Die Unzufriedenheit der Wähler in Sachsen und Thüringen mit der liberalen Demokratie ist nicht die Folge der Tatsache, dass sie als Bewohner der ehemaligen DDR bis 1990 keine Demokratie kannten, schreibt Ilja Leonard Pfeijffer. Dass sie nun extreme Parteien wählen, die von Hitler oder Lenin schwärmen, liegt an ihrer Enttäuschung über die deutsche Einheit und den neoliberalen Kapitalismus. Sie halten uns einen Spiegel vor.

Essay von Ilja Leonard Pfeijffer | 8. September 2024

Es ist noch gar nicht so lange her, dass ich gefragt wurde, was meine Vorstellung einer Leseförderung sei. Wie könnte man Teenager und junge Menschen wieder zum Lesen bringen? Zum Glück hatte ich mir darüber Gedanken gemacht.

„Wir sollten das Lesen verbieten“, sagte ich, „Man wird bald sehen, wie eifrig die Jugendlichen heimlich Bücher verschlingen werden, wenn ihre Eltern, Erzieher und Lehrer mit ihrer moralischen Überlegenheit unter ständigem Hinweis auf die Gefahren der Literatur das Lesen strikt verbieten.“

Am vergangenen Sonntag, dem 1. September [2024], fanden in Deutschland die Wahlen zu den Landesregierungen von Sachsen und Thüringen statt. In beiden Bundesländern erhielt die rechtsextreme Partei Alternative für Deutschland (AfD) mehr als 30 Prozent der abgegebenen Stimmen. In Thüringen wurde die AfD damit zur mit Abstand größten Partei. In Sachsen wurde die Partei knapp hinter der CDU und deutlich vor allen anderen Parteien zweitstärkste Kraft. Als wäre dieser Schock nicht schon groß genug, gab es in beiden Bundesländern auch noch spektakuläre Zugewinne für das linksextreme Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW), eine postkommunistische Partei, die in Sachsen 11,8 Prozent und in Thüringen 15,8 Prozent der Stimmen erhielt und damit deutlich vor den Koalitionsparteien der amtierenden Bundesregierung landete.

Starke Führung

Die Extreme des politischen Spektrums sind sich in ihrer Ablehnung des Status quo einig. Beide Parteien sind extremistisch, weil sie eine Abneigung gegen den Liberalismus haben und vor allem aufgrund ihres geringen Vertrauens in die Demokratie. Beide Parteien formulieren eine nostalgische Antwort auf die durch die Globalisierung verursachten Verunsicherungen. Sie geben sich als Sprachrohr der Sehnsucht nach Ideologien des zwanzigsten Jahrhunderts mit starker Führung. Die AfD präsentiert sich als Erbe des Nationalsozialismus, während die BSW den überkommenen, zentralistisch geführten Kommunismus verherrlicht. Darüber hinaus sind sich beide Parteien in zwei konkreten Programmpunkten einig. Sie sind gegen Migration und gegen die Unterstützung der Ukraine im Krieg gegen Russland. Analysten sind sich einig, dass vor allem diese beiden Themen bei den Wählern auf viel Resonanz gestoßen sind.

In gewisser Weise wiederholen die Ergebnisse in Thüringen und Sachsen die Ergebnisse der französischen Parlamentswahlen vom 30. Juni und 7. Juli letzten Jahres, bei denen die Unzufriedenheit eines großen Teils der Wählerschaft mit dem Status quo in den erwarteten Sieg des rechtsextremen Rassemblement National mündete, der im Übrigen geringer ausfiel als befürchtet und einen unerwarteten Kontrapunkt in Form eines durchschlagenden Wahlergebnisses für das Linksbündnis Nouveau Front Populaire mit der linksradikalen Partei La France insoumise von Jean-Luc Mélenchon als dominierendem Bestandteil erhielt. Auch in Frankreich zeichneten sich beide Gewinner durch eine kritische Haltung zur Migration und zur westlichen Unterstützung für die Ukraine aus. Im Falle des Rassemblement National ist das eine Untertreibung. Aber auch Mélenchon ist so fremdenfeindlich, wie es ihm wahltaktisch nützt, und er hat seine oft explizit geäußerte Sympathie für Putins Russland erst seit dem russischen Einmarsch in der Ukraine 2022 gegen eine zweideutige, pseudopazifistische Haltung eingetauscht.

In Deutschland ist immer alles viel ernster, weil Deutschland eine schwerere Geschichte hat als andere Länder. Dies spiegelt sich sowohl in den Positionen der beiden Anti-Establishment-Parteien wider, die bei den Landtagswahlen gewonnen haben, als auch in der Art und Weise, wie dieser Sieg interpretiert wird.

Deutschlands glorreiche Vergangenheit

Fast alle europäischen Länder haben mit dem Erstarken rechtsextremer Parteien zu kämpfen, aber in Deutschland sind die Rechtsextremen extremer als anderswo. Die Landesverfassungsschutzämter von Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen sind nach mehrjähriger Beobachtung unabhängig voneinander zu dem Schluss gekommen, dass die AfD als „unzweifelhaft rechtsextrem“ einzustufen ist, Ansichten vertritt, die dem demokratischen Rechtsstaat entgegenstehen und „verfassungsfeindliche Ziele“ verfolgt. Dies könnte ein Grund sein, die AfD als politische Partei zu verbieten. Der Bundestag müsste beschließen, ein solches Verfahren einzuleiten. Sprecher der AfD reagierten auf die fundierten Feststellungen der Landesämter für Verfassungsschutz mit einem Angriff auf die Institution, die die Demokratie schützt: „Der Verfassungsschutz ist offenbar zum Schutz der Regierung verkommen“.

Das Gesicht der AfD ist Björn Höcke, der jede interne Diskussion unterdrückt und die Partei zu einem monolithischen Sockel für sich selbst gemacht hat. Rechtsextreme Parteien in ganz Europa vertreten Ansichten, die in unterschiedlichem Maße zu Vergleichen mit dem Faschismus oder Nationalsozialismus einladen. Doch während rechtsextreme Führer anderswo in Europa dazu neigen, wütend zu werden, wenn sie als Nazis oder Faschisten bezeichnet werden, werden diese Parallelen zur gewalttätigen Vergangenheit von AfD-Parteichef Höcke in Deutschland ganz bewusst herausgestellt. Er kritisiert die deutsche Schuld und die schuldbehaftete Erinnerungskultur. Er fordert einen neuen Stolz auf die glorreiche Vergangenheit Deutschlands. Er nannte es ein großes Problem, dass Hitler als das absolut Böse angesehen wird. Er spickte seine Reden mit klassischen antisemitischen Stereotypen und mit Teil- und vollständigen Zitaten aus berühmten Äußerungen von Naziführern. Höcke wurde zweimal vom Thüringer Landesgericht in Halle verurteilt, weil er bei einer Wahlkampfrede die in Deutschland verbotene SA-Parole „Alles für Deutschland“ verwendet hatte.

Auch die andere Wahlsiegerin kokettiert mit der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Sahra Wagenknecht, die ebenso wie ihr Gegenspieler Björn Höcke nichts von demokratischen, parteiinternen Diskussionen hält und die Partei, der sie ihren Namen gab, wie die von ihr bewunderten kommunistischen Diktatoren führt, ist eine gelernte Leninistin, die wie ihr faschistisches Spiegelbild der AfD eine Diktatur der Mehrheit anstrebt. Als ihre großen Vorbilder sieht sie die DDR-Führer Erich Honecker und Walter Ulbricht.

Die Frage, warum gerade die Wählerschaft in Sachsen und Thüringen für die nostalgischen Botschaften von Neonazis und Neokommunisten empfänglich ist, lässt sich nicht ohne Geschichtsverständnis beantworten. Sachsen und Thüringen sind die beiden südlichen Landesteile der ehemaligen DDR. Analysten weisen darauf hin, dass die Einwohner der DDR bis 1990 keine Demokratie kannten, abgesehen von ein paar Jahren während der Weimarer Republik. Der Umstand, Erben eines autokratischen Systems zu sein, würde ihre Vorliebe für antidemokratische Parteien erklären. Darüber hinaus waren das Bildungssystem und die Kultur der DDR von Antiamerikanismus und einer Orientierung an Russland geprägt. Dies würde erklären, warum sie auch heute noch dazu neigen, sich auf die Seite Russlands zu stellen und den Krieg in der Ukraine als Folge von US-Provokationen zu interpretieren.

Diese Erklärung ist mit Sicherheit viel zu simpel. Tatsächlich ist es genau andersherum. Gerade weil das DDR-Regime der Bevölkerung den Hass auf Amerika und die Bewunderung für Russland von oben verordnete, entwickelten die Bewohner eine tiefe Abneigung gegen Russland und eine grenzenlose Faszination für alles, was mit Amerika zu tun hatte. Der obligatorische Russischunterricht war das meistgehasste Schulfach. Es herrschte eine maßlose, klammheimliche Bewunderung für amerikanische Musik und Jugendkultur. Man sammelte leere amerikanische Dosen und Aufkleber. In einem Interview mit der niederländischen Zeitung NRC sagt der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk: „Wenn Westdeutsche mit allen möglichen Aufklebern auf ihren Autos nach Ostdeutschland kamen, waren sie meist auf dem Rückweg verschwunden.“

Die deutsche Wiedervereinigung im Jahr 1990 versprach den Bewohnern Ostdeutschlands, dass sie endlich Teil der demokratischen, liberalen, amerikanischen Einflusssphäre sein würden, die sie all die Jahre heimlich bewundert hatten. Vierunddreißig Jahre später sind sie von ihren Erwartungen zutiefst enttäuscht. Mit dem Gefühl, dass Versprechen nicht eingehalten und Träume verraten wurden, wählen sie massenhaft zwei Parteien, die sich offen gegen die liberale Demokratie und Amerika stellen.

Es ist nicht so, dass die Indoktrination des DDR-Regimes bis heute anhält und das Wahlergebnis erklärt, wie ich von vielen Interpreten gehört habe. Die Haltung der Wählerinnen und Wähler in Sachsen und Thüringen ist eher mit der Widerspenstigkeit von Jugendlichen zu vergleichen, denen man mit dem Zwang der Leseförderung Bücher in den Rachen stopfen will. So wie sie zu Zeiten der antiamerikanischen Staatsideologie der DDR aus Protest Amerika verehrten, so wählen sie jetzt aus Protest gegen die liberale, proamerikanische Demokratie, die sie als zeitgenössische Staatsideologie wahrnehmen. So wie sie früher Amerika bewunderten, weil es verboten war, bewundern sie jetzt Russland, weil es von den etablierten Parteien als störend betrachtet wird.

Die Unzufriedenheit über den Verrat an den Einigungsversprechen, der in der Praxis einer Annexion durch den Westen gleichkam, ist eine Enttäuschung über die Segnungen des neoliberalen Kapitalismus. In dieser Hinsicht sind die Bürger der ehemaligen DDR genau wie wir alle, mit dem wesentlichen Unterschied, dass sie vor nicht allzu langer Zeit noch an den Traum glaubten, dass alles anders werden würde. Es wurde anders, aber die Vision von der Freiheit, die vor allem beinhaltete, dass jeder uneingeschränkten Zugang zu den glänzenden Produkten der westlichen Konsumgesellschaft haben würde, ist an der Realität der zunehmenden Ungleichheit zerbrochen, in der einige freier sind als andere. Wir hätten ihnen das im Voraus sagen können, und vielleicht haben wir das auch getan, aber für sie ist der Traum noch so präsent, dass der Kater dem entsprechend umso schwerer ist. In der Folge ist es für Demagogen nicht allzu schwierig, Ausländer für diesen Kater verantwortlich zu machen. Da der Traum seinerzeit mit dem Versprechen der Demokratie verbunden war, haben sie mit dem Traum auch den Glauben an die Demokratie verloren.

Sie halten uns einen Spiegel vor. Sie sind die Neuankömmlinge, die einen schärferen Blick für die Missstände haben als die abgestumpften alten Hasen, die wir sind. Und sie haben Recht mit ihrer Diagnose. Der Neoliberalismus, der ihnen vor nicht allzu langer Zeit als Allheilmittel für alle ihre Probleme aufgedrängt wurde, ist ein ungerechtes und scheiterndes System. Leider missbrauchen Populisten ihre berechtigte Diagnose als Anlass, um sie zu der Annahme zu verleiten, dass die Uhr in eine Zeit in der deutschen Vergangenheit zurückgedreht werden könnte, in der all diese Probleme noch nicht existierten.

Dieser Essay von Ilja Leonard Pfeijffer erschien ursprünglich am 07. September 2024 unter dem Titel „Ilja Leonard Pfeijffer: ‘Neen, de liefde voor autocratie zit niet in het Oost-Duitse DNA. De verklaring voor het electorale succes van de extremen zit elders’“ in der belgischen Zeitung „De Morgen“. Übersetzung ins Deutsche: Jürgen Klute

Weiterer Beitrag zum Thema

Titelbild: Jürgen Klute

Auch ein Blog verursacht Ausgaben ...

… Wenn Ihnen / Euch Europa.blog gefällt, dann können Sie / könnt Ihr uns gerne auch finanziell unterstützen. Denn auch der Betrieb eines Blogs ist mit Kosten verbunden für Recherchen, Übersetzungen, technische Ausrüstung, etc. Eine einfache Möglichkeit uns mit einem kleinen einmaligen Betrag zu unterstützen gibt es hier:

Ilja Leonard Pfeijffer

Foto: Stephan Vanfleteren

449