Am 10. November 2018 soll die Europäische Republik ausgerufen werden. Symbolisch, vorerst.

Beitrag von Jürgen Klute

Das Datum ist nicht zufällig gewählt. Am 11. November 2018 jährt sich das Ende des 1. Weltkrieges zum 100. Male. Am 9. November 1918 wurden in vielen Ländern Europas Republiken ausgerufen, die die im Weltkrieg zerbrochenen Monarchien ablösten.

Der erste Weltkrieg war einer der wesentlichen Anstöße für den Aufbau der Europäischen Union seit der Mitte des 20. Jahrhunderts. Seit einigen Jahren befindet sich dieses politische, auf ein friedliches Zusammenleben ihrer Mitgliedsländer ausgelegte bisher erfolgreiche Projekt jedoch in einer veritablen Krise, die kein Ende finden will.

The European Balcony Project

Um zur Lösung dieses Knotens beizutragen und Impulse für eine demokratisch und Gemeinwohl orientierte Weiterentwicklung der EU zu geben, haben die Wissenschaftlerin Ulrike Guérot, der Schriftsteller Robert Menasse und der Theaterregisseur Milo Rau eine Idee entwickelt: Das European Balcony Project. Denn Republiken, so zeigt ein Blick in die Geschichte, wurden oft von Balkonen aus ausgerufen. Und genau darum geht es: Um die symbolische Ausrufung einer Europäischen Republik. Dies soll am 10. November 2018 an möglichst vielen Orten in Europa gleichzeitig geschehen.

Die drei Ideen-Geberinnen arbeiten derzeit an einem Manifest, dass an diesem Tag zeitgleich um 16 Uhr auf öffentlichen Plätzen – möglichst von Balkonen – verlesen werden soll.

Kernpunkte dieses Manifests, das in 10 Sprachen übersetzt werden soll, sind
– die Forderung gleicher Rechte für alle europäischen Bürgerinnen und Bürger,
– die Forderung des Wegfalls der nationalstaatlichen Ebene und die Übertragung der Souveränität von den Nationalstaaten auf die Bürgerinnen und Bürger,
– und die Forderung einer transnationalen Demokratie.

Als Begründung und Ziel nennen die Initiatoren:

Es geht um die Entwicklung einer gesamteuropäischen Staatlichkeit, die für eine europäische Gemeinwohlsicherung und die Nutzung europäischer öffentlicher Güter sorgt. […] Diese europäische Staatlichkeit als «Europäische Republik» ist dabei nur als Ansatz- und Ausgangspunkt für die Entwicklung einer Weltregierung und ihrer Parlamentarisierung gedacht. Die «Europäische Republik» stellt nur den Ausgangspunkt dar, um einen Zustand zu erreichen, der im Grunde genommen der globalen Verwirklichung des ersten Satzes der allgemeinen Menschenrechtserklärung von 1789 gleichkommt: «Alle Menschen sind geboren frei und gleich in ihren Rechten». Das ist das kulturelle und ideengeschichtliche Erbe Europas. Darum ist es die politische Aufgabe Europas, dies im 21. Jahrhundert zu verwirklichen!

Sechs Monate vor der Europa-Wahl wollen die Initiatoren mit diesem Manifest eine breite und lebendige Debatte über die Zukunft Europas unter Bürgerinnen und Bürgern anstoßen. Deshalb setzt das Projekt auch nicht auf Debatten in den üblichen Politikerkreisen, sondern auf künstlerische Interventionen im öffentlichen Raum.

Ein gelungener Start

Bisher haben schon über 40 Akteure aus Belgien (3), Deutschland (23), Großbritannien (1 – Newcastle, Nordirland), Italien (3), Niederlande (2), Österreich (7), Polen (1), Portugal (1) und Zypern (1) ihre Bereitschaft erklärt, sich an dem Projekt zu beteiligen. Die konkreten Orte und Akteure sind auf einer interaktiven Landkarte vermerkt (bitte hier klicken, um zur Karte zu gelangenUpdate, 28.07.18: die Zahl der Akteure ist mittlerweile auf rund 200 gestiegen, aber es sind derzeit noch nicht alle in der Karte verzeichnet). Das ist schon einmal ein Drittel der EU-Mitgliedsländer – also eine ermutigende Resonanz angesichts der Tatsache, dass das Projekt ja erst im Frühjahr d.J. an den Start gebracht wurde.

Leider ist von den skandinavischen EU-Mitgliedern bisher keines vertreten, auch nicht von den baltischen und den mittel- und osteuropäischen Ländern, abgesehen von Polen und Zypern. Dort wäre eine breite und offene Debatte über die Zukunft der EU besonders wünschenswert.

Dass über 20 Akteuren aus der Bundesrepublik an dem Projekt mitmachen wollen, ist erfreulich, zeigt es doch, dass die europäische Idee in Deutschland nach wie vor eine große Unterstützung erfährt. Darin spiegelt sich sicher auch die regelmäßige öffentliche Präsenz von Ulrike Guérot und Robert Menasse in den Medien des Landes. Beide haben in den letzten Jahren in (teils gemeinsamen) Artikeln und in Interviews immer wieder für eine Überwindung der Nationalstaaten und für eine forcierte Weiterentwicklung der EU zu einer europäischen Republik argumentiert. Doch steht die hohe Zahl der Akteuere aus der Bundesrepublik auch für eine gewisse regionale und sprachliche Ungleichgewichtigkeit der von U. Gérot und R. Menasse vorangetriebene Debatte um die Zukunft der EU. Eine stärkere Ausweitung der Debatte in alle EU-Mitgliedsländer ist dringend nötig. Die bisherige Resonanz auf das European Balcony Project lässt aber hoffen, dass diese Debatte sich weiter ausbreitet und entwickelt.

The Art of organising Hope

Aus dieser Perspektive ist vor allem das vom NTGent in der belgischen Stadt Gent angekündigte Projekt spannend. Nicht nur weil Milo Rau, einer der Initiatoren des Balcony-Projects, im Herbst 2018 als Intendant zum NTGent wechselt und damit in das dortige Projekt involviert ist.

Spannend ist vor allem der Rahmen, in dem das Manifest zur Ausrufung einer Europäischen Republik in Gent verlesen wird. Eva-Maria Bertschy vom NTGent verriet, dass die Verlesung des Manifests (zum Programm geht es hier) in einen alternativen europäischen Gipfel integriert ist, der vom 9. bis 11. November 2018 gemeinsam von dem Projekt The Art of organising Hope und dem NTGent in Gent durchgeführt wird.

Der alternative europäische Gipfel ist Teil eines mehrjährigen Projektes mit dem Titel „The Art of Organising Hope: New Narratives for Europe“ (Die Kunst Hoffnung zu organisieren: Neue Erzählungen für Europa), an dem Organisationen aus Bulgarien, Irland, Portugal und Slovenien beteiligt sind.

Im ersten Teil des Projektes (2016/2017) wurden mehr als 60 Graswurzel- und zivilgesellschaftliche Organisationen in ganz Europa besucht und nach ihren Vorstellungen für ein erneuertes Europa befragt. Auf dem alternativen Gipfel, der die zweite Phase des Projektes bildet, sind zivilgesellschaftliche Akteure, Studenten, Wissenschaftler, Künstler und Aktivisten eingeladen, über ihre Diskurse, Methoden und Praktiken zu diskutieren. Die Ergebnisse des alternativen Gipfels sollen in einem alternativen Europäischem Vertrag – dem Vertrag von Gent – gebündelt und Vertreterinnen des europäischen Parlaments überreicht werden.

In der dritten Phase wird auf der Grundlage des alternativen Gipfels mit dessen Teilnehmenden eine multimedia stage performance entwickelt. Von August bis Dezember 2019 soll die Performance in Coimbra, Dublin, Ljubljana und Sofia präsentiert werden (On Stage 2019).

Dieser alternative europäische Gipfel von unten mit dem geplanten alternativen Europa-Vertrag von Gent ist ein äußerst passender Kontext für die Verlesung des Manifest für eine europäische Republik. Kombiniert wird die Verlesung mit einer anschließenden Diskussion im NTGent über „Autonomie und Souveränität“.

Dokumentiert werden die Aktionen am 10. November mit Fotos und Texten auf einer eigenen Webseite und in einem gedruckten Katalog.

Zum Titelbild dieses Beitrags

Das Titelbild zu diesem Beitrag zeigt eine Figur aus der Figurengruppe “European Citizens” der Künstlerin Susanne Boerner mit der Fassade des Hauptgebäudes der Europäischen Kommission im Hintergrund.

Zu dieser Gruppe gehören 15 Figuren aus rostbehaftetem Stahl mit Keramikköpfen. Die Gruppe steht am Carrefour Jean Monnet am Hauptgebäude der EU-Kommission (Kreuzung der Rue Franklin, der Rue Stevin und der Rue Archimède) in Brüssel.

Aufgestellt wurde die Figurengruppe anlässlich der Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag der Unterschrift unter die römischen Verträge im März 2017. Gestiftet wurde die Figurengruppe von der Brüsseler Association des Commerçants.

Vielleicht hat die Künstlerin mit dem benutzten Material – Stahl – auf den Kohle- und Stahlvertrag als den Ursprung der EU anspielen wollen. Aus Stahl, so mag man diese Figurengruppe interpretieren, kann man auch etwas anderes machen als Waffen: zum Beispiel Kunst. Boshafte Stimmen könnten den Rost der Figuren als Sinnbild des akuten Zustands der EU deuten. Doch: Rost ist keineswegs nur ein Zeichen von Verwitterung oder Verfall. Rost schützt vielmehr den darunter liegenden Kern vor weiterer Erosion.

Foto: Jürgen Klute

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