Kommentar von Jürgen Klute

Am 15./16. März 2018 fand in Paris das „Permanent Peoples Tribunal on Turkey and Kurds“ statt. Das Tribunal steht in der Tradition des Russel-Tribunals, dass erstmals 1966 tagte und nach rechtsstaatlichen Prinzipien Menschenrechtsverletzungen der us-amerikanischen Armee in Vietnam dokumentierte und öffentlich zur Diskussion stellte.

Das jetzige Tribunal in Paris geht der Frage nach, inwieweit die Türkei im Konflikt mit dem kurdischen Bevölkerungsteil Verbrechen gegen die Menschlichkeit und inwieweit die türkische Armee vor allem in den Jahren 2015 bis 2017 Kriegsverbrechen begangen hat.

Nachdem die türkische Regierung ab 2009 zunächst auf eine politische Lösung dieses Konfliktes mit den Kurden zuzusteuern und ein Frieden in erreichbarer Nähe zu sein schien, wurde dieser Friedensprozess im Sommer 2015 seitens des türkischen Staates jäh beendet. Vor diesem Hintergrund ist es sinnvoll, dieses Tribunal durchzuführen.

So sehr es richtig ist, den türkischen Staat öffentlich für sein Handeln gegenüber Minderheiten und Regierungskritiker*innen, das oft und seit langem im Widerspruch zum internationalen Völkerrecht steht und von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit geprägt ist, zur Verantwortung zu ziehen, so nötig ist es aber auch, sich den politischen Kontext genauer anzuschauen, in dem diese Verbrechen möglich waren und sind.

So ist die Gewalteskalation, die ab Sommer 2015 in der Türkei erneut und in ungewöhnlich brutaler Weise einsetze, kaum zu erklären ohne eine Reihung von politischen Fehlern, die von der EU, vor allem aber von der Bundesregierung in Berlin zu verantworten sind. Zwar kann niemand sagen, in welch anderer Weise die Geschichte verlaufen wäre, wären in der Vergangenheit andere Entscheidungen getroffen worden. Trotzdem ist die Frage zu stellen, ob diese Eskalation nicht hätte vermieden werden können.

Die so genannte Flüchtlingskrise fiel nicht vom Himmel

Bereits 2012 kündigte sich die Entwicklung an. Im Oktober 2012 hatte die Türkei rund 100.000 syrische Flüchtlinge aufgenommen. Der damalige türkische Europaminister Egemen Bagis forderte angesichts der zunehmenden Flüchtlingszahl die EU auf, einen Teil der Flüchtlinge aus der Türkei aufzunehmen, wie in dem Artikel „Türkei will syrische Flüchtlinge auf Europa verteilen“ in Die Zeit vom 15.10.2012 nachzulesen ist. Die Zahl der Flüchtlinge stieg dann sehr schnell an. Im Frühjahr 2017 waren es rund 3 Millionen, wie dem Beitragt „Flüchtlinge in der Türkei: Geduldet, aber nicht unterstützt“ des Deutschlandfunks vom 11.05.2017 zu entnehmen ist. In den Jahren nach 2012 forderte die Türkei wiederholt von der EU auch finanzielle Unterstützung für die Versorgung der Flüchtling ein. Weder hat die EU Flüchtlinge von der Türkei aufgenommen noch gab es finanzielle Unterstützungen seitens der EU.

Zur Erinnerung: 2012 war die europäische Krise auf ihrem Höhepunkt und die Bundesregierung war – mit Unterstützung Großbritanniens, der Niederlande, Österreichs und Finnlands – damit beschäftig, ihr vermeintliches Allheilmittel für die Krise EU weit durchzusetzen, nämlich eine rigorose Sparpolitik. Weder eine Aufnahme von Flüchtlingen noch zusätzliche finanzielle Mittel für die Türkei passten in das rigorose europäische Sparprogramm à la Berlin.

Die nächste Eskalationsstufe in Folge der europaweiten Sparpolitik ergab sich im Herbst 2014. Damals wurden die finanziellen Mittel des Welternährungsprogramms dramatisch knapper. Zwar hatten die europäischen Länder zu dem Zeitpunkt ihre Zahlungen noch nicht gekürzt, aber die Zahl der Flüchtlinge, die aus diesen Mitteln zu versorgen waren, war dramatisch angestiegen. In einem Bericht der Süddeutschen Zeitung vom 14.10.2014 („Flüchtlinge in Nahost müssen hungern“) hieß es, dass die Unterstützung für Flüchtlinge in Lagern in Syrien um 40 % gesenkt wurde.

Im Folgejahr, also in 2015, verschärften die EU-Mitgliedsländer aufgrund ihrer Sparpolitik die ehe schon dramatische Versorgungslage von Flüchtlingen in Syrien weiter durch massive Kürzungen ihrer Zahlungen an das Welternährungsprogramm. „EU-Staaten hatten 2015 fast durchweg Hilfen für syrische Flüchtlinge gekürzt“ berichtete das Nachrichtenportal „Telepolis“ am 25.09.2015. Deutschland reduzierte  seine Zahlungen in 2015 von 301 Millionen Euro auf 143 Millionen Euro. Etliche Osteuropäische Länder hatten ihre Zahlungen ganz eingestellt.

Wenn Politik durch einen Sparplan ersetzt wird …

Diese Entwicklung führte im Sommer 2015 dazu, dass die Zahl der nach Europa drängenden Flüchtlinge schlagartig anstieg. Sie belegt, dass die heute von Politikern oft gestellte Forderung durchaus richtig ist, dass Flüchtlinge vor Ort unterstützt werden sollten. Solange das geschah, sind die meisten Flüchtlinge aus Syrien in der Region geblieben. Scheinheilig ist diese Argumentation aber dennoch. Denn genau die Politiker, die heute eine Versorgung vor Ort propagieren, haben 2015 eben einer ortsnahen Versorgung von Flüchtlingen, die jahrelang existierte und funktionierte, die finanzielle Grundlage entzogen – im Namen der alles dominierenden Sparpolitik innerhalb der EU.

Anfang 2015 wäre in Deutschland die AfD nach ihrer Spaltung fast wieder in Bedeutungslosigkeit verschwunden. Die zunehmende Zahl der nach Europa kommen Flüchtlinge hat der extremen Rechten in Deutschland neuen Aufwind verschafft – und das nicht nur in Deutschland. Um dem etwas entgegenzusetzen hat Bundeskanzlerin Angela Merkel dann im Alleingang mit Erdogan den so genannten Flüchtlingsdeal ausgehandelt.

Dieser Deal wurde ausgehandelt in einer Situation, in der sowohl Merkel als auch die EU unter innenpolitischem Handlungsdruck standen, um rechten Populisten das Wasser abzugraben. Sie war gegenüber Erdogan in der deutlich schwächeren Verhandlungsposition, die Erdogan offenbar hemmungslos ausgenutzt hat.

Der Deal beinhaltete, dass die Türkei für Flüchtlinge die Grenzen Richtung EU schließt und die Türkei dafür finanzielle Unterstützung seitens der EU bekommt. Offenbar hat Erdogan der deutschen Bundeskanzlerin aber ein weiteres Zugeständnis abgerungen: Das Schweigen zu Erdogans Kurden-Politik, zum Krieg gegen die kurdische Bevölkerung in der Türkei und – wie sich aktuell zeigt – in Nordsyrien. Mit ihrer „Politik auf Sicht“ und ihren politischen Alleingängen hat Merkel die Bundesrepublik wie auch die EU als ganzes in eine Situation der Erpressbarkeit manövriert. Kritik seitens EU kann Erdogan heute leicht mit der Ankündigung einer Grenzöffnung für Flüchtlinge im Keim ersticken. Und er nutzt diese politisch Schwäche, in die Merkel die EU manövriert hat. Was insofern zu verstehen ist, da die Türkei trotz wiederholter Anläufe seit 2012 keine Unterstützung von der EU erhalten hat.

2012 hätte die EU durchaus andere Optionen gehabt. Eine frühzeitige Einigung mit der Türkei über die Aufnahme eines Teils der Flüchtlinge und über zusätzliche finanzielle Unterstützung für die von der Türkei aufgenommen Flüchtlinge hätte die Türkei entlastet und gleichzeitig der EU einen Hebel in die Hand gegeben, um den damals bereits fortgeschrittenen Friedensprozess zwischen dem türkischen Staat und den Kurden zu forcieren. Denn die zuvor skizzierten Vereinbarungen hätten durchaus an eine Fortsetzung des Friedensprozesses geknüpft werden können. Zweitens hätten spätestens ab 2014 die Mittel der EU bzw. der EU-Mitgliedsstaaten für das Welternährungsprogramm aufgestockte werden müssen statt sie zu kürzen. Auch das hätte zur Entlastung der Türkei beigetragen. Auf diese Weise hätte die EU die heutige Situation der Erpressbarkeit durch Erdogan mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit vermieden und hätte das Heft des Handelns in der Hand behalten.

In diesem Sinne tragen die EU und insbesondere die auf Sparpolitik als wichtigstem Ziel fixierte Bundesregierung einen erheblichen Anteil an der Verantwortung für die Kriegsverbrechen des türkischen Staates gegenüber den Kurden seit 2015.

Letzte Handlungsoptionen

Um dem Unwesen Erdogans einen Riegel vorzuschieben bleiben der EU allerdings immer noch Handlungsmöglichkeiten. Der Europäische Rat könnte sich auf eine sofortige Einstellung aller Waffen- und Munitionslieferungen an die Türkei verständigen. Zweitens könnten alle noch laufenden EU-Finanzierungen an die Türkei ausgesetzt werden bis die Friedensverhandlungen mit der kurdischen Seite wieder aufgenommen werden und alle kurdischen Politiker*innen, die derzeit inhaftiert sind, wieder auf freiem Fuß sind. Drittens könnte der Europäische Rat die PKK unverzüglich von der EU-Terrorliste streichen und den Konflikt zwischen dem türkischen Staat und den Kurden als innerstaatlichen bewaffneten Konflikt anerkennen. Das wäre einerseits eine Anerkennung des enormen kurdischen Beitrag im Kampf gegen den IS und zum anderen würde auf diese Weise der Druck auf die türkische Regierung erhöht, auf den Weg einer politischen Konfliktlösung zurückzukehren.

Im Blick auf die EU wäre zudem mittelfristig eine Verlagerung aller Kompetenzen in der Außenpolitik einschließlich der Zahlungen an den Welternährungsfond und der Entwicklungshilfe sowie in der Flüchtlingspolitik auf die EU-Ebene sinnvoll, um politische Fehlentscheidungen, wie sie seit 2012 erfolgten, zukünftig zu vermeiden. Dazu bedarf es allerdings auch einer Neuverteilung der Kompetenzen unter den EU-Institutionen.

Veröffentlichung der Entscheidung des PPT am 24. Mai 2018 im Europäischen Parlament in Brüssel

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