Seit der so genannten Flüchtlingskrise 2015 verbindet sich Österreich mit einer sehr restriktiven Flüchtlingspolitik. Um so überraschter war ich, als ich kürzlich bei einem Besuch in Wien eher zufällig auf die Skulptur Gäste | Gosti | Misafirler traf. Diese Skulptur steht am Rande des Karlsplatzes im Zentrum von Wien.
Auf den ersten Blick erinnert sie an einen nach zwei Seiten hin offenen Unterstand. Erst beim genaueren Hinschauen entdeckt man, dass es sich hier nicht um einen Unterstand handelt. In der Mitte befindet sich ein Betonkegel. An der geschlossenen Außenwand eine Bank, die leer ist. Vor der anderen Außenwand befindet sich auf dem Boden Betonplatten, auf denen ein Betonkegel steht. Durch eine Aussparung in dieser Wand schaut man auf ein Kette, an der ein Beton-Zylinder befestigt ist. Geht man um die Skulptur herum, sind auf der Rückseite Zeichnungen zu erkennen.
Auf einer zum Karlsplatz hin aufgestellten Tafel wird dem interessierten Betrachter bzw. der interessierten Betrachterin erläutert, auf was er bzw. sie hier gestoßen ist: auf die Skulptur Gäste | Gosti | Misafirler. Diese Skulptur wurde von Schülern der Wiener Berufsschule für Baugewerbe mit dem Berliner Künstler Karsten Födinger geschaffen. Weitere Kooperationspartner waren die Kunsthalle Wien und die Arbeiterkammer Österreichs.
Die Erstellung der materiellen Skulptur und deren dauerhafte öffentliche Präsentation im Zentrum Wiens ist großartig. Für die Schüler der Berufsschule für Baugewerbe war vermutlich der Prozess, an dessen Ende die fertige Skulptur stand, noch viel wichtiger. Unter einer völlig anderen als der beruflichen Perspektive haben sie sich mit einem für sie alltäglichen Material auseinandergesetzt: Nämlich Beton als künstlerisches Gestaltungsmaterial zu begreifen, der die Schüler, die aus unterschiedlichen Kulturen und Gesellschaften kommen, herausfordert, ihre soziale Erfahrungen im Zusammenarbeiten und Zusammenleben zu reflektieren und in Zusammenarbeit mit einem Künstler mit dem Werkstoff Beton zum Ausdruck zu bringen.
Es ist nicht das Thema Flucht, um das es bei dieser Skulptur geht. Es geht um das alltägliche Zusammenleben und Zusammenarbeiten von Menschen aus unterschiedlichen Gesellschaften und Kulturen. Weshalb sie jetzt in Wien leben ist zweitrangig. Wichtig ist, dass sie jetzt am gleichen Ort in der gleichen Gesellschaft leben und sich damit auseinandersetzen müssen, wie sie ihr Zusammenleben organisieren.
Der abstrakte Begriff Integration wird damit plötzlich konkret, mit Händen fassbar – wie Beton, der im Englischen im übrigen „concrete“ heißt.
Weitere Erläuterungen zu der Skulptur enthält der Text der Erläuterungstafeln, der in der deutschen und englischen und Version unter den Fotos wiedergegeben ist.
Unterhalb des Textes der Erläuterungstafeln gibt es noch einen Link zu einem Video, das von der Erstellung der Skulptur gemacht wurde.
Gäste | Gosti | Misafirler
Die Skulptur Gäste / Gosti / Misafirler ist das Resultat einer Zusammenarbeit von Schülern der Berufsschule für Baugewerbe mit dem Künstler Karsten Födinger. Initiiert wurde das Projekt von der Vermittlungsabteilung der Kunsthalle Wien in Kooperation mit der Arbeiterkammer Wien und der Berufsschule für Baugewerbe.
Gäste | Gosti | Misafirler (Guests)
The sculpter Gäste / Gosti / Misafirler is the resulte of a collaboration between students of the Berufsschule für Baugewerbe (Construction Trade School) and the artist Karsten Födinger. The project was initiated by the education department of the Kunsthalle Wien in cooperation with the Arbeiterkammer Wien (Austrian Chamber of Labour) and the Berufsschule für Baugewerbe.
Gäste / Gosti / Misafirler nimmt Bezug auf den Umgang mit Beton, einem Material, das den Lehrlingen vertraut ist, das aber im täglichen Umgang üblicherweise eine rein zweckgebundene Verwendung erfährt. Durch den künstlerischen Input wurde der Weg für eine experimentelle Herangehensweise bereites, aus der schließlich die Idee für die Skulptur entstand.
Gäste / Gosti / Misafirler alludes to the use of concrete, a material the apprentices are familiar with, but usually come across in purely functional contexts. The artistic input paved the way for an experimental approach which led to the idea for the sculpture.
Die von den Jugendlichen entwickelte Projektidee hatte von Anfang an sozialen Charakter, was sich auch im Titel der Arbeit niederschlägt: Gäste / Gosti / Misafirler – ein Begriff in Deutsch, Bosnisch/Kroatisch/Serbisch und Türkisch: jenen Sprachen, die in der Klasse gesprochen werden. Gäste / Gosti / Misafirler spiegelt die Wahrnehmung der Lehrlinge wider, sich im Kunstumfeld und in der Wiener Innenstadt, anders als in ihren Wiener Heimatbezirken, nicht zuhause zu fühlen. Mit dem Projekt regen die Schüler zur Auseinandersetzung mit aktuellen, gesellschaftspolitischen Fragen an. Wer ist Gast? Wie definiert die GesellschaftGastfreundschaft? Wie schafft man einen Ort des Zusammenlebens für eine diverse Gesellschaft und wie werden Gäste willkommen geheißen?
The social nature of the project developed by the young people also coems across in the title Gäste / Gosti / Misafirler – a term in German, Bosnian/Croatian/Serbian, and Turkish, the languages spoken in their class. Gäste / Gosti / Misafirler reflects the perception shared by apprentices, who feel less at home in the artistic environment and in Vienna‘s city centre thanin the districts where they live. Their project provides food for thought on current, socio-political questions: Who is a guest? How does society define hospitality? How do you create a place of coexistence in a diverse society, and how are guests welcomed?
Die Multinationalität der Klassengemeinschaft und der Gesellschaftsstruktur, die sich im Titel manifestiert, wird von den Schülern in der Gestaltung der Außenwände des Gästehauses aufgegriffen, die Fahnen in stark abstrahierter Form zeigen. Im Inneren verbinden eine Sitzbank, ein Box-Sack, die Silhouette eines jungen Mannes und ein Vulkan aus Beton unterschiedliche Ebenen: der Vulkan, ein in diesem Zusammenhang funktionsloses gleichzeitig aber spektakuläres Objekt; der Box-Sack, ein Katalysator für Energie- oder Aggressionsabbau und die Sitzbank, als Einladung zum Innehalten.
The exterior walls of the guesthouse feature very abstract froms of flags as a reference to the multi-nationality reprenseted in the students‘ class and the social structure manifested in the title. Inside, a bench, a punchbag, the silhouette of a young man, and a concrete volcano, a spectular, yet functionless object in this context; the punchbag, a catalyser for releasing energy or aggressions; the bench as an invitation to take a break.
Die Kunsthalle Wien sieht ihre Aufgabe in der Vermittlung zeitgenössischer Kunst. Mit partizipativen Projekten werden Hemmschwellen abgebaut, um Wege zum Verständnis der Gegenwartskunst zu eröffnen. Workshops wie diese Kooperation sind ein große Herausforderung, aber auch ein wichtiger Bestandteil dieser Arbeit. Die Ergebnisse der Zusammenarbeit werden ausgestellt und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
Kunsthalle Wien sees its task in conveying contemporary art. Participatory projects help to overcome inhibitions and thereby enable an approach to art of our time. Workshops such as this cooperation are a great challenge, but also an important part of the endeavour. The results of these collaborations are exhibited and made accessible to the public.
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