn wir uns schlafen legen, wissen wir nicht, ob wir am nächsten Morgen aufwachen.

Unter dem Eindruck dieses Augenblicks habe ich das Bild gemalt mit dem gelb gekleideten Mann im Krater. Ich nenne das Bild „Chaos Buntglas“.
Mir war es wichtig, einen Augenblick völliger Hilflosigkeit festzuhalten. Wir müssen nicht nur Tatsachen für die Nachwelt festhalten. Auch unsere Gefühle sollen der Nachwelt verständlich sein.

Trotz all der Angst und des Schreckens spürt man den Drang, etwas zu bewahren, festzuhalten.

Wir reisen durch die Hölle, das Fegefeuer und streben zum Paradies, wir kennen die Dunkelheit und das Licht. Wir gehen durch schwere Zeiten, um schließlich wieder an Liebe und Hoffnung zu glauben.

Mit meiner Kunst möchte ich Gefühle festhalten, den Menschen Hoffnung geben, ohne sie von der Realität abzulenken. Es geht darum, das Böse nicht zu ignorieren, sondern es zu verändern, es in etwas Neues zu verwandeln. Viele meiner Werke bestehen aus Resten von Munition, Drohnen oder Raketen, die ich als Material verwende.

In einer Welt voller Zerstörung und Schmerz ist die Kunst ein Mittel, um die Seele zu heilen, den Blick nach vorne zu richten und den Glauben an das Gute zu bewahren. Sie ist ein Akt des Widerstands gegen die Verzweiflung, die Resignation, das Vergessen und für die Hoffnung auf eine bessere Zukunft.

Ende Mai wurde in Odessa meine neue Skulptur aufgebaut. Zentrum dieses Werkes mit dem Namen „das Schiff der Erde“ ist eine Kugel aus rostfreiem Stahl, die so gut poliert ist, dass sie wie ein Spiegel wirkt.

Dieses Kunstwerk soll die ideale Welt symbolisieren. Um die Kugel sind Bauklötze, die symbolisieren, dass Kinder die Welt bauen sollen. Die Bauklötze stehen für Kinder. Kinder haben noch nicht den Haß in sich aufgesaugt, wie die Erwachsenen. Manche Menschen verlieren den Bezug zu ihrer kindlichen Unschuld und begehen Verbrechen oder säen Chaos. Doch in Wirklichkeit leben wir alle auf demselben Planeten, in einem gemeinsamen Haus, das wir gemeinsam bauen.

Das Kunstwerk spiegelt unsere Welt wider – die Wolken, Bäume und Menschen – alles in einer perfekten Form, einem Globus. Es ist eine Erinnerung daran, dass wir alle Teil eines großen Ganzen sind und gemeinsam an einer besseren Welt arbeiten sollten (siehe auch hier).

Die Kunst ist meine Rettung. Sie hilft mir, dass ich nicht in Haß, Verzweiflung und Zerstörungswillen falle. Mit der Kunst schaffe ich es, etwas Abstand von den aktuellen Nachrichten zu bekommen, zu begreifen, dass wir nur ein kleiner, kleiner Ausschnitt einer zigtausendjährigen Menschheitsgeschichte sind.

Es ist kein Zufall, dass gerade in Odessa so viele Künstler leben. In Odessa, einer Stadt, in der über hundert Nationalitäten harmonisch zusammenleben,

Und deswegen denke ich, können gerade wir Künstler aus Odessa einen Impuls eines friedlichen Zusammenlebens geben.

Rita Kolobowa, Malerin, Organisatorin von Kulturveranstaltungen in Odessa

“In Zeiten des Krieges ist Kultur das wichtigste Werkzeug, um den Konflikt zu beenden. Es ist entscheidend, öffentlich zu betonen, dass wir für den Frieden sind. Durch das Schaffen von Harmonie wirkt man für das Gute. Ein Künstler kann Kämpfer des Lichts, Kämpfer des Friedens sein.

Wenn wir das tun, kann der Krieg schnell enden, denn wir senden positive Energien in die Welt. Was wir nach oben schicken, kehrt zu uns zurück – wie ein Sprichwort sagt: ´Was von dir kommt, fällt auf deinen Kopf.` Warum also wundern wir uns, wenn uns negative Dinge treffen? Wenn man Rosen nach oben wirft, regnet es Rosenblätter. Wenn man Steine wirft, regnet es Steine.

Unsere Kreativität formt unsere Realität. Deshalb müssen Künstler, Dichter und Schauspieler sich ihrer persönlichen Verantwortung bewusst sein – für die Rolle, die sie spielen. Wenn jemand eine negative Rolle übernimmt und Hass, Feindseligkeit, Rache oder Zerstörung verbreitet, trägt er eine große Verantwortung.

Kultur und Kunst haben die Kraft, das Bewusstsein zu verändern und den Weg zu einem friedlicheren Miteinander zu ebnen. Es liegt an jedem Einzelnen, durch sein Schaffen positive Impulse zu setzen und so aktiv zum Ende des Krieges beizutragen.

Neli Pavelko (Kiew), Lehrerin für Gitarre, Geige und Klavier

“Im Krieg entwickelt sich die Kunst mehr. Kunst reagiert sehr schnell auf Tragödien.

Im Krieg werden Lieder aufgegriffen, die in Vergessenheit geraten sind. Diese nach dem Zweiten Weltkrieg geschriebenen Lieder beschreiben eine Gefühlslage, wie sie Menschen heute wieder empfinden. Da gibt es z.B. das in den 80er Jahren geschriebene ukrainische Lied ´Das Fichtenhaus´. Hierin wird das väterliche Haus besungen, zu dem man so gerne zurückkehren möchte. Ein Haus, das zwar im Krieg gebrannt hat, aber nicht niedergebrannt worden ist. Jetzt erinnert man sich wieder an ´das Fichtenhaus´.

Gerade jetzt im Krieg finden viele Musikwettbewerbe in der Ukraine statt.

Das kulturelle Leben ist im Krieg lebendiger als in Friedenszeiten. In Tragödien werden großartige kreative Werke geschaffen, wenn alle satt und zufrieden sind, entwickelt sich wenig künstlerisches Leben.

Auch die Themen der Kunst und der Musik ändern sich. Musik und Kunst werden aggressiver. Man besingt weniger die Liebe, mehr den Krieg, die Aggression und den Hass, verleiht seiner Trauer Ausdruck.

Wer nichts Künstlerisches machen kann, wird in diesen Zeiten verrückt. Immer nur auf Telegram die neuen, schrecklichen Nachrichten zu lesen, macht die Psyche krank. Die Kunst ist mein Rettungsring.

Die Gesellschaft heute ist atomisiert. In meinem Musikunterricht weiß ich, dass die Schüler in dieser Zeit nicht in ihren Smartphones schreckliche Nachrichten konsumieren. Sie haben echten Kontakt, mit mir und ihren Mitschülern. Ich hole sie mit dem Musikunterricht aus dem Internet und der Vereinsamung raus.

Im Krieg erleben Künstler und Kunstbegeisterte auch Negatives: Künstler reisen aus, sind an der Front oder nicht in der Lage aufzutreten. Ganze Museen wurden evakuiert. Wegen unserer Sprachgesetze dürfen wir keine Werke russischer Komponisten, wie etwa Tschajkowski, Rachmaninow, Mussorgski, Wysozki, Okudschawa etc. öffentlich vortragen.”

Tatjana Swirina, Ärztin und Psychotherapeutin (Charkiw)

Ich möchte mit einem Gedicht antworten, das ich in diesen Kriegsjahren geschrieben habe. Denn immer, wenn ich verzweifelt bin, den Krieg spüre, schreibe ich.

Die Erde

Heiß waren die Schlachten um die Erde …

Ein Heer schrie:
– Das ist unsere Erde! Ihr seid unrechtmäßig hier,
Geht nach Hause …
Und das andere Heer schrie:
– „Das ist unsere Erde! Die Geschichte gibt uns Recht.“

Die Erde hörte wortlos
all diesem Gerede zu,
sie seufzte, sie weinte, sie zitterte vor dem Krieg …

Dann konnte sie nicht mehr weinen, flüsterte nur ganz heimlich:
– Ihr Narren, habt ihr es nicht kapiert,
DASS IHR ALLE HIER MIR GEHÖRT???

Fotogallerie

Fotos: Bernhard Clasen, privat

Titelbild: dumskaya.net

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