Ilja Leonard Pfeijffer hält Europa einen Spiegel vor. Diese Woche richtet er seinen Blick auf die Vereinigten Staaten. Er vergleicht die gegenwärtige Situation mit den Spannungen zwischen dem antiken Athen und Sparta. Eine neue Ära hat begonnen, in der die männliche Energie – wie in der Antike – die Welt regiert.

Essay von Ilja Leonard Pfeijffer | 11.02.2025

Lange bevor sie tatsächlich gegeneinander in den Krieg zogen, waren Athen und Sparta Sinnbilder gegensätzlicher Lebensstile und Ideologien. Das demokratische Athen war eine offene Gesellschaft, in der die Freiheit des Einzelnen mit dem Preis der Behäbigkeit einer deliberativen Kultur bezahlt wurde, während die spartanische Doppelmonarchie auf maximale Schlagkraft und militärische Effizienz ausgerichtet war.

Athen war eine Wiege der Kunst und der Philosophie, wo neue Ideen die Traditionen untergruben, während in Sparta die Moral und die Sittlichkeit der Vorväter mit dem Schwert verteidigt wurden.

Als ein Athener Redner und Sophist Sparta besuchte, versuchte er das Eis zu brechen, indem er in blumigen Sätzen fragte, wer von den Spartanern als der Beste und Lobenswerteste angesehen werde. „Derjenige, der euch am wenigsten gleicht“, erhielt er zur Antwort. Als er daraufhin den Spartanern vorwarf, keine Kultur zu haben, antworteten sie: „Das stimmt. Wir sind die einzigen unter den Hellenen, die nicht von eurem Gerede verdorben sind.“

In den Augen der Spartaner war Athen weich und degeneriert durch Kunst und Kultur und durch das unterminierende unverbindliche Denken und hetzerische Gerede einer degenerierten Elite.

Es ist dieser Ruf, den Perikles in seiner berühmten Rede an die Gefallenen am Ende des ersten Kriegsjahres mit dem doppelten Paradoxon zu kontern versucht, das an die Wand des ehemaligen Akropolis-Museums gemeißelt ist: „philokaloûmén te gàr met‘ euteleías kaì philosophoûmen áneu malakías“. Wir kultivieren Pracht mit Effizienz und Weisheit ohne Nachlässigkeit. Wir lieben die Schönheit, ohne die Ziellosigkeit zu idealisieren, und wir philosophieren, ohne in kraftloses Zögern und Schwäche zu verfallen.

Doch die Tatsache, dass Perikles es für nötig hielt, dies als stolze Behauptung zu benennen, zeigt, dass es keineswegs selbstverständlich war, dass die sanfte Liebe zur Kunst und zur Philosophie mit dem harten männlichen Ideal der Entschlossenheit vereinbar war.

Der Antagonismus zwischen Athen und Sparta als Symbol für fortschrittlichen und konservativen Lebensstil und Ideologie kann als Metapher für den in unseren Ländern ausgetragenen Kulturkampf gesehen werden, wobei Athen für das wache Ideal der Gleichheit und Sparta für die gute altmodische männliche Entschlossenheit steht.

Jubel im „Vooruit“

Als ich meinen historischen Roman über Alkibiades schrieb und bei dem Kapitel angelangt war, in dem ich über den Aufenthalt meines Athener Helden in Sparta berichten wollte, fiel mir auf, dass Sparta kaum zu googeln ist. Die Suchergebnisse sind verseucht mit unzähligen Links zu rechtsextremen Organisationen, die das antike Sparta als Vorbild und Inspiration ansehen. Manchmal nennen sie sich auch Spartaner.

Als ich dagegen vor dem ausverkauftem Saal im „Vooruit“ [„Vooruit“ ist ein kulturelles Zentrum in Gent; Anm. d.Ü.] sagte, Gent sei das Athen Belgiens, brach das progressive, literaturbegeisterte Publikum in Jubel aus. Als ich dasselbe Kompliment in Leuven machte, gefiel es dem dortigen Publikum ebenso gut, und dann wirkte es ebenso gut auf die versammelten progressiven Leser von Tongres, Beveren, Mechelen, Turnhout und Genk. Wir sind Athen. Die anderen sind Spartaner.

Am 5. Januar fand die 82. Verleihung der „Golden Globes“ im Beverly Hilton in Beverly Hills, Kalifornien, statt. Die Zeremonie wurde von Nikki Glaser moderiert. In ihrem Eröffnungsmonolog sagte sie, sie sei sehr aufgeregt, Gastgeberin eines so fantastischen Publikums zu sein.

„Ihr seid alle so berühmt“, sagte sie. „Ihr seid alle so talentiert und so mächtig. Ihr könnt alles tun – außer dem Land zu sagen, wen es wählen soll“. Nach dem peinlichen Kichern fügte sie hinzu: „Aber okay, beim nächsten Mal wird es besser – falls es ein nächstes Mal geben wird.“

Verspielt

In einem scharfsinnigen Meinungsartikel mit dem Titel „Beschwörungen helfen nicht mehr“ in der niederländischen Zeitung NRC vom 17. Januar zitiert Bas Heijne diesen Witz, der wie die besten Witze ebenso gut wie unangenehm war, weil er seiner Meinung nach die Wahrheit enthüllt, dass die im Beverly Hilton versammelte progressive Elite ihren Einfluss verloren hat. Sie hat sich verspielt. Sie hat verloren.

„Es schien auch so einfach“, schreibt Heijne. Schließlich stand im Vorfeld der US-Präsidentschaftswahlen die Demokratie selbst auf dem Spiel. Die amerikanischen Prominenten, so schien es, hatten noch nie die Rechten auf ihrer Seite gehabt. Man konnte so rechts und konservativ sein, man konnte das festgefahrene politische Establishment hassen, aber man musste schon blind wie ein Maulwurf sein, um zu glauben, dass das eigene Land – und die Welt – bei Donald Trump in guten Händen sei.

Aber der massenhaft geteilte Spott über seine irrsinnigen Äußerungen („Sie fressen die Hunde!“), der Skandal um sein chronisch kriminelles Verhalten, die roten Fahnen in Bezug auf seine antidemokratische Agenda – all das lief ins Leere. Nicht einmal Taylor Swift hat etwas daran geändert.

Während Trump mittlerweile tagtäglich seine Versprechen einlöst und eine unerbittlich desaströse Politik mit einer Effizienz betreibt, die er während seiner ersten Amtszeit nie an den Tag legen konnte, während sein Rasputin Elon Musk den Bundesstaat mit halsbrecherischer Geschwindigkeit demontiert und während der erste übereifrige Republikaner bereits vorgeschlagen hat, den 22. Verfassungszusatz zu ändern, um eine dritte Amtszeit des Präsidenten zu ermöglichen, ist es wohl die erstaunlichste und beunruhigendste Tatsache, dass es kaum Widerstand gibt.

In Amerika ist die ängstliche Stille eingetreten, die den Morgen nach der Revolution kennzeichnet. Ich habe es an mehreren Stellen in unterschiedlichen Ausdrücken gelesen. Die öffentliche Resignation spiegelt den langen Leidensweg von Verlierern wider, die erkennen, dass sie verloren haben. Es ist eine neue Realität eingetreten, an die man sich anpassen muss.

Ausgelöscht

Athen hat den großen Krieg gegen Sparta verloren. Auch die Dichter und Philosophen mussten mit ansehen, wie die Spartaner am 16. Tag des Monats Mounychion im Jahr des Alexias als Archonten triumphierend in den Hafen von Peiraieus einliefen, die Stadt einnahmen und die Flötenspielerinnen zum Abriss der Langen Mauern aufforderten, die jahrzehntelang das Symbol für die Unantastbarkeit der Stadt, ihre Verbindung mit der Welt und ihr demokratisches Selbstbewusstsein gewesen waren.

„Ihr seid so berühmt“, hätte ein Komiker damals zur kultivierten Elite Athens sagen können, “so talentiert und so mächtig. Es gibt nichts, was ihr nicht hinbekommt.“ Die Schreckensherrschaft der von den Spartanern eingesetzten Regierung währte nur kurz, aber lange genug, um einen Großteil der Stadt auszulöschen.

In den Vereinigten Staaten wird nicht nur die Verwaltung zu den feierlichen Klängen von „YMCA“ von The Village People niedergerissen, sondern vor allem die Ideologie der besiegten kulturellen Elite. Alles, was nach Gleichheit, Inklusion und Weltoffenheit aussieht, wird triumphierend abgeschafft, zertrümmert, zertrampelt und verbannt.

Es wurde verordnet, dass es von nun an nur noch zwei unveränderliche Geschlechter gibt. Antidiskriminierungsprogramme werden abgeschafft. Websites werden verändert oder vom Netz genommen. Und dies wird sich sicherlich nur als ein zaghafter Anfang erweisen.

Eine neue Ära ist angebrochen, in der die männliche Energie, wie sie der Feigling Zuckerberg nannte, um sich bei Trump anzubiedern, die Welt regiert wie in alten Zeiten – und die Spartaner haben gewonnen

Die Spartaner haben gesiegt, und sie machen kurzen Prozess mit der Weichheit. Eine neue Ära hat begonnen, in der die männliche Energie, wie sie der Feigling Zuckerberg nannte, um in Trumps Gunst zu kommen, die Welt regiert wie in alten Zeiten.

Es wäre naiv zu glauben, dass dieser Umbruch auf Amerika beschränkt bleibt. Als Viktor Orbán im Mai 2023 Gastgeber der rechtsextremen „Conservative Political Action Conference“ war, wurde der Konferenzort zur No-Woke-Zone erklärt. Einige europäische Politiker, die dort auftraten, sind jetzt an der Macht, und andere sind in den Umfragen auf dem Vormarsch.

Trumps Wahlsieg hat den rechtsextremen Bewegungen in Europa einen enormen moralischen Auftrieb gegeben, ganz zu schweigen von der konkreten, praktischen Unterstützung, die Musk ihnen gewährt. Dank Trump strotzen sowohl die rechtsextremen Politiker als auch ihre Wähler vor Selbstvertrauen. Überall sind Spartaner auf dem Vormarsch, und sie läuten bereits die Totenglocke für alles, was sie als weichen, degenerierten, entarteten Wahnsinn betrachten.

Der Krieg, den wir Athener verlieren, wenn wir ihn nicht schon verloren haben, ist nicht nur ein Kampf um den Erhalt der demokratischen Institutionen, die die Garanten des Rechtsstaates sind, sondern auch und vor allem ein Kulturkampf, in dem die Vergangenheit rachsüchtig darauf aus ist, alle unsere zerbrechlichen jüngsten Errungenschaften zu zerstören.

Die Emanzipation der Frau wird mit einer wiedergeborenen militanten Männlichkeit konfrontiert, das Verbot des Rassismus wird durch die weiße Überlegenheit ausgehebelt, Transgender werden abgeschafft, Ausländer werden abgeschoben, und die Solidarität mit den Schwachen muss dem natürlichen Recht des Stärkeren Platz machen.

All das geschieht unter dem stolzen Banner der Freiheit, so wie die Spartaner behaupteten, sie stünden für die Freiheit aller Hellenen ein, denn die Idee hinter der Machtergreifung der Hardliner ist, dass sie nicht länger akzeptieren, dass jemand anderes ihre Freiheit mit Spielregeln einschränkt, die bestimmen, was wünschenswert, akzeptabel oder politisch korrekt ist, ganz zu schweigen von dem ganzen Quatsch über Kohlendioxid, Stickstoff und Klima.

Grausame Anziehungskraft

Es ist dieses Versprechen der Befreiung, das die extreme Rechte für viele Wählerinnen und Wähler ungemein attraktiv macht. Wir haben lange gedacht – und viele denken immer noch -, dass der Aufstieg von Trump und seinen Kumpanen ein Unfall ist, dass ihre Wähler sie aus Unwissenheit oder Bosheit gewählt haben, und dass die Menschen, wenn sie nur besser wüssten, was sie wirklich wollen, sicher etwas anderes wollen würden.

Die Menschen wählen den Faschismus nicht aus Dummheit, sondern weil sie an das Befreiungsversprechen glauben, das der konservative Aufstand verkörpert

Es ist an der Zeit zu erkennen, dass dies ein Trugschluss ist. Die Menschen wählen den Faschismus nicht aus Dummheit, sie wählen den Faschismus, weil sie an das Befreiungsversprechen glauben, das der konservative Aufstand verkörpert.

Unser Widerstand muss beginnen, sich auf diese neue Realität zu beziehen, anstatt sich mit herablassenden Warnungen vor dem Untergang von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit aufzuhalten. Es geht darum, ob sich die Zeit der Emanzipation, der radikal verkündeten Gleichheit und des Wachseins (wokeness) als ein kurzlebiger Ausnahmezustand in der Geschichte erweisen wird.

Die Alternative, für die wir jetzt kämpfen müssen, ist, dass der wiedererwachte Glaube an das Recht des Stärkeren eine kurze Unterbrechung eines unausweichlichen Zivilisationsprozesses darstellt.

Dieser Essay von Ilja Leonard Pfeijffer erschien ursprünglich am 08. Februar 2025 unter dem Titel „Ilja Leonard Pfeijffer over de opmars der ‘Spartanen’: ‘De doodsklok luidt voor alles wat als softe, ontaarde waanzin wordt gezien’“ in der belgischen Zeitung „De Morgen“. Übersetzung ins Deutsche: Jürgen Klute

Titelbild: Tis is Sparta by Claudia C. Erdesathi CC BY-NC-ND 2.0 DEED via FlickR

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Ilja Leonard Pfeijffer

Foto: Stephan Vanfleteren

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