Wenn Worte die Realität umschreiben: Donald Trump präsentierte sich bei seiner Amtseinführung als Befreier, während seine Agenda einen Angriff auf die Rechtsstaatlichkeit verkörpert, schreibt Ilja Leonard Pfeijffer.

Essay von Ilja Leonard Pfeijffer | 29. Januar 2025

Als ich vor einem Jahr und einem Monat mit dieser nachdenklichen Chronik begann, in der ich dokumentieren und analysieren wollte, wie Demokratie und Rechtsstaat in Europa und anderswo ihren Glanz verlieren und ihres Glanzes beraubt werden, wie die traditionelle demokratische Rechtsordnung unter dem Druck einzelner Politiker, politischer Strömungen und gesellschaftlicher Stimmungen, die alte Errungenschaften als Hindernisse sehen und Selbstverständlichkeiten in Frage stellen, einen Wandel erfährt, der in einigen Ländern schneller greift als in anderen, der aber keine der demokratischen Nationen unberührt lässt und allmählich oder schockartig von demokratisch legitimierten Regimen mit autokratischen Bestrebungen abgelöst wird, in denen das Kräfteverhältnis immer mehr zugunsten faschistischer Ideologien kippt, und als ich mich in der ängstlichen Erwartung an die Erfüllung dieser selbst gestellten Aufgabe machte, dass ich mit meinen Lesern aus diesen Gründen Zeuge von Entwicklungen sein würde, die die Geschichte unseres Kontinents und der westlichen Welt tiefgreifend beeinflussen würden, wählte ich die Macht der Worte als meinen Ausgangspunkt.

Ich begann mit Worten, die ein Anfang sein wollten, nämlich mit der Neujahrsansprache des italienischen Staatspräsidenten Sergio Mattarella, in der er das vergangene Jahr mit dem Aufruf einleitete, sich einzumischen. Seitdem sind dreizehn turbulente Monate vergangen, und obwohl Präsident Mattarella immer noch im Amt ist und sein Engagement für die Demokratie und die Verteidigung des demokratischen Rechtsstaats ungebrochen ist, wirkt er noch älter als er tatsächlich geworden ist. Seine unerschütterliche Rechtsstaatlichkeit und konstitutionelle Standhaftigkeit machen ihn zu einem Mann der Vergangenheit, zu einem Politiker vergangener Tage, als die Achtung der demokratischen Institutionen noch nicht als parteipolitische Haltung gegen den Willen des Volkes betrachtet wurde.

Kriminelle

Schon jetzt muss ich bei Worten verweilen, die ein Anfang sein wollen. Am vergangenen Montag, dem 20. Januar 2025, wurde Donald Trump im Kapitol in Washington DC als siebenundvierzigster Präsident der Vereinigten Staaten vereidigt. Kurz nach 12.00 Uhr Ortszeit leitete er seine Amtszeit mit einer Rede ein, die mit dem Versprechen begann, dass genau in diesem Augenblick das „Goldene Zeitalter“ Amerikas beginne.

Trumps komplette Antrittsrede, die etwa eine halbe Stunde dauerte, war ein faszinierendes und lehrreiches Beispiel für die Umdeutung von Werten und Konzepten, die kennzeichnend ist für die politischen Bewegungen, die in der gesamten westlichen Welt an Schwung gewinnen. Gerade weil der zeremonielle Rahmen seiner Rede Trump daran hinderte, zu improvisieren, zu fantasieren und sich zu ärgern, wie er es normalerweise gerne tut, und er gezwungen war, sich als frisch vereidigter Präsident in institutionellen Begriffen auszudrücken, was er zwar mit sichtlichem Widerwillen tat, aber dennoch tat, war seine Rede erschreckend illustrativ für die Art und Weise, wie sich verfassungsfeindliche Politik im Königsmantel der Verfassung tarnt und wie sich antidemokratische Ambitionen als Manifestation des demokratischen Willens des souveränen Volkes darstellen.

Die unbestreitbare Tatsache, dass Trump der erste verurteilte Schwerverbrecher ist, der als Präsident der Vereinigten Staaten vereidigt wurde, und dass gegen ihn darüber hinaus gerichtliche Ermittlungen wegen des Verdachts auf noch schwerwiegendere Straftaten, wie z.B. die Beteiligung an dem verdeckten Staatsstreich vom 6. Januar 2021, eingeleitet wurden, wurde gleich zu Beginn der Rede aufgegriffen. Trump versprach eine sofortige „Bewaffnung“ der Staatsanwaltschaft und der Regierung. Seine Strafverfolgung und die Verfolgung ungenannter weiterer Personen durch die unabhängige Justiz bezeichnete er als parteipolitisch motivierten Missbrauch des Rechts.

Darauf kam er später in seiner Rede noch einmal zurück: „Nie wieder wird die immense Macht des Staates dazu benutzt werden, politische Gegner zu verfolgen – etwas, worüber ich mitreden kann.“ Wenn die unabhängige Justiz Trump strafrechtlich verfolgt, beweist das nach Trumps Ansicht, dass die Justiz nicht unabhängig ist und von seinen politischen Gegnern missbraucht wird. Damit die Justiz ihre wahre Unabhängigkeit wiedererlangt, sollte er vor Strafverfolgung geschützt werden. „Unter meiner Führung“, sagte er, “werden wir eine faire, unparteiische Justiz in Übereinstimmung mit den verfassungsmäßigen Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit wiederherstellen.“

Reliquien

In ähnlicher Weise wurde der Kampf gegen Desinformation und Manipulation als Einschränkung der Meinungsfreiheit bezeichnet. „Nach jahrelangen illegalen und verfassungswidrigen Versuchen auf Bundesebene, die freie Meinungsäußerung einzuschränken“, sagte er, “werde ich auch eine Durchführungsverordnung unterzeichnen, um jegliche staatliche Zensur sofort zu beenden und die Redefreiheit in Amerika wiederherzustellen.“ Der Kampf gegen Lügen ist Zensur, während der Angriff auf die Wahrheit durch die Wiederherstellung des Rechts auf die Verbreitung von Fake News als Wiederherstellung der Redefreiheit dargestellt wird.

Die Dekrete, die er in seiner Rede ankündigte, die er auch gleich im Anschluss öffentlich mit einem dicken Sharpie-Stift unterschrieb und danach die benutzten Sharpie-Stifte wie Sport-Reliquien in die Öffentlichkeit warf, sind nicht gerade der Inbegriff von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, weder inhaltlich noch verfahrensmäßig. Manche sind verfassungswidrig oder verstoßen gegen internationale Verträge, und der Sinn von Dekreten ist, dass die Volksvertretung bei ihnen kein Mitspracherecht hat. In seiner Rede betonte Trump jedoch, dass er demokratisch legitimiert sei, solche undemokratischen Maßnahmen zu ergreifen. „Das amerikanische Volk hat gesprochen“, sagte er. „Unser Wahlsieg beweist, dass die gesamte Nation hinter unserer Agenda steht, mit dramatisch wachsender Unterstützung in praktisch allen Teilen unserer Gesellschaft.“ Dass Trump das Land per undemokratischem Dekret regiert, ist demokratisch, da das Volk ihm die Vollmacht erteilt hat, undemokratisch zu sein.

Die schlimmste Umkehrung, von der die gesamte Rede durchdrungen war, war die Darstellung seines Amtsantritts als Befreiung, indem er die vorherige Regierung als Besatzer darstellte. „Jahrelang hat ein radikales und korruptes Establishment unseren Bürgern Macht und Reichtum genommen, und die Säulen unserer Gesellschaft sind zerbrochen und verfallen“, sagte er. „Meine Wahl ist ein Mandat, einen schrecklichen Verrat rückgängig zu machen und den Menschen ihren Glauben, ihren Reichtum, ihre Demokratie und tatsächlich ihre Freiheit zurückzugeben. Von diesem Moment an ist Amerikas Niedergang gestoppt“, sagte er. „Für die Bürger Amerikas ist der 20. Januar 2025 der Tag der Befreiung“.

Nur Worte?

Hinter Trump standen drei der vier reichsten Männer Amerikas, Elon Musk, Jeff Bezos und Mark Zuckerberg, die zusammen ein Vermögen von 838 Milliarden Dollar besitzen, was fast dem Anderthalbfachen des Bruttosozialprodukts von Belgien entspricht. Noch bedeutender ist, dass ihr gemeinsames Vermögen in den zweieinhalb Monaten seit Trumps Wahlsieg am 5. November 2024 um 233 Milliarden Dollar gestiegen ist, was einem Zuwachs von über einer Milliarde Dollar pro Person und Tag entspricht. Sie waren Trumps Ehrengäste und tragende Säulen seiner Regierung. Ihre Anwesenheit verdeutlichte, symbolisierte und bewies, dass er in seiner zweiten Amtszeit ein oligarchisches Regime im Dienste der Interessen des Großkapitals zu formen beabsichtigt. „Meine Regierung wird sich von einem unermüdlichen Streben nach Spitzenleistungen und Erfolg leiten lassen“, sagte er. „Wir werden eine Gesellschaft schaffen, die auf Leistung basiert. Das klang fast zynisch.

Auf der anderen Seite hinter ihm saßen der scheidende Präsident Joe Biden und die scheidende Vizepräsidentin Kamala Harris sich höflich zurückhaltend, während ihre Bemühungen der letzten vier Jahre, die wirtschaftliche Ungleichheit in Amerika einzudämmen, von Trump als die Auswüchse eines diktatorischen Regimes und als Verrat am Volk dargestellt wurden, und während die Installation seines oligarchischen Regimes von und für Multimillionäre von ihm als Befreiung und Anbruch eines Goldenen Zeitalters dargestellt wurde.

Während Trumps Rede wurde die Welt Zeuge der „Umwertung aller Werte“, in der wahren Bedeutung dieses von Nietzsche entwickelten Konzepts und mit all den widerwärtigen Konnotationen, die ihm von den Agitatoren des Dritten Reichs verliehen wurden. Sie wird von Machthunger getrieben und ist eine „ Kriegserklärung an und ein Sieg über alle alten Begriffe von wahr und falsch “, wie Nietzsche in Der Antichrist schreibt. Der Aufstieg des Nationalsozialismus war, so Joseph Goebbels, „eine Umwertung aller Werte, der Umsturz einer Gedankenwelt“.

Während seiner Kampagne für die Vorwahlen der Demokraten 2008 wurde Barack Obama von seiner Gegnerin Hillary Clinton vorgeworfen, dass er zwar schöne Reden halte, diese aber nur „Worte und nichts als Worte“ seien. Obama verteidigte sich, indem er Clinton zustimmte. „Ja, es sind nur Worte“, sagte er. „Aber sag mir nicht, dass Worte keine Bedeutung haben. I had a dream [Ich hatte einen Traum] – sind das nur Worte? We hold these truths to be self evident that all men are created equal [Wir halten diese Wahrheiten für selbstverständlich, dass alle Menschen gleich geschaffen sind] – nur Worte? We have nothing to fear but fear itself [Wir haben nichts zu fürchten als die Furcht selbst] – nur Worte? Es ist wahr, dass Reden nicht alle Probleme lösen. Aber es ist auch wahr, dass es keine Rolle spielt, wie viele politische Pläne wir haben, wenn wir nicht in der Lage sind, das Land zu inspirieren“.

Die Macht der Worte machte Obama zum ersten und bisher einzigen schwarzen Präsidenten der Vereinigten Staaten, und die Macht der Worte versucht, Trumps Rückkehr ins Weiße Haus als inzwischen verurteilter Straftäter als Wiederherstellung der Gerechtigkeit, als Sieg der Demokratie und als Beginn eines neuen Goldenen Zeitalters darzustellen. Das sind nur Worte. Aber das Wort ist der Anfang von allem, wie der Evangelist Johannes sagt.

Dieser Essay von Ilja Leonard Pfeijffer erschien ursprünglich am 25. Januar 2025 unter dem Titel Tijdens Trumps redevoering was de wereld getuige van de „Umwertung aller Werte’’ in der belgischen Zeitung „De Morgen“. Übersetzung ins Deutsche: Jürgen Klute

Titelbild: Foto: Steffi Reichert CC BY-NC-ND 2.0 DEED via FlickR

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Foto: Stephan Vanfleteren

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