In diesem Beitrag der Verwalter*innen des Webportals „Gelsenkirchener Geschichten“ geht es um ein Projekt von Correctiv in der Ruhrgebietsstadt Gelsenkirchen mit überregionaler Bedeutung. Die Verwalter*innen, das sind Georg Brox, Marie-Cécile Duclercq, Wolfgang Honisch, Lothar Lange, Sabine Sinagowitz und Michael Westphal. Correctiv entwickelt seit 2014 sehr erfolgreich einerseits Antworten auf die Herausforderungen der Digitalisierung für Journalistinnen und Journalisten und zum anderen entwickelt Correctiv neue journalistische Konzepte, um die Demokratie zu stärken. Ursprünglich erschien dieser Beitrag am 28. Juni 2025 auf dem Webportal „Gelsenkirchener Geschichten“. Die Wiedergabe des Beitrags auf Europablog erfolgt mit Zustimmung der Verwalter*innen der „Gelsenkirchener Geschichten“.
Es klingt nach einem wirklich spannenden und innovativen Projekt! Das auf der Arminstraße 15 in Gelsenkirchen neu eröffnete Café namens „SPOTLIGHT“ ist ein Pilotprojekt von Correctiv (1) für gemeinnützigen Lokaljournalismus in Deutschland.
Es soll als Lokalredaktion für eine digitale Gelsenkirchener Lokalzeitung – mit Café als Begegnungsort und Veranstaltungsraum in einem – ein Ort sein, der eine unabhängige und konstruktive Berichterstattung direkt hier vor Ort ermöglichen soll. Das Ganze wird durch Spenden finanziert, ist also unabhängig und für alle zugänglich. Ziel soll es sein, gemeinsam mit den Menschen in Gelsenkirchen eine lebendige und vertrauensvolle lokale Berichterstattung zu schaffen, die nicht über die Menschen hinweg, sondern mit ihnen gestaltet wird.
Das hat uns neugierig gemacht. Wir wollten wissen, was die dort ansässigen Journalisten konkret vorhaben und haben sie besucht.
Correctiv versteht sich als gemeinwohlorientiertes Medienhaus. Es wurde 2014 von David Schraven gegründet, der auch Geschäftsführer ist. Sie haben sich damals als gemeinnütziges Recherchezentrum bezeichnet, weil Correctiv von Anfang der Überzeugung ist, dass Journalismus anders finanziert werden muss als bisher.
Anzeigenverkäufe gehen zurück. Viele Medien werden immer klickgetriebener, weil es natürlich darum geht, Werbung zu verkaufen, besonders online. Die Idee ist, dass Journalismus durch Spenden von Bürgerinnen und Bürgern finanziert wird, dass Menschen sagen: Wir spenden freiwillig dafür, dass wir gute Inhalte bekommen. Das bedeutet: die Inhalte sind frei verfügbar. Man kann sie vor allem online lesen und im Kern war es schon immer investigative Recherche, die im Zentrum ihrer Arbeit stand.
Die Reporter betreiben sehr aufwendige, lange Investigativ-Geschichten. Einer der großen Reports von Correctiv handelte vom Abschuss der MH17 über der Ukraine. Hier waren Correctiv-Reporter in der Ukraine direkt vor Ort und haben von dort aus dazu recherchiert.
Ein anderes Beispiel ist der Apothekerskandal in Bottrop. Hier ging es um den Apotheker, der Krebsmedikamente gepanscht hat. Dieser wurde vor allen Dingen wegen Versicherungsbetrugs angeklagt. Doch es standen unzählige tragische Lebensschicksale dahinter, für die sich niemand richtig interessiert hat. Hier hat Correctiv spontan eine Pop-Up-Redaktion in Bottrop eingerichtet. Ein Ladenlokal gegenüber von der Apotheke wurde für ein paar Monate angemietet. Hier saßen Reporter mit Blickkontakt zur Apotheke und haben sich als Anlaufstelle verstanden. Es sind tatsächlich täglich Menschen zu ihnen gekommen und haben ihre Geschichte erzählt. Die Journalisten machten dort Info-Veranstaltungen, luden Rechtsanwälte dazu ein, die kostenlos beraten haben.
Ein weiteres Thema waren die Fälle von sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche. Es wurden Verbindungen vom deutschen Papst Ratzinger zu einem Missbrauchsfall nachgewiesen, der sich im Ruhrgebiet ereignet hat.
Im letzten Jahr waren auch die Potsdam-Recherchen ganz wichtig. Es ging um das Treffen von AfD-Funktionären mit Neo-Nazis. Auch der AfD-Spendenskandal war ein wichtiges Thema.
Kern der Arbeit von Correctiv ist und bleibt die Investigative Recherche. Wie schon erwähnt, bezeichnet sich Correctiv als gemeinwohlorientiertes Medienhaus. Medienhaus, weil von Anfang an schon ganz viel drum herum entstanden ist.
Es gibt eine Investigativ-Redaktion, die vor allem in Berlin sitzt. Aber es gibt auch eine Jugendredaktion an verschiedenen Standorten in ganz Deutschland (unter anderen auch in Bottrop), wo Jugendliche für andere Jugendliche Journalismus machen. Es ist eine Mischung aus Redaktion, Jugendtreff und Jugendarbeit. Sie haben sogar Sozialpädagogen eingestellt. Auf ihrer Internetseite beschreiben sie ihre Arbeit so: „Wir zeigen Jugendlichen das grundlegende journalistische Handwerk und geben Input für ihre Themen. Bei uns lernen junge Menschen alles rund um Recherche, Nachrichten, Podcasts, Instagram, TikTok und YouTube.“
Es gibt auch eine Online-Schule für Journalismus. Sie heißt Reporterfabrik und Bürgerakademie. Jeder kann sich anmelden – vieles ist kostenlos – und lernen, wie Journalismus funktioniert, wie man recherchiert, wie man Fakten und Desinformation auseinanderhalten kann. Sie haben früh damit begonnen, Menschen am Journalismus zu beteiligen. Sie wollen Journalismus in die Innenstadt bringen, nahbar, transparent sein.
Sie recherchierten auch in Brandenburg, wo es ums Waldsterben ging, und haben Leute zu einem Waldspaziergang eingeladen. Ein Förster war dabei, der plastisch erzählen konnte, was in der Recherche nur als Text vorlag. Das konnten die Menschen da konkret erleben.
Sie haben auch Journalismus ins Theater auf Bühnen gebracht – als Theaterstück zu erzählen. Das erste Mal fand so etwas 2014 oder 2015 in Dortmund statt. Einige Ergebnisse ihrer Recherchen gestalten sie aber auch als Comics, Graphic Novels – einfach, um Journalismus anders zu erzählen, Journalismus nahbarer zu machen.
Sie begannen schon sehr früh damit, mit den Bürgern gemeinsam zu recherchieren. 2016 starteten sie die Recherche „Wem gehört Hamburg?“ und luden Bürger dazu ein, mitzumachen, indem diese ihre Mietverträge hochladen konnten. Dafür bauten sie ein sicheres Extra-Tool, weil es ja nicht möglich ist, zu einem Amt zu gehen, um zu fragen, wem wohl alle die vielen Häuser und Wohnungen gehören.
Der Name Correctiv impliziert, dass man etwas richtigstellt. Es gibt also auch eine Faktencheck-Redaktion, die Faktenchecks für Meta, den Facebook-Konzern, betreibt. Es ist eine eigenständige Redaktion, aber jetzt gehen sie mehr zum Thema Community-Faktenchecken über, bringen Leuten bei, wie es funktioniert, nach welchen Kriterien man journalistisch arbeiten muss, um Desinformationen zu entlarven. Bei Correctiv arbeiten mittlerweile ca.170 Mitarbeiter.
Warum kommt Correctiv ausgerechnet nach Gelsenkirchen? Man hat eine Stadt gesucht, die nicht zu klein und nicht zu groß ist, die mehr Journalismus vertragen kann, die journalistisch spannend ist, in der es viel zu berichten gibt, die ein klar definiertes Zentrum hat, wo es noch eine Innenstadt gibt. Sie sind ja ein Ruhrgebietsunternehmen, der Hauptsitz ist in Essen. Die räumliche Nähe hat also noch eine Rolle gespielt.
Das Konzept ist Café und Redaktion. Es gibt einen ganz normalen Café-Betrieb mit Frühstück, Mittagstisch, Kaffee, Kuchen. Ein durchaus professionell geführtes Café. Gleichzeitig arbeiten sie als kleine Redaktion zu zweit – und demnächst kommt eine Werkstudentin dazu. Man will vorerst einen wöchentlichen Newsletter (2) erstellen, den man kostenlos per E-Mail bekommt, und versuchen, sich jede Woche auf ein Gelsenkirchener Thema zu fokussieren, das gerade das relevanteste Thema, das Stadtgespräch ist, und dazu einen kleinen Nachrichtenüberblick anbieten, auf Sachen, die die Kollegen, z.B. in der WAZ, gemacht haben, aufmerksam machen.
Die Idee ist, dass Menschen erst einmal nur das Café sehen und hineingehen, um etwas zu trinken und zu essen. Das Café ist so gestaltet, dass man merkt, dass es hier noch etwas Anderes gibt. Die Journalisten haben kein getrenntes Büro. Sie arbeiten für jedermann sichtbar im Café. Wer mag, kann sie direkt und unangemeldet ansprechen. Sie wollen keine Hürden aufbauen. Es findet auf jeden Fall Austausch statt.
Die Frage ist: wo muss Journalismus stattfinden? Correctiv ist der Meinung, dass Journalismus dort stattfinden soll, wo die Menschen sind. Ein Café ist so ein Ort, an dem Menschen zusammenkommen. Es geht hier selten nur um „Nahrungsaufnahme“, sondern doch eher darum, Leute zu treffen, zu quatschen, sich auszutauschen. Das soll im Vordergrund stehen. Und dann erfährt man vielleicht, dass man ein Newsletter abonnieren kann. Auch eine Art von Transparenz: die Journalisten sitzen hier und arbeiten an ihren Laptops. Man kann sie auch fragen, was sie gerade machen. Die Schwelle der Kontaktaufnahme ist auf jeden Fall niedriger als in einer üblichen, „normalen“ Zeitungs-Redaktion.
Gelsenkirchen bietet sicher genügend Stoff. Und eine der schwierigsten Aufgaben, wenn der Newsletter am Anfang einmal wöchentlich erscheinen soll, wird sein, das wichtigste Thema auszusuchen.
Aktuell arbeitet man an einer Geschichte, in der es um Kultur geht, ums Musiktheater, um die Reliefs, weil sie abgestaubt werden müssen und man nicht genau weiß, wie oder wer das bezahlt. Deswegen verzögert sich das seit Jahren.
In der vergangenen Woche haben sie sich mit dem Skandal bei „Gelsendienste“ beschäftigt. In den nächsten Monaten werden natürlich die Wahlen ein zentrales Thema sein. Die Frage wird sein: Was bewegt die Menschen, was ist ihnen bei den Wahlen wichtig, sind das städtische Themen oder überlagern vielleicht andere Themen die Wahlentscheidung?
Im Café sollen auch Veranstaltungen stattfinden, z.B. Diskussionsveranstaltungen zu Themen, über die sie im Newsletter schreiben oder sie bieten umgekehrt Veranstaltungen zu Themen, von denen sie meinen, sie seien wichtig. Sie können dann die Veranstaltung als Startpunkt nehmen für tiefere Recherchen. Sie möchten die Stadtgesellschaft dazu einladen, zu kommen, zu diskutieren, über Lösungen zu diskutieren. Es sollen keine Jammer- oder Meckerabende werden, sondern man sollte dann einen Schritt weitergehen und überlegen, wie die Lösung aussehen könnte.
Es gab bereits vor der Eröffnungsfeier ein „Soft-Opening“, zu dem viele Leute vorbeikamen, die gesagt haben, es werde viel gejammert, aber so schlimm sei es in Gelsenkirchen nicht. Das ist eine Perspektive, die man darstellen kann, um dann gemeinsam die Lösung zu entwickeln.
Natürlich hat Gelsenkirchen Probleme. Man darf nicht vergessen, dass es eine Großstadt ist, und Gelsenkirchen hat Großstadtprobleme. Die kann man in aller Härte benennen. Aber dann muss man überlegen, wie geht man das an, wie könnte die Lösung aussehen. Ist die Stadtverwaltung gut genug darin, Probleme zu adressieren oder könnte sie auch mehr machen? Wie können positive Visionen entstehen?
Dieses Konzept soll auf andere Städte übertragen werden. Gelsenkirchen ist dazu ein einzigartiges Pilotprojekt.
Wir danken den beiden Journalisten Tobias Hauswurz und Mario Büscher für das nette Gespräch und den leckeren Kaffee.
(1) Zur Website SPOTLIGHT geht es hier! Den kostenlosen Newsletter kann man hier abonnieren.
(2) Correctiv ist ein Medienunternehmen mit Sitz in Essen und einem weiteren Standort in Berlin. Betrieben wird es von der Correctiv – Recherchen für die Gesellschaft gemeinnützige GmbH, die auch die Online-Journalistenschule Reporterfabrik betreibt. (Quelle: Wikipedia – abgerufen am 30.06.2025)
Titelbild: Café Spotlight in Gelsenkirchen, Foto: privat
Auch ein Blog verursacht Ausgaben ...
252
Leave A Comment