Die Eurogruppe wurde vor der Einführung des Euro als informelle Gruppe der beteiligten Länder gegründet, um die Einführung des Euro zu koordinieren. In den ersten rund 10 Jahren ihres Bestehens war die Eurogruppe fast nur Insidern bekannt.

Mit der europäischen Krise, die vor rund zehn Jahren begann, fiel der Eurogruppe unvorhergesehenerweise eine neue Rolle zu. Und die Mitglieder der Eurogruppe – allen voran die Bundesregierung – nutzten die Gelegenheit, diese Gruppe zu einem äußert einflussreichen aber nach wie vor informellen Machtzentrum innerhalb der EU auszubauen.

Diese Entwicklung wurde von Anfang wieder und wieder aus dem Europäischen Parlament kritisiert. Hauptkritikpunkt war der informelle Charakter, der im krassen Gegensatz zu dem tatsächlich ausgeübten Einfluss stand und nach wie vor steht, und die vollkommen intransparente Arbeitsweise der Eurogruppe.

Anfang Februar 2019 hat Tranparency Europe unter dem Titel „Hinter verschlossenen Türen: Die Rechenschafts-pflicht der Eurogruppe“ eine Studie veröffentlicht, die sich mit der kritikwürdigen Rolle der Eurogruppe und ihrer mangelnden Rechenschaftspflicht gegenüber demokratischen Gremien befasst.

Die Studie zeichnet einerseits nach, wie es zu dieser Situation gekommen ist. Sie verweist damit nicht nur auf eines der zentralen Demokratiedefizite der Europäischen Union, sondern eben auch auf einen Demokratie zersetzenden Missstand. Andererseits macht die Studie konkrete Verbesserungsvorschläge. Und zwar rechtzeitig zum Europawahlkampf.

Mit freundlicher Zustimmung des Herausgebers der englischsprachigen Studie, Leo Hoffmann-Axthelm von Transparency Europe, veröffentlicht Europa.blog im folgenden eine deutschsprachige Übersetzung der Zusammenfassung der Studie und der in der Studie enthaltenen Handlungsempfehlungen an die politischen Entscheidungsträger*innen, um den Mangel an Rechenschaftspflicht abzubauen.

Hinter verschlossenen Türen:

Die Rechenschaftspflicht der Eurogruppe

Von Benjamin Braun and Marina Hübner | Herausgeber: Leo Hoffmann-Axthelm

Zusammenfassung und Empfehlungen

Für eine Institution, deren Entscheidungen das Leben von Millionen von Europäern beeinflusst haben, ist die Eurogruppe in vielerlei Hinsicht mysteriös. Sie ist vor zehn Jahren nach dem Ausbruch der Eurokrise aus der Dunkelheit zum zentralen Akteur im Drama um eine Reihe von Rettungsaktionen aufgestiegen, die die Bedingungen für die europäische Finanzhilfe für Zypern, Griechenland, Irland, Portugal und Spanien festlegten. Es ist ein Drama, das bis heute fortbesteht in den harten Verhandlungen um den italienischen Staatshaushalt. Doch was genau die Eurogruppe ist, welche Entscheidungen sie trifft (falls sie welche trifft) und wie sie funktioniert, sind Fragen, die noch immer unklar sind. Es ist diese Unklarheit, die tiefgreifende Folgen für die Rechenschaftspflicht und damit für die Legitimität der Eurogruppe hat. Eine unserer wesentlichen Feststellungen ist nämlich, dass die Eurogruppe der Rechenschaftspflicht, die ihre europaweite Wirkung erfordert, nicht nachgekommen ist und sich ihr auch weiterhin entzieht.

In gewisser Weise ist die Eurogruppe ein sehr solider, dauerhafter Teil der institutionellen Landschaft der EU. Seit 1998 treffen sich die Finanzminister des Euroraums als Eurogruppe einen Tag vor jeder Sitzung aller EU-Finanzminister (ECOFIN-Rat) in Brüssel. Die Eurogruppe veranstaltet Pressekonferenzen, gibt Pressemitteilungen heraus und veröffentlicht ihre Tagesordnungen wie andere EU-Gremien.

Im Übrigen kann die Eurogruppe seltsam bedeutungslos, ja sogar geisterhaft erscheinen. Sie ist nicht durch die EU-Verträge reguliert, ihre Mitglieder behaupten bisweilen, keine Entscheidungen zu treffen, sie haben kein Personal und keinen Sitz. Es dürfte unter den europäischen Institutionen einzigartig sein, dass sie keinen Twitter-Account hat. Der ständige Präsident leitet die Gruppe neben seiner Tätigkeit als nationaler Finanzminister in Teilzeit, und die Gruppe konzentriert sich auf Themen, die weitgehend in der nationalen Zuständigkeit verbleiben: Wirtschafts- und Steuerpolitik. Klaus Regling, Geschäftsführer des European Stability Mechanism (ESM) und einer der Architekten des Euro, ist sich jedoch sicher: “Die Eurogruppe arbeitet schon heute als eine Art Regierung”. [1]

Nach EU-Recht ist die Eurogruppe nur ein Organ zur Konsensbildung, das nicht über die Befugnis verfügt, Entscheidungen zu treffen. In den EU-Verträgen ist die Eurogruppe nur in einer Anlage erwähnt. Aber die von der Eurogruppe vorab vereinbarten Beschlüsse werden vom Rat ohne weitere Aussprache angenommen, und selbst wenn eine Abstimmung erforderlich ist, stimmen nur die Minister der Eurozone ab [2] – also die Mitglieder der Eurogruppe. Sie erlässt auch förmliche Entscheidungen, indem sie das Namensschild ändert und sich als Rat der Gouverneure des ESM wieder zusammensetzt – einer Rechtsperson, die sich den EU-Verordnungen über Transparenz und den EU-Rechenschaftsmechanismen wie den EU-Kontollinstanzen (gemeint sind: EuGH, EU-Rechnungshof und OLAF; A.d.Ü.), dem Parlament oder dem Bürgerbeauftragten entzieht. Doch es handelt sich immer noch um die 19 Finanzminister der Eurozone, die am selben Tisch sitzen.

Die Entstehung der Eurogruppe als zentraler Steuerungsstelle des Euroraums war keineswegs selbstverständlich. Sie wurde vor 20 Jahren als informelles Forum zur Diskussion und politischen Koordinierung von “Fragen im Zusammenhang mit der gemeinsamen spezifischen Verantwortung für die einheitliche Währung” [3] eingerichtet – im Wesentlichen ein Diskussionsforum. Die Mitgliedstaaten, die den Euro nicht als Währung eingeführt haben, waren bestrebt, die Schaffung einer allmächtigen gouvernement économique (Wirtschaftsregierung; A.d.Ü.) zu vermeiden, die sie ausschließen würde.

Die Eurokrise hat die Situation völlig verändert. In der Folgezeit haben die Regierungen der EU-Mitgliedstaaten Reformen eingeleitet, um die Koordinierung der Steuer- und Wirtschaftspolitik zwischen den Mitgliedstaaten zu verstärken. Diese Bemühungen gingen jedoch nicht einher mit einer proportionalen Erhöhung der demokratischen Rechenschaftspflicht, was zu einer Ausweitung des gesamten “demokratischen Defizits” der EU führte. So werden beispielsweise aufgrund von Änderungsempfehlungen im Rahmen der jährlichen Überwachung und Koordinierung der nationalen Wirtschaftspolitiken durch die Europäische Kommission – dem “Europäischen Semester” – weiterhin wichtige Entscheidungen durch die Eurogruppe in Bezug auf die nationale Wirtschaftspolitik getroffen, einschließlich möglicher Geldbußen von bis zu 0,5 % des BIP im Rahmen des Verfahrens bei einem übermäßigen Defizit. Die neuen Verfahren zielen auf eine Quadratur des Kreises ab – die Koordinierung der Politik ohne eine integrierte Entscheidungsfindung. Unsere Fallstudie über die Aushandlung des italienischen Haushaltsdefizits 2019 zeigt, dass dies nach wie vor erfolglos ist.

Unsere Schlussfolgerung aus dieser Studie ist also, dass sich die Eurogruppe weiterhin einer ordnungsgemäßen Rechenschaftspflicht entzieht. Grundsätzlich sollte “demokratische Kontrolle und Rechenschaftspflicht auf der Ebene erfolgen, auf der die Entscheidungen getroffen werden” – d.h. die europäische Entscheidungsfindung sollte auf europäischer Ebene rechenschaftspflichtig sein. Dies war das erklärte Ziel der Präsidenten des Europäischen Rates, der Europäischen Kommission, der Eurogruppe und der Europäischen Zentralbank im Jahr 2012. [4] Auch wenn der Präsident der Eurogruppe regelmäßig vor dem Europäischen Parlament erscheint, um Fragen zu beantworten, stellt diese freiwillige Vereinbarung keinen wirksamen Mechanismus zur Rechenschaftspflicht dar. So ist die Eurogruppe als solche auch als De-facto-Gouvernement économique (Wirtschaftsregierung; A.d.Ü.) niemandem gegenüber verantwortlich.

Die einzelnen Finanzminister sind selbstverständlich den nationalen Parlamenten und Wählern bei nationalen Wahlen Rechenschaft schuldig. Dieser dezentrale Rechenschaftsmechanismus kann funktionieren, aber nur unter Bedingungen, die in den letzten Jahren nicht erfüllt wurden und in Zukunft wahrscheinlich nicht erfüllt werden: Wenn die Entscheidungen der Eurogruppe einstimmig getroffen werden, wenn die Verhandlungsmacht relativ gleichmäßig auf die Mitgliedstaaten verteilt ist und wenn die nationalen Parlamente ein ebenso großes Interesse an Entscheidungen über andere Länder des Euroraums haben, nicht nur an ihren eigenen.

Einstimmige Beschlüsse sollten theoretisch kleine Mitglieder vor der Annahme von Entscheidungen, die sie ablehnen, schützen. In der Praxis haben sie es unter dem Druck der Finanzmärkte und unter Zeitdruck schwer, Verfahren zu blockieren. Wissen ist Macht, und nur Deutschland und Frankreich verfügen über die Ressourcen, um alle nationalen Politiken zu bewerten und alle Stellungnahmen und Empfehlungen der Kommission für alle Länder durchzulesen. Das bedeutet, dass die meisten Mitglieder Entscheidungen über die (Ablehnung) der nationalen Haushalte des jeweils anderen treffen, ohne über die Mittel zu verfügen, diese angemessen zu analysieren. Das überlegene Potenzial großer Mitglieder wird auch im ESM formalisiert, wo Entscheidungen über Auszahlungen eher mit Mehrheit als mit Konsens getroffen werden können, wobei die Stimmanteile die Kapitaleinlagen widerspiegeln.

Basierend auf unserem Verständnis von vorbildlichen Verfahren in anderen EU-Institutionen schlagen wir eine Reihe von schrittweisen Reformen vor, um die gravierenden Mängel in Bezug auf die Rechenschaftspflicht der Eurogruppe zu reduzieren. Wir sind uns bewusst, dass diese Reformen nicht bis zum Kern des Problems vordringen. Daher werden in dem Bericht auf der Grundlage der Arbeit anderer einige Szenarien vorgestellt, wie sich das institutionelle Gefüge in den kommenden Jahren entwickeln könnte.

Empfehlungen

Transparanz
Anwendung des “EU-Transparenz-Acquis” auf die Arbeit der Eurogruppe, auch wenn sie als ESM-Gouverneursrat tagt.

Sicherstellen, dass das Transparenzregime der Eurogruppe – insbesondere die Veröffentlichung detaillierter Tagesordnungen – auch für Vorbereitungsgremien gilt.

Einrichtung eines Dokumentenregisters, das alle Dokumente der Eurogruppe enthält.

Rechenschaftspflicht
Formalisierung der Eurogruppe mit direkter Rechenschaftspflicht auf EU-Ebene.

Stärkung der Rolle des Europäischen Parlaments im Europäischen Semester mit Mitentscheidungsbefugnissen bei der Ausarbeitung von Haushaltsplänen und länderspezifischen Empfehlungen.

Obligatorische öffentliche Anhörungen des Präsidenten der Eurogruppe vor dem Europäischen Parlament

Integrität
Für die Eurogruppe sollte ein hauptamtliches Präsidentschaftssystem eingerichtet werden, das Interessenkonflikte beseitigt und die Verantwortlichkeiten klarer zuweist.

Einführung eines ergänzenden Verhaltenskodex für die Eurogruppe als gemeinsamer Integritätsschutz.

Anmerkungen

[1] Berschens, R. (2017): „Die Euro-Gruppe funktioniert ja schon wie eine Art Regierung.“ Interview mit Klaus Regling. Handelsblatt, July 12.

[2] In Übereinstimmung mit Art. 136(2) AEUV

[3| Schlussfolgerungen des Ratsvorsitzes (1997): Europäischer Rat von Luxemburg vom 12. bis 13. Dezember

[4] Van Rompuy, H. (2012) Towards a genuine economic and monetary union. Report in close cooperation with José Manuel Barroso, Jean-Claude Juncker, and Mario Draghi. Brussels: European Council.

Übersetzung: Jürgen Klute

Titelbild: Eurogroup meeting | Foto: Mario Salerno CC BY-NC-ND 2.0

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