Bei den letzten Wahlen, unter anderem in Belgien, Frankreich und Deutschland, hat die (radikale) Rechte viele Herzen erobert, aber auch die Linke sorgte für Spektakel. Nicht die sozialdemokratische Linke, die sich längst mit dem neoliberalen Status quo abgefunden hat. Ilja Leonard Pfeijffer meint „eine linke Politik, die den Mut hat, sich aus Prinzip und konsequent gegen das neoliberale Dogma des freien Marktes zu wenden“ ist überfällig.

Essay von Ilja Leonard Pfeijffer | 19.10.2024

Am Freitag, den 11. September 2020, war ich als Schriftsteller zu Gast auf der Festa de l’Unità nazionale in Modena. Obwohl ich als unwissender Niederländer dem Charme der bancarelle, der Verkaufsstände, nicht erlegen bin, war ich mir der reichen und ehrwürdigen Tradition des alljährlichen Festes des stolzen roten Italiens bewusst, bei dem die Sozialisten mit Gnocchi fritti, Focaccette und Polenta dem staunenden Volk demonstrierten, dass das Paradies im Diesseits realisierbar ist.

Während in einem Zelt in einer abgelegenen Ecke des Parteigeländes auch ein paar Debatten zur Erbauung der Arbeiter organisiert wurden, versammelten sich die linken Wähler der Belpaese in großer Zahl in Reihen vor dem Catering und konnten sich mit einem eifrigen Blick auf die Speisekarte davon überzeugen, dass die Menschheit einer roten Morgendämmerung und einer strahlenden Zukunft entgegengeht.

Ich hatte mich daher sehr auf den Besuch dieser Veranstaltung gefreut. Doch es kam anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Der Festplatz von Ponte Alto, der sich über viele Hektar erstreckte, war fast menschenleer. Es gab mehr Fahnen mit dem Logo des Partito Democratico (PD) als Menschen. Freiwillige hingen gelangweilt und ziellos am Informationsschalter. Sie trugen Westen, um sich von den gemeinen Leuten zu unterscheiden, aber diese Westen waren überflüssig, da die Tatsache, dass sie anwesend waren, sie mehr als ausreichend von den gemeinen Menschen unterschied.

Irritiert ging ich an den weitläufigen Pavillons vorbei, in denen Hunderte von leeren Plastikstühlen und -tischen einladend aufgestellt waren, und wo hier und da in der ehrfurchtgebietenden Leere ein einzelner älterer Mensch allein saß und von einem Plastikteller aß. An den Fahrgeschäften gab es kein Gejohle von Kindern. Es gab keine Kinder. Ein alter Mann mit einem Stock ging an den Autoscootern vorbei, die ziellos geparkt waren wie Ausstellungsstücke in einem bankrotten Autohaus. Das jüngste Gesicht, das ich sah, war das des damals 55-jährigen Parteivorsitzenden Nicola Zingaretti auf den Plakaten, das vor Zuversicht in die Zukunft strotzte und schräg nach oben zu einem Ort blickte, an dem die Lösungen für alle Probleme Italiens für ihn sichtbar waren.

Was ich am Ponte Alto in Modena sah, war der Tod der Linken. Der ummauerte Festplatz weit außerhalb der bewohnten Welt war kein Epizentrum der Macht oder der politischen Erneuerung, sondern ein Reservat, in dem die wenigen verbliebenen Mitglieder eines einst mächtigen Stammes ihre alten Rituale ausüben konnten, ohne die moderne Welt damit zu stören. Es war eine Demonstration der Nostalgie. Hier wurde keine Zukunft mehr gestaltet, hier wurde nur noch die Nostalgie für die Tage zelebriert, als die Linke noch glauben konnte, die Zukunft in den Händen zu halten.

Zwei Jahre und 11 Tage nach meinem Besuch in Modena wurde Giorgia Meloni Italiens erste faschistische Premierministerin der Nachkriegszeit. Inzwischen hat die PD eine junge, dynamische Parteivorsitzende, Elly Schlein, aber die Anhängerschaft der Partei ist seitdem noch um weitere vier Jahre gealtert.

Linke Privilegien

Wenn wir auf die Nostalgie der Linken setzen, um die Nostalgie der Rechten zu bekämpfen, werden wir es schwer haben. Die rechte Nostalgie ist viel verlockender als die linke, denn die rechte Nostalgie ist revolutionär. Sie will Veränderung. Sie will die Uhren gewaltsam in eine märchenhafte Vergangenheit zurückdrehen, die es vielleicht nie wirklich gegeben hat. Die linke Nostalgie, die die Antwort darauf sein will, ist dagegen ängstlich und besitzstandswahrend. Sie ist blind, denn sie verschließt die Augen vor jeder Art von Veränderung und klammert sich krampfhaft an die einst vielleicht etwas weniger merkwürdige Vorstellung, dass alle linken Privilegien als selbstverständlich angesehen werden sollten. Und sie ist vor allem muffig und unsexy wie die abgetragene Jacke Ihres Großvaters.

Während rechtsextreme Parteien den öffentlichen Diskurs mit billigem Groll und oberflächlichen Plädoyers für die Rückabwicklung der Globalisierung an sich reißen, hüllen sich die ehemaligen Revolutionäre der Linken stotternd in den fleckigen königlichen Mantel ihrer selbstverständlichen Richtigkeit. Was der Linken fehlt, ist eine Vision. Ihre vermeintliche moralische Überlegenheit reicht ihnen aus. Was der Linken fehlt, sind Ideale. Obwohl die Sozialisten mit ihrer roten Morgendämmerung und ihrem Streben nach dem sozialistischen Heilsstaat die Ideale quasi erfunden haben, sind sie auf ihrem langen Marsch durch die Institutionen irgendwann zu Regierenden verblasst, die kein anderes Ideal kennen als den Erhalt ihrer Posten.

Die Linke hat ihre Ideale in den 1990er Jahren abgeschafft, als die neue Rechte noch nicht aufgetaucht war, als noch alles für sich selbst zu sprechen schien und als der sozialistische Heilsstaat zumindest für die Regierenden Wirklichkeit geworden zu sein schien. Sozialistische Führungspersönlichkeiten wie Tony Blair und Wim Kok sprachen vom Dritten Weg. Die ideologischen Federn mussten abgeschüttelt werden, um sozialistische Minister nicht zu sehr bei der Ausübung ihrer Macht zu behindern. Der Kapitalismus wurde als Notwendigkeit akzeptiert, und die Existenzberechtigung der Linken gründet sich seitdem nur noch auf ihrer Geschichte.

Und wir brauchen die Linke. Es gibt viel zu kämpfen, vielleicht mehr als je zuvor. Wir beginnen zu verstehen, dass der Kapitalismus ein von Natur aus ungerechtes und unmenschliches System ist. Es ist ein Spiel, bei dem immer weniger Spieler immer mehr gewinnen, auf Kosten von immer mehr Verlierern. Die Ungleichheit nimmt immer beschämendere Ausmaße an. Die Prämisse einer unbegrenzt wachsenden Wirtschaft ist in der Theorie unhaltbar und in der Praxis für die Zerstörung unseres Planeten verantwortlich. Flüchtlinge müssen untergebracht und der demokratische Rechtsstaat verteidigt werden. Aber die traditionellen linken Parteien schaffen es nicht, all diese drängenden Themen in einer kohärenten und eingängigen Erzählung zu vermitteln.

Rechtsextreme Agenda

Frans Timmermans, der die Vizepräsidentschaft der Europäischen Kommission aufgab, um nach Den Haag zurückzukehren, die Wahlen zu gewinnen und als Parteivorsitzender der neuen linken Fusionspartei aus PvdA und GroenLinks Ministerpräsident der Niederlande zu werden, und der nun die Opposition gegen die rechtsextreme Schoof-Regierung anführt, die de facto von Geert Wilders geführt wird, ist ein inspirierter, prinzipientreuer und rechtschaffener Mann von unverfälschter linker Überzeugung, daran gibt es keinen Zweifel.

Aber jetzt, wo die Regierung Schoof unter dem Druck von Wilders eine Asylkrise ausrufen und sich auf ein staatliches Notstandsgesetz berufen will, um das Parlament auszuschalten, hören wir ihn dafür plädieren, dass ein Notfallgesetz, das von der Zweiten und der Ersten Kammer vorrangig behandelt würde, ein ebenso effizientes Instrument zur Eindämmung der Asylmigration wäre. Er lässt keine Gelegenheit aus, um zu betonen, dass auch er die Asylbewerber für ein echtes Problem hält, weil es seiner Meinung nach wahltaktisch gesehen Selbstmord wäre, dieses Problem zu leugnen, dass aber Lösungen für dieses Problem im Rahmen des demokratischen Rechtsstaates gesucht werden müssen.

Dies ist ein Paradebeispiel für die Mechanismen, die das Overton-Fenster(*) nach rechts verschieben. In dem Versuch, den Schaden für den demokratischen Rechtsstaat zu begrenzen, versucht er, einen rechtsextremen politischen Vorschlag abzuschwächen, und macht sich damit die rechtsextreme Agenda zu eigen.

Es ist ein Beispiel von vielen, so wie meine beunruhigende Erfahrung in Modena eine eher willkürliche Metapher für die grundlegende politische Unfähigkeit ist, die die traditionellen linken Bewegungen in ganz Europa kennzeichnet. Um zu verstehen, warum die Wähler, vor allem diejenigen, die bis vor kurzem noch zur traditionellen Wählerschaft der Sozialisten gehörten, zunehmend den Verlockungen der extremen Rechten erliegen, müssen wir begreifen, dass sie Recht haben. Sie haben mit ihrer Diagnose Recht, wie ich meine. Der neoliberale Status quo ist unhaltbar. Nur wählen sie das falsche Gegenmittel.

Antikapitalismus

Verbissener, illiberaler Nationalismus und Sündenbockpolitik sind eine falsche und kontraproduktive Scheinantwort auf berechtigte Unzufriedenheit und zu Recht erkannte Probleme. Diese Wähler wählen nicht mehr die traditionellen sozialdemokratischen Parteien, weil sie die Sozialdemokratie, die es sich in der politischen Mitte bequem gemacht hat, als Vertreterin der alten Politik, als Stütze des Status quo und damit als Teil des Problems betrachten.

Bei mehreren Wahlen, die in jüngster Zeit in Europa stattgefunden haben, wurden die vorhergesagten Zuwächse der extremen Rechten durch ein unerwartet gutes Ergebnis der linken Parteien gekontert, aber dort, wo dies der Fall war, zum Beispiel in Frankreich, bei den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen und bei den Kommunalwahlen in Antwerpen am vergangenen Wochenende waren die linken Parteien, die unerwartet gut abgeschnitten haben, neue linke Parteien, die von ihren Gegnern gern als linksradikal abgetan werden und ihre Abneigung gegen den kapitalistischen Status quo, die traditionelle Politik und die klassische Sozialdemokratie mit der extremen Rechten teilen. Das zeigt, dass es ein großes Wählerpotenzial für eine linke Politik gibt, die sich auf ihre marxistischen Wurzeln besinnt und den Mut hat, sich dem neoliberalen Dogma des freien Marktes grundsätzlich und konsequent entgegenzustellen.

Der Kapitalismus ist das Problem. Die Wut der rechtsextremen Wählerschaft ist berechtigt, nur sind die von ihnen erlebte wirtschaftliche Ungleichheit und Ungerechtigkeit, die Wohnungsnot, das marode Gesundheitssystem, die Verschlechterung des Bildungswesens und die Klimakrise nicht die Schuld der Asylbewerber, wie sie sich haben einreden lassen, sondern die Schuld eines falschen Vertrauens in die Segnungen des freien Marktes und eines Raubtierkapitalismus, der nicht in die Schranken gewiesen wird.

Der Aufstieg der Rechtsextremen lässt sich nicht dadurch bekämpfen, dass man sich krampfhaft an die Erfolge der so genannten Besonnenheit der politischen Mitte klammert und schon gar nicht dadurch, dass man aus wahltaktischen Gründen immer mehr Punkte der rechtsextremen Agenda übernimmt. Die einzig richtige Antwort ist eine mutige, antikapitalistische Vision, die Kurs nimmt auf die Nivellierung der wirtschaftlichen Ungleichheit, auch auf globaler Ebene, und auf ein durchdachtes Degrowth und eine gezielte Reduzierung von Produktion und Konsum. Linke sind unglaubwürdig, solange sie innerhalb des liberalen Paradigmas agieren wollen.

Nicht die Armut ist die Hauptquelle der Unzufriedenheit, sondern ärmer zu sein als andere. Es ist nicht das Wirtschaftswachstum, das eine Gesellschaft stabil und glücklich macht, sondern die Gerechtigkeit.

Anmerkung

(*) Als Overton-Fenster bezeichnet man den Rahmen an Ideen, die im öffentlichen Diskurs bzw. im aktuellen Klima öffentlicher Meinungen noch soweit als politisch akzeptabel angesehen werden, dass sie nicht als zu extrem wahrgenommen werden.

Dieser Essay von Ilja Leonard Pfeijffer erschien ursprünglich am 18. Oktober 2024 unter dem Titel „Wat ik zag bij Ponte Alto in Modena, was de dood van links“ in der belgischen Zeitung „De Morgen“. Übersetzung ins Deutsche: Jürgen Klute

Titelbild:  Fête de l’humanité 16.09.2017; Parti socialiste CC BY-NC-ND 2.0 DEED via FlickR

Auch ein Blog verursacht Ausgaben ...

… Wenn Ihnen / Euch Europa.blog gefällt, dann können Sie / könnt Ihr uns gerne auch finanziell unterstützen. Denn auch der Betrieb eines Blogs ist mit Kosten verbunden für Recherchen, Übersetzungen, technische Ausrüstung, etc. Eine einfache Möglichkeit uns mit einem kleinen einmaligen Betrag zu unterstützen gibt es hier:

Ilja Leonard Pfeijffer

Foto: Stephan Vanfleteren

714