Schul- und Bildungspolitik fallen nicht in die Kompetenz der Europäischen Union. Gleichwohl arbeitet die EU schon lange daran, dass die Bildungsabschlüsse in den Mitgliedsländern soweit vergleichbar werden, dass eine gegenseitige Anerkennung von Abschlüssen ermöglicht wird, und sie fördert den Austausch von Schülerinnen und Schülern, Studentinnen und Studenten und Auszubildenden, um die Wahrnehmung des Rechts auf Freizügigkeit der Bürgerinnen und Bürger der EU zu erleichtern bzw. überhaupt erst zu ermöglichen. In diesem Sinne ist Schul- und Bildungspolitik dann doch ein europäisches Thema. In genau diesem Sinne versteht sich der folgende Beitrag von Frederik D. Tunnat als ein Beitrag zu einer nötigen europäischen Debatte über eine Neuausrichtung von Schule und Bildung aus einer spezifischen Perspektive.

Von Frederik D. Tunnat

Die menschliche Gesellschaft ist auf kulturelle Fähigkeiten angewiesen, um ihre Praktiken, Werte und Normen, kulturellen Werke, ihre Sprache, sowie gewisse institutionelle Informationen an die ihr folgende Generation zu vermitteln. Dazu bediente man sich ursprünglich ausschließlich mündlicher Überlieferung, sowie dem Hinterlassen bestimmter Werke und der Vermittlung des dazu erforderlichen praktischen Könnens und Wissens. Seit der Erfindung der Schrift und Möglichkeiten der Aufzeichnung und Dokumentation bzw. Aufbewahrung, erfolgte die Übermittlung weitgehend schriftsprachlich. Erst im Lauf des 19. Und 20. Jahrhunderts, in Folge des technischen Fortschritts, traten weitere, überwiegend technische Möglichkeiten der Aufbewahrung und Übermittlung, z.B. Fotos, Film, Ton, elektronische Speicherung auf Datenträgern und in Datenbanken etc. Doch auch und gerade die neuen Speicher- und Übermittlungsmethoden setzen, wie zuvor die Vermittlung via Dokumenten und Büchern, das Können des Lesens und Schreibens voraus.

Weder das Vorhandensein einer Hochsprache zur mündlichen Überlieferung, noch eine gut entwickelte Schrift samt ausgefeilter Aufbewahrungs- und Dokumentier-Methode – siehe sumerische oder ägyptische Sprache und Schrift – garantieren jedoch, dass das trainierte Können und Wissen eines Volkes tatsächlich auf die Nachwelt übergeht.

Obwohl wir uns selbst als menschlich bezeichnen, um uns von den, verächtlich als „Tiere“ bezeichneten Mitbewohnern unseres Planeten abzugrenzen, sind wir unter allen Bewohnern der Welt das grausamste, blutrünstigste und gefährlichste aller Lebewesen bzw. Tiere. Keine andere Spezies, keine Tiergattung geht so blutrünstig und grausam mit seinen Artgenossen um, wie wir Menschen dies tun. Während es bei Tieren innerhalb einer Art i.d.R. die sog. Beiß-Hemmung gibt, kennen wir Menschen diese finale Demuts- und Überlebensgeste der Tiere nicht. Trotz religiöser Vorschriften wie „Du sollst nicht töten“, haben wir so genannten Menschen uns, seit wir existieren und über die Erde verbreitet haben, zu allen Zeiten gegenseitig bekämpft, getötet, einander vernichtet – in der Regel wegen Besitz von Land, Geld, Reichtum, aus religiösen, ethnischen, rassistischen Gründen, wegen Frauen, Häusern, Staaten, Macht.

Anlässlich der Auslöschung ganzer Völker und Stämme gingen deren Überlieferungen, Kulturtechniken, Traditionen, Sprache, Schrift – kurzum alles, was tatsächlich unser Anderssein, unsere Unterscheidung von Tieren ausmacht – für immer verloren.

Mit aberwitzig hohem Aufwand und nur durch den Einsatz zahlreicher Spezialisten – z.B. Archäologen – gelingt uns heute, speziell mit dem Einsatz eines enormen Aufgebots von Technik, das verloren gegangene Wissen untergegangener Völker und ihrer Kulturen zu einem geringen Teil wieder zu erlangen und uns nutzbar zu machen. Dennoch ist in Folge der Ausrottung, Vernichtung ganzer Völker unendlich viel tradiertes Können und Wissen für immer verloren gegangen, dass wir selbst unter Anwendung modernster Digitaltechnik und ausgefeilter biochemischer Analysen nie auch nur ansatzweise werden rekonstruieren können.

Seit der Einführung des Buchdrucks im hohen Mittelalter, also vor ca. 500 Jahren, wurde es dank gedruckter und aufbewahrter Bücher möglich, nicht nur tradiertes Wissen zu konservieren, sondern vor allen Dingen es über die Bücher weiter zu vermitteln, ja es zu reproduzieren. Insofern kommt Buchautoren – seien es Wissenschaftler, Forscher, Gelehrte, Künstler, Priester, Schriftsteller, Politiker – eine Schlüsselrolle bei Aufzeichnung wie Bewahrung tradierten und neuen Wissens wie Kulturtechniken zu.

Während sich das technische Fachwissen zu Beginn des 19. Jahrhunderts binnen einer Generation veränderte und erneuerte, erneuert es sich aktuell jährlich, monatlich, wöchentlich, täglich. Die Wissensexplosion lässt sich allein an der Summe aller jährlich produzierter Buchtitel , Fachaufsätze etc. ablesen. Allein in einem Land wie Deutschland, das bis ins 20. Jahrhundert als eine führende Kulturnation galt, hat sich die jährliche Buchtitel-Produktion von 50. – 60.000 Titel pro Jahr inzwischen verdrei-, ja vervierfacht.

Allein diese angeschwollene Titelzahl, in Verbindung mit dem exponentiell anwachsenden technischen Wissen, belegt eindrucksvoll, vor welch gigantischer Aufgabe wir, als menschliche Gesellschaft, im Zusammenhang mit der Vermittlung unseres Wissens und unserer Kultur aktuell, am Beginn des 21. Jahrhunderts, stehen. Kein einziger Mensch – bezeichnenderweise ging die Periode des Universal-Gelehrten vor Mitte des 20. Jahrhunderts zu Ende – ist heute noch in der Lage, den Überblick über das geballte Wissen der Welt, wie der menschlichen Kultur, zu behalten. Obwohl das Zeitalter der „Fach-Idioten“ längst angebrochen ist, schon um wenigstens innerhalb eines kleinen Fachbereichs den Überblick zu behalten, haben unsere Politiker, speziell die Bildungspolitiker, völlig versagt. Angesichts des aberwitzig anwachsenden Wissens, vornehmlich technisch-wissenschaftlicher Natur, glaubte und glaubt man bis heute, dem rasant wachsenden Wissen mittels eines Vermittlungs-Potpourris gerecht werden zu können. Folglich werden Schüler und Studenten seit nunmehr drei, vier Generationen mit einer Fülle naturwissenschaftlich-technischen Fachwissens vollgestopft, das, würde man die Zyklen der Schulbuchproduktion kennen und verstehen, bereits größtenteils veraltet ist, wenn die Schulbücher, als Basis der permanent geänderten Curricula, geschrieben, produziert und den Schülern oder Studenten zur Verfügung stehen.

Während heutige Schüler mit einer schier ungeheuren Masse vollkommen unnötigen Wissens naturwissenschaftlich-mathematischer-technischer Inhalte vollgestopft und überflutet werden, kommen die elementaren Kultur-Techniken seit mindestens drei Generationen zu kurz. Deutlich sichtbar an den signifikant geschwundenen Lese-, Rechtschreib- wie Grammatikfähigkeiten von Schülern, Studenten und jungen Erwachsenen ganz allgemein. Die Lehrerschaft reagierte darauf, indem sie das Leistungsniveau dieser elementaren Kulturtechniken permanent absenkend anpassten. Heute kann ein Abiturient glänzende Noten im Abitur einfahren, obwohl sein Niveau der Rechtschreibung und Zeichensetzung auf dem Niveau eines schlechten Hauptschülers früherer Zeiten liegt. Wer glaubt, moderne Technik, etwa die Rechtschreib-Prüfung moderner Textverarbeitungs-Programme könne das ausgleichen, irrt. Das geht nur zu einem geringen Teil auf.

Während Schul-Curricula offenbar noch immer vergeblich dem Ideal eines universell gebildeten Schülers nachhecheln, und damit immer grandioser scheitern, wäre es angebrachter, nach dem Prinzip „weniger ist mehr“ zu verfahren. Die Konzentration auf drei der elementarsten Kultur-Techniken: Lesen – Schreiben – Rechnen, wäre beispielsweise neben der Vermittlung sportlicher, handwerklicher wie kommunikativer und sozialer Grund-Fertigkeiten ein ausreichendes Ziel für die Elementar-Schüler. Denn erst die nahezu perfekte Beherrschung elementarer Fähigkeiten legt den Grundstein, zum soliden Aufbau.

Statt Schüler in der Sekundarstufe I mit naturwissenschaftlichem wie mathematischem Wissen zu belasten, das im Grundstudium besser aufgehoben wäre, sollte auch hier die Beschränkung auf den praktisch-alltäglichen Wert im Vordergrund stehen, statt zu viel Stoff auf abgehoben-wissenschaftlichem Niveau zu vermitteln, fern jeglicher Alltags-Realität der meisten Schüler, oberhalb ihres intellektuellen Horizonts angesiedelt – auch bei Gymnasiasten. Stattdessen vertiefender, gründlich-solider Unterricht in Fremdsprachen, Basiswissen in geschichtlich-politisch-sozialer Hinsicht, um Menschen auf ihr Leben in einer Demokratie vorzubereiten, wo sie gezwungen sein werden, zahlreiche Entscheidungen treffen zu müssen, die faktische Auswirkungen auf das Gemeinwesen wie sie persönlich haben. Statt Klassenfahrten an touristisch attraktive Orte im EU Ausland, wären für angehende Staatsbürger Besuche im Bundestag oder Landes-Parlamenten, Diskussionen mit Politikern weit wichtiger, als Formeln chemischer, physikalischer, biologischer oder mathematischer hochkomplexer Inhalte auswendig zu lernen, ohne diese auch nur annähernd zu verstehen, geschweige denn anwenden zu können.

Statt zahlloser Unterrichtsstunden in höherer Chemie, Physik und Mathematik, ist es aus meiner persönlichen Erfahrung für das Leben des Einzelnen, wie für die Gesellschaft insgesamt, weit wichtiger, soziales Zusammenwirken zu lernen – durch Praktika in sozialen Einrichtungen – die Wahrnehmung seiner Rechte wie Pflichten als angehender Staatsbürger zu lernen – durch Kontakte zu Politikern und politischen Institutionen auf lokaler, regionaler, überregionaler Ebene. Auch das Verständnis für das Funktionieren der Gewaltenteilung in einer Demokratie ist allemal sinnvoller, als abgehobenes technisches Wissen, das dem Gros der Schüler in ihrem Leben nie wieder begegnet.

Unterstützung und praktische Hilfestellung im Zusammenhang mit der beruflichen Orientierung wäre angesagt. Aber auch so praktische Fähigkeiten, wie Backen, Kochen, einen Haushalt managen können, wie Verträge abschließen, ein Bank-Konto einrichten, Vermögensbildung inklusive Altersvorsorge (Zusatz-Rente), sind ein absolutes Muss, in einer Zeit, wo die staatlichen Renten drastisch sinken, während die Lebenshaltungskosten deutlich steigen.

Schule sollte, nein muss, gerade in einer demokratisch verfassten, kapitalistisch ausgerichteten Gesellschaft , Defizite des Elternhauses und unterschiedliche soziale Niveaus ausgleichen helfen, indem sämtlichen Schülern die gleichen Chancen eingeräumt, aber auch die gleichen Werte und Prinzipien wie Traditionen vermittelt werden. Das Elternhaus kann darauf aufbauend ergänzen, helfen, unterstützen, doch heutige Schule, speziell jene der Primar- und Sekundarstufe I, muss Aufgaben, die früher in Familien geleistet wurden, übernehmen, will der Staat das stetig wachsende Heer ungebildeter, schlecht ausgebildeter, frustrierte Jugendlicher und Sozialhilfe-Empfänger nicht weiter anwachsen lassen.

Da Schule selbstverständlich kein Ersatz für fehlende Förderung und Unterstützung durch Eltern sein kann und sollte – die Nähe zu diktatorischen Erziehungs- und Schulsystemen wäre sonst gegeben – muss die oben skizzierte, veränderte Ausrichtung von schulischer Bildung als ein gesamtstaatliches, wie gesellschaftliches Anliegen verstanden werden, in dass sich Freiwillige, gesellschaftliche Gruppen, Unternehmen, die Wirtschaft wie die Politik ebenfalls im nötigen Umfang einbringen. Unbedingt und an erster Stelle auch jene Eltern, speziell in jenen Familien und gesellschaftlichen Schichten, in denen das tradierte Zusammenspiel zwischen Kindern und Eltern noch funktioniert.

Doch für die wachsende Anzahl Kinder aus dysfunktionalen, sozial schwachen, ungebildeten Familien, müssten die Schulen, wie die erwähnten Bevölkerungsgruppen einspringen, um diesen nachweislich benachteiligten Kindern bessere Zukunftsperspektiven bieten zu können, als derzeit, bzw. seit 25, wenn nicht bereits seit über 40 Jahren.

In der gymnasialen Oberstufe, sowie in den Erst- bzw. Grundsemestern ist genügend Zeit und Raum, um diesen Schülern und Studenten jene mathematisch-naturwissenschaftlich erforderlichen, tieferen Kenntnisse höherer Mathematik, sowie jene naturwissenschaftlich-technische Basis für das Studium dieser Disziplinen zu vermitteln. Vor dem Hintergrund, dass selbst Abiturienten/innen oder Studenten der Erst-Semester häufig gar keine bzw. schwammige Vorstellungen ihrer beruflichen Neigungen haben, ist die seit den Bildungsreformen der 1970er/80er Jahre umgesetzte Lehrplan-Realität mit ihrer Überfrachtung vielfältigen, angerissenen Fachwissens möglichst vieler naturwissenschaftlich technischer Bereiche, einschließlich der Vermittlung von Inhalten höherer Mathematik, ein aberwitzig teurer Irrweg. Das aktuelle Vorgehen demotiviert zahlreiche Schüler grundlos; fixiert sie einseitig auf Fächer und Fachwissen, dass zwar später in bestimmten Berufen und deren Studiengängen Grundvoraussetzungen darstellen, doch angesichts der Masse von Schülern, die völlig andere Berufe anstreben, sowie mit Bezug zu ihrem praktischen Leben, eine Verschwendung an Aufwand, Zeit, Energie und Lebensqualität darstellt.

Jeder Heranwachsende sollte statt mit linearem Optimieren konfrontiert zu werden, lernen, wie er /sie ihr Leben praktisch in den Griff bekommen kann, von Optimierung ganz zu schweigen. Als Absolvent einer, seinerzeit fortschriftlichen Schule, kam ich zwar ebenfalls bereits in den Genuss vielfach überfrachteten Fachwissens, speziell in Mathematik, Chemie, Physik und teilweise Biologie, doch hielt das Angebot dieser Reform-Schule eben auch die erwähnten lebenspraktischen Lehrinhalte bereit, wenn auch um den Preis zusätzlicher Unterrichtsstunden in freiwilligen Arbeitsgemeinschaften. Außer denjenigen Lehrinhalten der Fächer Gemeinschaftskunde/Soziales und Geschichte, waren mir auf meinem Lebensweg besonders die lebenspraktischen Inhalte der Arbeitsgemeinschaften hilfreich; ja erwiesen sich als enormes, lebenspraktisches Plus.

In meiner „geopferten“, zusätzlichen Schulzeit, wurde mir z.B. das Backen von Kuchen und Plätzchen beigebracht. Lernte ich Kochen, zum Teil ganze Menüs, in der Regel für 4-6 Personen, also Familiengröße. Dieses praktische Wissen gab mir ein enormes Maß an Freiheit und Unabhängigkeit, da ich nie, wie zahlreiche andere Männer, abhängig von den Kochkünsten einer Frau war oder mich machte, um mich und meine Familie zu ernähren. Da der sog. Hauswirtschafts-Unterricht neben Backen und Kochen auch so lebenspraktische Dinge vermittelte, wie Einkaufen der Zutaten, Verfügen und Auskommen mit dem zur Verfügung stehenden Budget, der späteren Abrechnung und Rechenschaft gegenüber der Gemeinschaft, deren Geld aus der Gemeinschaftskasse für den Kauf der Zutaten diente; all das bereitete mich ausgezeichnet auf meine späteren Aufgaben erst als Single, dann als Ehemann und Vater vor.

Ganz nebenbei vermittelte der Hauswirtschaftsunterricht, der nicht nur das Vorbereiten, Einkaufen, Zubereiten, Abrechnen etc. umfasste, sondern auch das Abwaschen und Putzen der benutzten Geräte und Räumlichkeiten, mir ein Gefühl dafür, wie viel Arbeit und Energie üblicherweise Frauen in diese Tätigkeiten zu investieren haben, neben einem möglichen Job, Kindern etc. Es kam mir nach diesem Unterricht nie in den Sinn, von einer Lebenspartnerin – mit oder ohne Trauschein – zu erwarten, mich zu bekochen, mir den Haushalt zu machen, mich zu bedienen, wie das für einen erheblichen Teil der männlichen Bevölkerung noch heute üblich ist. Der Hauswirtschaftsunterricht zeigte mir ganz nebenbei auf, weshalb Gleichberechtigung in einer Beziehung wichtig, nein elementar ist, weshalb Lebenspartner auch und gerade alles im gemeinsamen Haushalt gemeinsam erledigen sollten, statt einen Großteil der häuslichen Arbeiten beim weiblichen Geschlecht abzuladen.

Wir lernten also nicht nur Backen und Kochen, sondern buchstäblich Haus zu halten, zu putzen, ein Budget zu kalkulieren, die Ernährung zu planen und zu organisieren, lernten auf Zutaten und gesunde Ernährung zu achten. Dass den besonders lernwilligen Schülern quasi als Ergänzungs-Paket zur Hauswirtschafts-AG die Möglichkeit geboten wurde, einen Einblick in die Betreuung von Babys zu erhalten, war das I-Tüpfelchen des Ganzen. Ich lernte, lange bevor ich als junger Vater in die Verlegenheit kam, eigene Säuglinge zu wickeln, zu füttern, sie zu pflegen, zu halten und zu umsorgen, das Ganze in der Theorie, wie mittels realistischer Puppen. Selbst das Baden eines Säuglings, einschließlich des Präparierens der korrekten Wassertemperatur, wurde von uns Jugendlichen geübt. All dies half mir ungemein, später meiner Frau bei der Betreuung der Kinder ebenso zur Hand zu gehen, wie im Haushalt. Wenn ich im Bekannten-, Freundes- oder Verwandten-Kreis mitbekomme, wie ungeschickt bis unwillig junge Frauen wie Männer aktuell an diese lebensnotwendigen und praktischen Dinge herangehen, wird mir jedes Mal klar, wie notwendig exakt ein solch lebenspraktisches Training für Heranwachsende ist, und um wieviel wichtiger, buchstäblich existentieller dies ist, als stundenlang Formeln auf hohem Niveau abzuleiten und anwenden zu können.

Meine Schule hielt jedoch noch weit wichtigere, aus meiner Sicht ebenso lebensnotwendige Erfahrungen bereit: so wurden wir Schüler auf die Situation benachteiligter Menschen ebenso aufmerksam gemacht, wie über gemeinnützige Organisationen informiert und mit diesen in Kontakt gebracht, die sich der Arbeit mit und für sozial Benachteiligte weltweit, nicht nur in Deutschland, verschrieben hatten. Nach einer derartigen empathischen Einführung gab es keinerlei Motivationsprobleme, um uns Schüler zu motivieren, im Werk- und Handarbeitsunterricht, der sowohl regulär, wie zusätzlich in AGs stattfand, z. B. für den jedes Jahr von unserer Schule gemeinsam mit Terre des Hommes u.a. sozialen Organisationen durchgeführten Weihnachts-Bazar Dinge anzufertigen, die auf dem Weihnachtsmarkt verkauft wurden, um den Erlös anschließend diesen Organisationen zukommen zu lassen. Parallel dazu konnten wir uns freiwillig zur Mitarbeit bei anderen Hilfswerken melden. Für zwei Jahre ging ich alle zwei Wochen für ein paar Stunden nachmittags zum Blindenwerk der Stadt, wo blinde Mitbürger bestimmte Produkte fertigten oder für Firmen gewisse Aufträge abarbeiteten, um dem Blindenhilfswerk so zusätzliches Kapital für die Betreuung der blinden Mitbürger zuzuführen. Ich halte es für lebensnotwendig, dass Schüler lernen, sich sozial für Andere zu engagieren und sich möglichst zusätzlich ehrenamtlich zu betätigen. Dies sind Fähigkeiten und Fertigkeiten, die im heutigen Schulalltag eindeutig zu kurz kommen, oder sich in viel zu engem, nämlich nur innerhalb des eigenen schulischen Rahmens bewegen, statt sich gesellschaftlich zu engagieren. An meiner Schule hatten wir neben dem geschilderten ehrenamtlichen Engagement Gelegenheit, teilweise innerhalb der Schulzeit, teilweise während unserer Ferien soziale Praktika zu absolvieren. Ich entschied mich für Praktika in einem Hort in einem sozialen Brennpunkt der Stadt, wo ich zwei Mal für 14 Tage half, sowie für die Arbeit mit Blinden und Taubstummen, und geistig Behinderten in der entsprechenden Einrichtung.

Wie anders, als durch praktische Anschauung, können wir als Menschen über die spezifischen Probleme körperlich oder geistig oder sozial Benachteiligter lernen? Es waren mich stark prägende Erfahrungen, die mir das Zusammensein mit den Menschen in den erwähnten Einrichtungen, die Arbeit, wie die Gespräche und das Interagieren mit ihnen, vermittelten. Wiewohl all dies auf rein freiwilliger Basis passierte, bin ich meiner Schule, speziell unserer damaligen Direktorin dankbar, die Möglichkeiten und Voraussetzungen für all das geschaffen zu haben, und mir so lebensnotwendige Erfahrungen zu vermitteln, die für einen in einer Demokratie lebenden bzw. in diese hineinwachsenden Jugendlichen überaus hilfreich und wichtig sind.

Es sind aus meiner Sicht die beschriebenen Beispiele, die für Schüler, ihr späteres Leben als Erwachsene, Eltern, Staatsbürger und Demokraten von weit größerer, höherer Bedeutung sind, sein sollten, als überhöhter Stoff in Mathematik und Naturwissenschaften oder Technik auf dem Niveau angehender Studenten.
Meine ehemalige Schule war aufrichtig bemüht, uns zu aufgeklärten, informierten Staatsbürgern zu erziehen. Daher umfasste der damals Gemeinschaftskunde bzw. Sozialkunde genannte Unterricht neben der Vermittlung des lehrplanmässigen theoretischen Wissens auch praktische Beispiele. Unser Lehrer, einer der gelehrtesten wie engagiertesten, die ich kennen lernen durfte, war bei jeder Unterrichtseinheit bemüht, uns mit praktischen Beispielen den Sinn für Gesellschaft und Staat nahe zu bringen. Hatte er uns beispielsweise ausführlich über die Aufgabe und Rolle einer freien Presse für einen demokratisch verfassten Staat informiert, so gehörte anschließend der Besuch in einer Zeitungsredaktion, das Gespräch mit Journalisten, die Führung durch das Druckhaus, das Aufzeigen wie und mit welchen Mitteln eine Tageszeitung gemacht wurde, zum Unterrichtsstandard.

Hatten wir über die Aufgaben wie die Hintergründe von Politikern und Parteien gesprochen, ermöglichte uns dieser Lehrer entweder an Diskussionen mit Lokal-Politikern im Rathaus teilzunehmen, um unsere Fragen zu ihren Parteien und einzelnen Inhalten stellen zu können, oder er lud Kommunalpolitiker in die Klasse ein, damit sie uns Rede und Antwort bezüglich der Funktion von Politik auf lokaler oder regionaler Ebene gaben. Immer koppelte dieser Lehrer das vermittelte theoretische Wissen, dass er übrigens unnachgiebig per Test und Klassenarbeiten abfragte, mit der Möglichkeit praktischen Lernens und praktischer Wissensvermittlung. Dass eine solche Vorgehensweise vom Lehrer nicht nur ein hohes Maß an Engagement – über die Schulstunden und die häuslichen Arbeiten der Korrektur und Vorbereitung – voraussetzt, ist mir bewusst. Doch wenn ich sehe, wieviel dieser Mann für die junge Demokratie der Bundesrepublik geleistet hat, indem er uns statt trockenem, theoretischen Wissen, das fast jeden Schüler anödet, stets dessen praktische Anwendung und Nutzen vor Augen führte, hat er eine Vielzahl überzeugter demokratischer Staatsbürger bewirkt, denen bewusst war, dass Demokratie eben nicht bedeutet, sich im Sessel zurückzulehnen und den Fernseher einzuschalten, um seine Kommentare zu Politik und Staat bei Bier und Chips abzugeben, sondern dass Demokratie immer auch bedeutet, sich persönlich zu engagieren und beizutragen, den Staat und das Gemeinwesen lebendig und bürgernah zu halten.

Zu viele Lehrer haben als Nachfolger des geschilderten Bilderbuch-Pädagogen, der sich natürlich selbst in der Lokalpolitik engagierte und später als hoher Kultusbeamter die Lehrinhalte schülergerechter zu gestalten versuchte – hierbei versagte er angesichts der ihn umgebenden Bürokratie – seither versagt. Man kann gerade das, was mit Gemeinschaft, Staat, dem Sozialen zu tun hat, nicht glaubwürdig und überzeugend bloß per Theorie vermitteln. Das bedarf des praktisch Erfahrbaren, um für Schüler und Heranwachsende buchstäblich fassbar zu werden.

Hoffentlich konnten meine Ausführungen verdeutlichen, worin ich eine grundlegende Problematik unserer heutigen Gesellschaft und ihrer Verfasstheit sehe: wir haben einerseits innerhalb der letzten 50 bis 70 Jahre, seit Gründung der Bundesrepublik, eine Reihe falscher Traditionen abgeschafft, nie wirklich Zwischenbilanz gezogen – wie das für Wirtschaftsunternehmen jedes Jahr erfolgt – um zu erkennen, wo wir als Gesellschaft zu weit gegangen sind, falschen Vorstellungen folgten.
Traditionen einer Gesellschaft werden vermittelt, mittels mündlicher und schriftlicher Übermittlung, von einer auf die folgenden Generationen. Ab 1968 wurde zwar völlig angemessen viel Tradiertes über Bord geworfen, „der Muff unter den Talaren“ wurde entsorgt, neue Lehrinhalte hielten Einzug in Schule, Universität und Forschung. Manch alter Zopf wurde zu Recht abgeschnitten, doch mittlerweile frage ich mich, ob nicht an manchen Stellen zu viel, zu unkritisch entsorgt und ersetzt wurde. Nicht Alles, was alt oder traditionell ist, ist deshalb schlechter als Neues oder Anderes.

Wenn ich vergleiche, wo ein Großteil heutiger Schüler und Studenten steht, wo große Teile der Gesellschaft stehen – einer Gesellschaft, die u.a. deshalb in Auflösung begriffen ist, weil wir versäumt haben, genug Traditionen und Bewährtes zu bewahren – dann bin ich überzeugt, dass Manches zu Unrecht beseitigt und ersetzt wurde. Ich kann nichts Negatives daran finden, mehr für ein gesellschaftliches Miteinander zu tun, auch und gerade im Unterricht. Das Formale, in Form der Noten und Abschlüsse, hat ein zu großes Gewicht bekommen in unserer Gesellschaft. Dies fördert Egoismus, gesellschaftliche Spaltung und gefährdet somit unsere Demokratie. Wir legen mittlerweile viel zu wenig Wert auf das Miteinander, das Verbindende, das Soziale, als Kitt unserer Gesellschaft.

Statt dass wohlhabende Eltern ihren Kindern Lektionen der Anteilnahme, des Mitempfindens für wirtschaftlich Schwächere vermitteln – oder durch die geeignete Schule vermitteln lassen – sie ihren Kindern als Beispiel für sozialen Ausgleich und Engagement voran gehen, vermitteln sie ihnen soziale Kälte, sozialen Egoismus und gesellschaftliche Kälte. Auf Dauer wird eine derart gespaltene Gesellschaft, wie sie sich aktuell in Deutschland und vielen anderen westlichen Gesellschaften zeigt, nicht funktionieren. Gesellschaften, die auf soziale Unterschiede und Eigennutz einzelner Gesellschaftsschichten setzen, können dauerhaft nicht als Demokratie funktionieren. Sie entwickeln sich zu Autokratien oder Diktaturen. Meiner Einschätzung nach stehen wir in Deutschland und zahlreichen EU Ländern an einer entscheidenden Weggabelung.

Demokratie, Europa, Freiheit wird nur weiterhin funktionieren, wenn es gelingt, die sozialen Spannungen zu verkleinern, die Gesellschaft sozial anzunähern, statt sie, wie während der letzten 70 Jahre geschehen, ungebremst auseinander driften zu lassen. Wohin eine geteilte Gesellschaft führt, können wir seit Jahren an den USA sehen. Ein demokratiefeindlicher, autokratischer Präsident reicht aus, um die gesellschaftliche Spaltung zu zementieren und über kurz oder lang einen Bürgerkrieg hervorzurufen, an dessen Ende vermutlich die Bataillone der Reichen und ihnen gefügigen Mächtigen die Oberhand gewinnen. Eine vergleichbare Entwicklung hat in Deutschland bereits eingesetzt. Dem gegenzusteuern, ist es erforderlich, den Kanon unserer Traditionen zu überdenken, diese neu festzulegen, und z.B. durch deutlich geänderte Lehrinhalte an Schulen und Universitäten in der Gesellschaft zu verankern. Schulpolitik wie Universitäten müssen aus der Geiselhaft der Parteien befreit werden, die die Inhalte dessen, was Schüler lernen, welche Traditionen ihnen vermittelt werden, über ihre Bildungspolitiker und Minister festlegen. In Fragen gesellschaftlich-politischer Werte und Traditionen brauchen wir jedoch einen gesamtstaatlichen, gesamt gesellschaftlichen Konsens und eine darauf aufbauende gesamtstaatliche Bildungspolitik. Das 16 fache Chaos, das zudem nach Regierungswechseln, parteipolitisch motiviert, alle paar Jahre wechselt, hat sich als kontraproduktiv und zerstörerisch erwiesen.

Ich bin mir bewusst, dass es geradezu illusionär ist, an Parteipolitiker zu appellieren, auf einen Teil ihrer Macht und ihres Einflusses zu Gunsten des Gemeinwohls und dem Erhalt der Demokratie zu verzichten. Ich bin jedoch absolut sicher, dass, wenn wir nicht einen dramatischen Wechsel in unserer Bildungspolitik hinlegen, Abstand nehmen von der bisherigen Noten-Fixiertheit, die Lehrpläne von überflüssigem, überfrachtetem Fachwissen zugunsten sozialer, gesellschaftlich relevanter Inhalte befreien – dies Deutschlandweit und nicht in 16 unterschiedlichen Versionen – wir die Auflösung des demokratisch verfassten Staates Bundesrepublik binnen einer Generation (d.h. binnen 25 Jahren) erleben.

Titelbild: Frontalunterrich by Oliver Tacke CC0 1.0 via FlickR

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