Der Zusammenbruch der europäischen Friedensordnung von 1919/20 in historisch vergleichender Perspektive mit der „Zeitenwende“ von 2022

Von Friedhelm Grützner

In friedensbewegten Kreisen und innerhalb der „antiimperialistischen“ Linken wird seit dem Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine am 24.02.2022 immer wieder dessen „Vorgeschichte“ bemüht, um die russische Seite moralisch zu entlasten und dem Westen (USA, NATO und EU) zumindest eine Mitschuld an diesem Ereignis zuzuweisen. Dabei ist dieser Hinweis trivial. Denn alle Kriege verfügen über eine „Vorgeschichte“, weil sie in langfristige historische Prozesse eingebunden sind, die ihre Entstehung und ihren Verlauf erklären. Die „Vorgeschichte“ des Ersten Weltkrieges beginnt mit der deutschen Reichsgründung von 1871, die in der Mitte Europas einen bis dahin nicht existierenden Machtklotz schuf, wodurch das seit 1648 vorhandene europäische Mächtegleichgewicht von Grund auf verändert wurde. Der Friede von Frankfurt (1871) beraubte Frankreich seiner Provinzen Elsass und Lothringen, deren Wiedererwerb dauerndes französisches Politikziel blieb („Nie davon reden, aber immer daran denken“). Der Berliner Kongress von 1878 versuchte vergeblich, die Verhältnisse auf dem Balkan zu ordnen und die Konkurrenz zwischen Russland und Österreich-Ungarn in diesem Raum einzuhegen. Hinzu traten die zunehmenden Zerfallserscheinungen der Donaumonarchie, die innerhalb ihrer Grenzen der aufbegehrenden Nationen nicht mehr Herr wurde. Der Versuch Deutschlands, als stärkste Landmacht die britische Seemacht maritim herauszufordern und laut lärmend neben den etablierten Kolonialmächten einen weltpolitischen „Platz an der Sonne“ zu beanspruchen, schuf zusätzliche Spannungen. All dies zusammengenommen führte schließlich dazu, dass Großbritannien, Frankreich und Russland ihre bisher gegeneinander gerichteten imperialistischen Interessen ausglichen und sich ab 1907 zur Triple Entente zusammenfanden, um den ungebärdigen militärischen Machtklotz in Mitteleuropa einzudämmen. Deutschland fühlte sich wiederum von diesen Mächten böswillig „eingekreist“ und in seiner Entwicklung behindert.

Aber gleichwohl war der Ausbruch des Ersten Weltkrieges nicht zwangsläufig. Im Grunde leitete das Attentat in Sarajewo vom 28. Juni 1914 nur eine jener schon sattsam bekannten Balkankrisen ein, welche seit 1878 periodisch immer wieder diesen Winkel Europas erschüttert hatten, und die jedes Mal (mal recht und mal schlecht) durch die Großmächte beigelegt wurden. Es war die politische Entscheidung der deutschen Reichsleitung in den ersten Julitagen 1914, diese Balkankrise nicht mehr wie alle vorhergehenden diplomatisch zu „bearbeiten“, sondern sie zum Anlass zu nehmen, entweder durch einen „lokalisierten“ Krieg der Großmacht Österreich gegen den russischen „Klienten“ Serbien die Entente zu sprengen – oder es auf den „Großen Krieg“ ankommen zu lassen. Wie weiter unten ausgeführt enthielt auch die Friedensordnung der Pariser Vorortverträge von 1919/20 genügend Konfliktstoffe, welche nicht nur zur „Vorgeschichte“ des Zweiten Weltkrieges gehören, sondern bis in unsere Tage reichen. Sie waren durch den Kalten Krieg nur „eingefroren“ und sind seit 1990/91 wieder virulent. So konkurriert in der ethnischen Gemengelage mancher osteuropäischer Länder bis heute das nationale Selbstbestimmungsrecht mit der Unverletzlichkeit staatlicher Grenzen, was die russische Politik in der Ukraine weidlich auszunutzen bestrebt ist.

Konfliktbeladene „Vorgeschichten“ geben als objektive Gegebenheiten stets nur die Folie ab, auf deren Grundlage verantwortliche Politiker(innen) die subjektive Entscheidung treffen, ihre Interessen mit Gewalt durchzusetzen. Weder der deutsche Reichskanzler Bethmann Hollweg im Juli 1914 noch Hitler im August 1939 oder Putin im Februar 2022 waren durch eine „höhere“ Macht oder in einer akuten Notwehrsituation dazu gezwungen, den Krieg zu beginnen. Alle drei waren in ihrer Entscheidung frei, dies zu tun oder es zu lassen. Hinweise auf die „Vorgeschichten“ – so berechtigt sich die Geschichtswissenschaft ihrer annimmt – besitzen keine Entlastungsfunktion für die verantwortlich handelnden Akteure. Sie werden aber regelmäßig in apologetischer Absicht zur impliziten Rechtfertigung jener Politiker(innen) vorgetragen, die den Befehl zum ersten Schuss gaben.

Für den älteren Historismus ist jeder geschichtliche Vorgang einmalig, unwiederholbar und „unmittelbar zu Gott“ (Leopold von Ranke). Aber gleichwohl orientieren sich die Menschen an vergangenen Ereignissen und versuchen aus ihnen Lehren für die Gegenwart zu ziehen. Dies gilt gerade für Osteuropa, wo sich die Leute noch viel stärker mit der Geschichte ihres Landes identifizieren als dies hierzulande üblich ist. Angesichts des aktuellen russischen Krieges gegen die Ukraine sehen sich osteuropäische Politiker(innen) derzeit in eine Zeit zurückversetzt, als ihre Länder schon einmal als Manövriermasse der Großmächte dienten, um dann zwischen deren Mühlsteinen zerrieben zu werden. Aber Putin ist nicht Hitler! Ersterer mag sich auf einer „historischen Mission“ befinden, um die angeblich „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ für sein Land rückgängig zu machen, die westliche Präsenz im „nahen Ausland“ zu beenden, die Ukraine wieder in die „Russische Welt“ einzugliedern und Russlands hegemoniale Stellung in Osteuropa neu zu konstituieren – aber Putin verfolgt nicht wie Hitler eine Politik der Apokalypse, der mit seinem Judenmord und mit seinem „Lebensraum“-Programm ein neues Äon anstrebte. Putin betreibt eine klassische Revisionspolitik imperialen Zuschnitts, welche die Westmächte in den 1930er Jahren Hitler in einem begrenzten Rahmen zubilligen wollten, wobei sie übersahen, dass letzterer tatsächlich ein nicht verhandelbares Endzeitprojekt vertrat. Allerdings verfolgt Russland in den besetzten ukrainischen Gebieten eine Politik der „Entukrainisierung der Ukraine“ mit Deportationen, Kinderverschleppungen, Zwangsadoptionen und der Vernichtung ukrainischen Kulturguts, die fatal an die „Germanisierungen“ im Generalgouvernement Polen – und hier besonders an das „Wartheland“ unter dem NS-Gauleiter Arthur Greiser – während der deutschen Besetzung im Zweiten Weltkrieg erinnern.

Den grundlegenden Irrtum der Westmächte über Hitlers letzte Ziele vorausgesetzt stellt sich grundsätzlich die Frage, ob es wirklich dem Frieden dient, auch nichtapokalyptische und ganz „normale“ hegemoniale Ziele einer Großmacht, welche für sich „Zonen privilegierter Interessen“ reklamiert und diese mit einem „Interventionsverbot für raumfremde Mächte“ (Carl Schmitt) belegt sehen möchte, zumindest teilweise zu befriedigen, auch wenn dies gegen den Willen und auf Kosten kleinerer Länder erfolgt. Allein unter dieser restriktiven Bedingung, wo sich der Betrachter von heute am Wissensstand der Akteure von 1933 bis 1939 orientiert und den „Schleier des Nichtwissens“ über die apokalyptischen Endziele Hitlers geschlossen hält (und Putin diese auch nicht unterstellt), sind Vergleiche zwischen den 1930er Jahren und der derzeitigen Situation möglich.

I. Die Friedensordnung der Pariser Vorortverträge

Als Pariser Vorortverträge werden jene Friedensverträge bezeichnet, welche 1919/20 die siegreichen Alliierten des Ersten Weltkrieges mit ihren unterlegenen Kriegsgegnern abschlossen (Versailles = Deutsches Reich; Saint Germain = Republik Österreich; Neuilly-sur-Seine = Bulgarien; Trianon = Ungarn; – der mit dem Osmanischen Reich in Sèvres abgeschlossene Friedensvertrag wurde 1923 durch den Vertrag von Lausanne mit der Türkei ersetzt). Grundlage dieser Verträge waren (zumindest formal) die „14 Punkte“ des US-Präsidenten Woodrow Wilson, welche einer allgemeinen Friedensordnung den Weg bereiten und alle möglichen Kriegsursachen und Kriege im Keim ersticken sollten. Kerninhalte der „14 Punkte“ waren das Selbstbestimmungsrecht der Völker, umfassende Abrüstungsverpflichtungen und die Errichtung eines mit Zwangsbefugnissen ausgestatteten Völkerbundes (allerdings ohne eigene Truppen), um die Friedensordnung zu sichern und mögliche Aggressoren in die Schranken zu weisen.

Durch diese Friedensordnung entstand in Mittel- und Osteuropa eine neue Staatenwelt. Die drei übernationalen Imperien mit ihren theoretisch universalen Ansprüchen (das Osmanische Reich als Umma aller islamischen Gläubigen, Österreich-Ungarn als Fortsetzung des Heiligen Römischen Reiches und das zaristische Russland als „Drittes Rom“) verschwanden von der Landkarte und wurden durch Nationalstaaten ersetzt. Da aber die von ihren „Reichen“ emanzipierten Völker allesamt in Gemengelage lebten, stellten sich Fragen der Grenzziehung und des Umgangs mit nationalen Minderheiten. Dies führte zu ständigen ethnischen Konflikten innerhalb der Staaten und zu destabilisierenden „Irredenta“-Politiken der Nachbarn, welche sich den „unerlösten Brüdern“ außerhalb der Landesgrenzen zuwandten. Genau diese Schwachstellen der Pariser Friedensordnung machte sich später Hitler in der Frühphase seiner Expansionspolitik zunutze.

Sowjetrussland als Nachfolger des Zarenreichs war an der Pariser Friedensordnung nicht beteiligt. Als Verlierer des Weltkrieges und mit seinem eigenen Bürgerkrieg beschäftigt konnte es sich nicht der Bildung eigenständiger Nationalstaaten auf seinem Territorium erwehren. Finnland und die baltischen Staaten schieden 1917 /18 aus dem Reichsverband aus und weigerten sich, Sowjetrussland – und später der Sowjetunion – beizutreten. Auch die Ukraine erklärte im Jahre 1918 ihre nationale Unabhängigkeit, konnte sich aber gegen den vereinigten Widerstand der „Roten“, der „Weißen“ und der alliierten Interventionsmächte nicht durchsetzen. In der Folge wurde sie zum Spielball der russisch-polnischen Auseinandersetzung 1919-1921, in der beide Seiten jeweils historische Gründe für ihre Inbesitznahme ukrainischen Gebietes geltend machten. Am Ende erfolgte eine Teilung des Landes:Teile der Westukraine fielen an Polen, Rumänien und an die Tschechoslowakei, während das Zentrum, der Ost- und der Südteil der Sowjetunion zugeschlagen wurde.

Mit den Pariser Vorortverträgen betrat die Republik Polen 125 Jahre nach ihrer endgültigen Aufteilung unter den Ostmächten Russland, Österreich und Preußen (Deutschland) wieder die internationale Bühne. Die Adelsrepublik Polen-Litauen war zu Beginn des 18. Jahrhunderts noch eine europäische Großmacht gewesen, bevor mit dem Großen Nordischen Krieg (1700 – 1721) ihr Niedergang einsetzte, der 1795 mit der Auflösung ihrer staatlichen Existenz endete. Der wieder neu entstandene polnische Staat erhob den Anspruch, in die alten territorialen Rechte von 1772 eingesetzt zu werden, was zu erheblichen Gebietsforderungen an die Teilungsmächte Deutschland und Russland führte. Die deutsch-polnischen Grenzen waren (weitgehend) im Versailler Vertrag festgelegt worden, wodurch starke deutsche Minderheiten in Westpreußen und Oberschlesien zu polnischen Staatsbürgern wurden. Die polnischen Ostgrenzen blieben dagegen ungeklärt. Ihr Verlauf wurde im polnisch-sowjetischen Krieg von 1919 – 1921 ausgefochten und im Frieden von Riga festgelegt. Im Ergebnis war Polen ein Staat, der erhebliche deutsche, ukrainische und belarussische Minderheiten umfasste, wodurch vor allem Deutschland zu einer aktiven „Irredenta“-Politik in Oberschlesien und im „Korridor“ eingeladen wurde. Die Polen wiederum behandelten ihre Minderheiten schlecht, so dass sich die Konflikte wechselseitig hochschaukelten. Deutschland und die Sowjetunion waren sich schon 1919/20 darin einig, dass der polnische „Saisonstaat“ früher oder später wieder zu verschwinden habe. Die polnische Minderheitenpolitik trug in der Westukraine zum Aufstieg der rechtsradikalen OUN und ihres Führers Stepan Bandera bei, dessen erstes terroristisches Verbrechen die Ermordung eines polnischen Ministers war.

Die Friedensordnung der Pariser Vorortverträge beendete auch die Existenz der Donaumonarchie, in der Deutsch-Österreicher und Ungarn ihre jeweiligen slawischen „Untertanen“ gemeinsam unterdrückt hatten. Besonders schmerzlich war für Ungarn der Vertrag von Trianon, durch den das Land 70 % seines Territoriums und 62 % seiner Bevölkerung verlor. Während der Versailler Vertrag für die Deutschen im Jahre 2024 nur noch eine ferne Erinnerung ist, lebt der Vertrag von Trianon im historischen ungarischen Gedächtnis von heute als ein Dokument der Schande und der nationalen Erniedrigung fort. Victor Orban wühlt immer wieder in dieser nationalen Wunde und nutzt sie als Ressource für seine Popularität. Aber auch der deutsch-österreichische (cisleithanische) Teil der Donaumonarchie musste im Vertrag von St. Germain erhebliche Verluste hinnehmen und sich mit jenen Grenzen begnügen, welche heute noch für die Republik Österreich gelten. Zur cisleithanischen Reichshälfte gehörte das Königreich Böhmen, das im Alten Reich die Erste Kurstimme stellte und noch im Verständnis der demokratischen Großdeutschen von 1848 (einschließlich Marx und Engels) als integraler Bestandteil „Deutschlands“ betrachtet wurde. Aus dem Königreich Böhmen, dem Herzogtum Mähren und aus slawischen Gebieten, welche einst zum Königreich Ungarn gehört hatten (wie die Slowakei) formte sich die Tschechoslowakei, die ein echter Vielvölkerstaat mit mehreren Ethnien war (Tschechen, Slowaken, Deutsche, Ungarn und Karpatho-Ukrainern). Die Tschechoslowakei war das einzige Land in Osteuropa, das bis zu seinem Untergang 1938/39 seine liberal-demokratische Ordnung bewahren konnte und politischen Flüchtlingen aus NS-Deutschland eine sichere Bleibe bot. Aber gleichwohl wurde es zum Paradebeispiel dafür, wie ein Staat durch eine von außen gesteuerte „Irredenta“-Politik, in der nationale Minderheiten mobilisiert werden, zuerst destabilisiert und dann zum Verschwinden gebracht werden kann.

Wenn wir von den Vertreibungen der Deutschen aus den ehemaligen Ostgebieten und aus dem Sudetenland nach 1945 absehen, dann blieb die ethnische Gemengelage in Osteuropa als Erbe der einstigen übernationalen Reiche auch nach Ende des Zweiten Weltkrieges erhalten. Zwar führten die Tschechen und Slowaken 1992 eine friedliche Teilung ihres ehemaligen gemeinsamen Staates herbei, aber die Ungarn gedenken immer noch der 1920 „verlorenen Brüder und Schwestern“ im rumänischen Siebenbürgen und anderswo. Die Neukonstituierung von Nationalstaaten auf dem Boden des ehemaligen Jugoslawien in den 1990er Jahren gestaltete sich ausgesprochen blutig. Mit diesen sich aus den Gemengelagen ergebenden Problemen sind auch die 1991 aus dem russländischen Imperium (respektive Sowjetunion) ausgeschiedenen Nationalstaaten konfrontiert, deren machtpolitische Instrumentalisierung durch die Russische Föderation wir seit 2014 beobachten können.

II. Der Versailler Vertrag und sein Beitrag zum Beginn des Zweiten Weltkrieges

Der dem Deutschen Reich 1919 in Versailles aufoktroyierte Friedensvertrag war gewiss nicht von staatspolitischer Weisheit geprägt. Er enthielt demütigende Elemente wie den „Kriegsschuldartikel“ 231, die bis 1935 vorgesehene militärische Besetzung des Rheinlandes durch die Alliierten und die Reduzierung der Armee auf ein 100 000-Mann-Heer zuzüglich eines Verbots schwerer Waffen. Auch die Errichtung einer Luftwaffe wurde untersagt und der Bau von Kriegsschiffen strikt begrenzt. Ökonomisch unsinnig und auch für die Weltwirtschaft kontraproduktiv waren die umfangreichen (und zunächst überhaupt nicht bemessenen) Reparationszahlungen, mit denen Deutschland nach dem „Verursacherprinzip“ für alle Schäden aufkommen sollte, die der Krieg bei seinen Feinden hinterlassen hatte. Hart wirkten auch (zumindest für die Zeitgenossen) die umfangreichen Gebietsabtretungen, die dem Deutschen Reich auferlegt wurden. Allerdings relativieren sich diese bei genauerer Betrachtung: Elsass-Lothringen war 1871 gegen den Willen der ansässigen Bevölkerung vom Reich annektiert worden, und Frankreich sah in seinem Rückerwerb nur die Wiedergutmachung alten Unrechts. Mit der „Rückerstattung“ Nordschleswigs an Dänemark wurde von den Alliierten der Artikel 5 aus dem Prager Friedensvertrag von 1866 zwischen Österreich und Preußen wieder in Kraft gesetzt, nachdem die beiden Vertragsparteien diesen 1879 einvernehmlich aufgehoben hatten. Die „Wiederauferstehung“ Polens als Nationalstaat bedeutete zwingend den Verlust polnischen Siedlungsgebietes im Osten (Westpreußen, Posen, Teile Oberschlesiens), das sich Preußen in den drei polnischen Teilungen (1772, 1793, 1795) angeeignet hatte. Da Polen in den „14 Punkten“ des US-Präsidenten Wilson auch „ein Zugang zum Meer“ zugesichert worden war, erhielt es den als „polnischer Korridor“ apostrophierten ethnisch gemischt besiedelten Teil Westpreußens mit Gdingen als Hafen. Danzig wurde zur „Freien Stadt“ außerhalb des Reichsgebietes erklärt und stand (mit einigen polnischen Vorrechten) unter der Oberhoheit des Völkerbundes. Als grundlegendes Problem erwies sich in der Folge auch hier die für Osteuropa typische ethnische Gemengelage zwischen Deutschen („Volksdeutschen“) und Polen in den Grenzgebieten, die zwischen beiden Staaten zu ständigen Ärgernissen führte, und die sich immer wieder machtpolitisch instrumentalisieren ließen.

Den Versailler Vertrag lehnten in Deutschland alle politischen Parteien von rechts bis links als „Diktat“ ab. Tatsächlich weigerte sich die Nationalversammlung in Weimar zunächst, ihn zu ratifizieren. Sie tat dies erst nach einer ultimativen Drohung der Alliierten, die Feindseligkeiten wieder aufzunehmen und ins Reichsgebiet einzumarschieren. Völkerrechtlich galt der Vertrag zwar als legal zustande gekommen und war damit international geltendes Recht, aber die betroffenen Deutschen (und ihre politischen Eliten) empfanden ihn als ein aufgezwungenes Unrecht, dessen Revision und dessen illegale Umgehung sie als politisch legitim erachteten. Unmittelbar nach Abschluss des Versailler Vertrages begann seine Verletzung. Dies geschah vor allem auf militärischem Gebiet, wozu ab 1922 die Sowjetunion ihre hilfreiche Hand darbot. Auch heute können wir beobachten, dass Friedensverträge (oder vergleichbare Abkommen, die auf ein „Einfrieren“ bewaffneter Konflikte ausgerichtet sind), nur unvollkommen und widerwillig von den Betroffenen eingehalten werden, weil sie diese als militärisch erzwungen und/oder als von außen aufoktroyiert betrachten, womit ihnen die Legitimität abgesprochen wird. Jede Friedensregelung steht daher vor der schwierigen Aufgabe, Kompromisse zu finden, die nicht nur legal gelten, sondern deren Ergebnisse von beiden Seiten auch als gerecht und damit als legitim erachtet werden.

Von Anfang an waren die Regierungen der Weimarer Republik bestrebt, den ihr auferlegten Versailler Vertrat nicht nur zu umgehen, sondern ihn auch „legal“ zu revidieren. Zunächst geschah dies in offen konfrontativer Form, wozu auch das mit der Sowjetunion in Rapallo 1922 abgeschlossene Abkommen gehörte. Den Höhepunkt erreichte diese Konfrontationsstrategie im „Ruhrkampf“ von 1923, als Frankreich und Belgien wegen ausbleibender Reparationszahlungen des Ruhrgebiet besetzten und die deutsche Regierung den „passiven Widerstand“ ausrief. Unterm Strich war dieser aber ein einziges politisches und ökonomisches Desaster, weshalb ihn der im September 1923 neuernannte Reichskanzler Gustav Stresemann noch im gleichen Jahr beendete. Aber auch Stresemann war ein Revisionspolitiker, der den Versailler Vertrag in seinen Grundelementen verändern wollte. Allerdings verfolgte er dieses Ziel in seiner langen Zeit als Außenminister (bis 1929) in flexibler Weise und in kooperativen Formen. Im Jahre 1925 gelang es ihm, Deutschland durch den Vertrag von Locarno aus der außenpolitische Isolierung herauszuführen. Es wurde Mitglied des Völkerbundes. Das Ruhrgebiet wurde von den Besatzungsmächten wieder geräumt. Die im Versailler Vertrag bis 1935 vorgesehene militärische Besetzung des Rheinlandes sollte bereits im Jahr 1930 enden. Im Gegenzug stimmte Deutschland einer dauerhaften Entmilitarisierung dieses Landstrichs zu, womit es den französischen Sicherheitsinteressen entgegenkam. Deutschland, Frankreich und Belgien anerkannten wechselseitig und definitiv die in Versailles festgelegten Grenzen, welche von Großbritannien und Italien in beiden Richtungen „robust“ garantiert wurden. Aber ein „Ost-Locarno“ gab es nicht. Polen und die Tschechoslowakei mussten sich mit internationalen Schiedsgerichten begnügen und ansonsten im Kriegsfall auf die Bündnistreue Frankreichs vertrauen. Es war die erklärte Absicht Stresemanns, mit der definitiven und international garantierten Festschreibung der deutschen Westgrenze das polnisch-französische Bündnis zu entwerten und sich eine Revision der Ostgrenze offenzuhalten. Denn wenn Frankreich in einem wegen Grenzstreitigkeiten ausgebrochenem deutsch-polnischen Krieg den Polen hätte zur Hilfe eilen wollen, hätte es die von Großbritannien und Italien garantierte deutsche Westgrenze verletzten müssen.

Hinter der Entspannungspolitik auf dem Kontinent stand vor allem Großbritannien. Dessen traditionelles Bestreben, auf dem Kontinent eine „balance of power“ herzustellen und das Entstehen einer europäischen Hegemonialmacht zu verhindern, kam Deutschland während der Weimarer Jahre zugute. Mit dem Machtantritt der Nazis am 30. Januar 1933 änderten sich die Voraussetzungen der britischen Entspannungspolitik allerdings radikal, was die Westmächte eigentlich erst im August 1939 so richtig begriffen haben.

III. Die Aushöhlung der europäischen Friedensordnung 1933 – 1936

Die Friedensordnung der Pariser Vorortverträge sollte nach dem Willen ihrer „Macher“ bewirken, dass sich niemals wieder eine solche Katastrophe wie der „Große Krieg“ von 1914-1918 auf europäischem Boden ereignen würde. Er hatte für die damalige Zeit unvorstellbare 17 Millionen Kriegstote gekostet. Seine ökonomischen Folgen waren auch für die Siegerstaaten desaströs. Belgien und Nordfrankreich als Schauplätze der Kämpfe waren verwüstet. Hinzu kamen zerrüttete Finanzen und wirtschaftliche Verwerfungen. In Westeuropa beherrschte deshalb eine breite pazifistische Grundströmung die öffentlichen Diskurse, welche Regierungen demokratischer Gemeinwesen berücksichtigen müssen. Darüber hinaus hatten aber auch viele aktive Politiker dieser Zeit als Soldaten das Grauen der Schützengräben selbst erlebt, was ihr Verhalten mitbestimmte. Das Massensterben an den Fronten und die Zerstörungen, die der Weltkrieg in den Volkswirtschaften und im zivilen Leben hinterlassen hatte, müssen als prägende Erfahrung einer ganzen Generation herangezogen werden, wenn wir die Appeasementpolitik der 1930er Jahre historisch gerecht beurteilen wollen. Aus dieser Perspektive wird es auch verständlich, dass der britische Premierminister Neville Chamberlain und sein französischer Amtskollege Edouard Daladier im September 1938 nach dem Abschluss des Münchener Abkommens mit fast hysterischem Jubel in ihren Heimatländern begrüßt wurden, obwohl sie gerade in schändlicher Weise vor Hitler kapituliert und die Tschechoslowakei als Bündnispartner verraten hatten. Sie hatten aber den „Frieden“ gerettet – und allein das zählte zu dieser Zeit für die Menschen in Großbritannien und Frankreich.

Ein Vergleich dieser Stimmungen aus den 1930er Jahren mit den pazifizierten Zivilgesellschaften in Mittel- und Westeuropa von heute ist nur partiell möglich. Denn während die damalige Friedenssehnsucht ganz realen Erlebnissen der Zeitgenossen im und nach dem „Großen Krieg“ entsprang, können die europäischen Gesellschaften von heute – trotz des Kalten Krieges von 1948 bis 1989 – auf eine fast 80jährige Friedensperiode zurückschauen, in denen alle Konflikte auf dem Kontinent friedlich auf dem Verhandlungswege gelöst werden konnten und ein konventioneller Staatenkrieg, wie er derzeit von Russland gegen die Ukraine geführt wird, undenkbar erschien. An dieser Stelle muss auch betont werden, dass die Friedensbewegung der 1980er Jahre die westlichen Gesellschaften und die in ihr handelnden Politiker(innen) geprägt hat. Die Vorstellung, dass „Kriege keine Probleme lösen“ und sich die Beteiligten nur an einen Tisch setzen müssten, um auf dem Verhandlungswege eine allen Seiten gerecht werdende Lösung zu erreichen, ist tief in das allgemeine europäische Bewusstsein eingedrungen. Dass nun überraschenderweise Ende Februar 2022 in Europa eine atomare Großmacht kriegerische Gewalt als politische Machtressource offensiv und zielorientiert gegen ein Nachbarland einsetzt, um dieses gefügig zu machen, erzeugt bei Beobachtern und politischen Akteuren kognitive Dissonanzen, welche teilweise ausgesprochen wunderliche Ergebnisse zeitigen können. Da werden der „Diplomatie“ landauf landab geradezu magische Kräfte zugesprochen, deren schlichte Erwähnung alle Beteiligten dazu veranlassen würde, sich in bester Absicht um einen Tisch zu versammeln, um eine gemeinsame Lösung zu finden. Dass Gewalt (oder ihre Androhung) als politische Machtressource genutzt werden kann, um den eigenen Willen anderen aufzuzwingen, gerät auf diese Weise aus dem Blick.

Die nachgeborenen Historiker sind immer klüger als die Zeitgenossen, mit denen sie sich beschäftigen. Sie kennen die Folgen ihrer Politik, die sie beschreibend analysieren. Sie verfügen auch aufgrund der Quellen über Kenntnisse, die den Akteuren vor Ort verwehrt waren. Sie können anhand umfangreicher Quellenbestände Hitlers Motive und sein Vorgehen minutiös nachzeichnen und die Fehlwahrnehmungen der Appeasement-Politiker dem entgegenstellen. Letztere sahen in dem neuen Reichskanzler zunächst „nur“ einen zwar recht rabiaten, aber doch „normalen“ Revisionspolitiker, der sich auf diesem Gebiet im Großen und Ganzen in der Kontinuität der Weimarer Republik bewegte. Hitler verstand es, an diese Erwartungen anzuknüpfen und jeden seiner spektakulären Vertragsbrüche, welche die Machtverhältnisse auf dem Kontinent fundamental verändern sollten, mit Friedensschwüren zu garnieren. Unter den europäischen Staatsmännern fehlte es an „Hitler-Verstehern“, die ihn als einen Politiker sui generis erkannten, welcher nicht eine konventionelle Revisionspolitik betrieb, sondern diese nur als Vorlauf für seine eschatologisch-apokalyptisches Endzeitvision des Tausendjährigen Reiches betrachtete. An dieser Stelle irrte auch Stalin, der bis zum 22. Juni 1941 in Hitler einen ihm nicht unähnlichen rational kalkulierenden Machtpolitiker sah.

Den Auftakt bildete Hitlers „Friedensrede“ vor dem Reichstag am 17. Mai 1933, mit der er den Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund und das Verlassen der Abrüstungskonferenz in Genf vorbereitete. Zunächst beklagte er (wie alle deutschen Regierungen vor ihm) aus der Position des Underdogs die angeblichen Ungerechtigkeiten, denen Deutschland nach 1919 trotz seiner „selbstmörderischen Vertragserfüllung“ durch die Siegermächte ausgesetzt gewesen war. Daraus leitete er die Forderung nach einer gleichberechtigten Teilhabe des Reichs im „Konzert der Mächte“ ab, worunter er vor allem die militärische Gleichberechtigung verstand. Dies alles wurde eingebettet in wohltönende Phrasen über den Frieden und das Selbstbestimmungsrecht der Völker. „Wir sehen die europäischen Nationen um uns als gegebene Tatsache. Franzosen, Polen, usw. sind unsere Nachbarvölker, und wir wissen, dass kein geschichtlich denkbarer Vorgang diese Wirklichkeit ändern könnte.“ Aber leise drohend hieß es auch: „Als dauernd diffamiertes Volk würde es uns auch schwerfallen, noch weiterhin dem Völkerbund anzugehören“, womit der eigentliche Zweck der Rede angedeutet wurde. Aber zunächst war alle Welt beruhigt, und der Reichstag stimmte (einschließlich der noch vorhandenen SPD-Restfraktion) dem Inhalt der Rede einstimmig zu. Im Oktober trat Deutschland schließlich aus dem Völkerbund aus und verließ die Abrüstungskonferenz in Genf, weil es sich mit den Westmächten nicht über seine „Gleichberechtigung“ auf militärischem Gebiet einigen konnte.

Die nun folgenden Vertragsbrüche wurden von der deutschen Regierung stets mit lautstarken Friedensbekundungen verbunden. Die schon immer recht löcherigen Demilitarisierungsbestimmungen des Versailler Vertrages, welche von den Regierungen der Weimarer Republik ständig umgangen wurden (Schwarze Reichswehr, Zusammenarbeit von Reichswehr und Roter Armee etc.) wurden nun offen nicht mehr eingehalten. 1935 führte Deutschland vertragswidrig die Allgemeine Wehrpflicht wieder ein und legte seine – ihm ebenfalls untersagte – Luftrüstung offen. Im selben Jahr vereinbarte Großbritannien mit Hitler ein Flottenabkommen, womit es implizit die deutschen Vertragsbrüche auf dem Gebiet der „Wehrhoheit“ anerkannte.

Den ersten wirklichen Coup landete Hitler mit der militärischen Besetzung des Rheinlandes am 06.03.1936. Damit brach er gleich zwei Verträge, nämlich den Versailler Friedensvertrag und den Vertrag von Locarno, der Frankreich eine dauerhaft entmilitarisierte Zone links des Rheins als Puffer zusicherte. Begleitet wurde diese flagrante Verletzung völkerrechtlich verbindlicher Verträge mit den üblich Friedensschwüren und dem Vorschlag, auf der Grundlage des vollzogenen fait accompli in neue Verhandlungen über Nichtangriffspakte einzutreten. Auch den Wiedereintritt in den Völkerbund stellte Deutschland in Aussicht. Selbstverständlich blieb das alles Schall und Rauch. Die deutsche Führung war sich bewusst, dass ihr Coup hochriskant war. Deutschland war noch nicht in der Lage, ernsthaft einen Krieg zu führen. Den drei leichtbewaffneten deutschen Infanteriebataillonen – die Tag und Nacht marschieren mussten, um eine größeren Truppenstärke vorzutäuschen – standen mehrere französische Divisionen gegenüber, gegen die sie keine Chance gehabt hätten. Hitler selbst hatte ausdrücklich Befehl gegeben, beim geringsten Anzeichen einer militärischen Reaktion die Aktion sofort abzubrechen und den Rückzug anzutreten. Zu diesem Schritt war die französische Regierung zunächst auch entschlossen, aber ihre Generalität befürchtete das Schlimmste. Der Oberkommandierende General Gamelin sah im Falle eines Versuchs, die einmarschierenden drei deutschen Bataillone aus dem Rheinland herauszuwerfen, die Gefahr eines richtigen Krieges. Die Maginot-Linie müsse besetzt werden und eine Generalmobilmachung sei notwendig, wozu Frankreich aber derzeit nicht in der Lage sei. – und ohne die Unterstützung Großbritanniens sei jede militärische Aktion gegen den deutschen Vertragsbruch sowieso aussichtslos. Die Briten weigerten sich jedoch, den Bündnisfall zu erklären. So begnügten sich denn die beiden Westmächte damit, in Berlin ihre Protestnoten zu überreichen.

Bei der Rheinlandbesetzung haben wir es mit einem jener Kipppunkte im historischen Geschehen zu tun, wo der subjektive Faktor voll zur Geltung kommt, und an dem der Geschichtsverlauf auch eine ganz andere Richtung hätte nehmen können. Hitlers Vabanquespiel hätte bei einem militärisch entschlossenem Auftreten Frankreichs zu einem schmählichen Rückzug geführt, der ihn – wenn dann auch noch mit französischen „Strafmaßnahmen“ verbunden – in aller Öffentlichkeit blamiert und die charismatische Grundlage seiner Herrschaft in Frage gestellt hätte. Hitlers Erkenntnis, dass ihn gegen alle Zweifler sein politischer Instinkt nicht betrogen, und er das passive Verhalten der Westmächte richtig vorhergesehen habe, steigerte sein Selbstvertrauen ins Grenzenlose, was dann sehr viel später zu seinen schweren politischen Fehleinschätzungen führte. Wenn wir aber die Perspektive wechseln und an dieser Stelle die Motive vor allem Großbritanniens betrachten, so muss sein „schlechtes Gewissen“ wegen des Versailler Vertrages berücksichtigt werden. Sollten die Westmächte wirklich wegen des Rheinlands einen großen Krieg mit all seinen Opfern an Gut und Blut heraufbeschwören? War der deutsche Wunsch nicht irgendwie verständlich, die volle Verfügung über das eigene Territorium wieder zu erlangen? Hitler hatte doch erneut ausdrücklich auf jede Eroberung fremden Territoriums verzichtet und beanspruchte nur die volle Souveränität über deutsches Staatsgebiet. Warum sollten die Westmächte in den Krieg ziehen, wenn die andere Seite mit dem Abschluss von Nichtangriffsverträgen winkte und versprach, die Beziehungen auf eine neue Grundlage zu stellen? Wer konnte sich solchen Verhandlungsangeboten guten Gewissens entziehen?

IV. Das Münchener Abkommen von 1938, die Danziger Krise von 1939 und die Grenzen der Friedenspolitik

Die Pariser Friedensordnung ruhte u.a. auf dem Pfeiler des nationalen Selbstbestimmungsrechts. Wie oben schon beschrieben, stieß sich dieses hehre Prinzip an den ethnischen Gemengelagen in Osteuropa. Dies galt auch für den deutschsprachigen Raum, in dem die 1871 herbeigeführte kleindeutsche Nationalstaatsgründung von den großdeutschen Traditionen des übernationalen Alten Reichs überlappt wurde, welche aber einer ganz anderen Zeit und Vorstellungswelt entstammten. Außerhalb des kleindeutschen Nationalstaates befanden sich seit 1867/71 die Deutsch-Österreicher und die Sudetendeutschen im Königreich Böhmen, welche die politischen Eliten im cisleithanischen Teil des Habsburger Vielvölkerreichs stellten. Mit der Auflösung der Donaumonarchie und der Bildung von Nationalstaaten auf ihrem ehemaligen Territorium stellte sich die Frage, ob auch diese bisher außerhalb des Deutschen Reichs lebenden cisleithanischen Deutschen das nationale Selbstbestimmungsrecht für sich beanspruchen könnten. Dies hätte allerdings das Ergebnis des Ersten Weltkrieges auf den Kopf gestellt und einen noch größeren Machtklotz in Mitteleuropa geschaffen, als er vor 1914 ohnehin schon bestand. Bereits die Bildung des kleindeutschen Nationalstaats von 1871 lief auf eine „Revolution“ des europäischen Machtgleichgewichts hinaus und war nur durch das geschickte Ausnutzen einmaliger Umstände möglich gewesen. Folgerichtig untersagten die Friedensverträge von Versailles und St. Germain dem Deutschen Reich und der Republik Deutsch-Österreich die „Wiedervereinigung“. Als 1930/31 die deutsche Regierung den Versuch unternahm, mit Deutsch-Österreich eine Zollunion zu vereinbaren, setzte Frankreich zusammen mit Großbritannien und der Tschechoslowakei alle ihm zur Verfügung stehenden völkerrechtlichen und finanziellen Mittel ein, um dieses Projekt zu verhindern. Umso erstaunlicher war es dann, dass dieselben Länder 1938 den Gewaltakt widerstandslos hinnahmen, mit dem Deutschland den „Anschluss“ Österreichs gegen alle völkerrechtlichen Grundsätze vollzog. Mussolini, der 1934 beim versuchten Nazi-Putsch in Wien noch Truppen am Brenner aufmarschieren ließ, hatte das Lager gewechselt und tolerierte das deutsche Vorgehen. Für die Tschechoslowakei mit ihrer starken deutschen Minderheit wurde die Lage nun brenzlig. Sie war im Norden, Westen und Süden von deutschem Territorium umgeben und konnte nur hoffen, dass Frankreich zu seinen Bündnisverpflichtungen stand, wenn sich das deutsche Interesse dem Sudetenland zuwandte.

Die Sudetenkrise von 1938 und das Münchener Abkommen, der Bruch dieses Abkommens durch Hitler am 15.03.1939 sowie die unmittelbar darauf folgende Danziger Krise, welche am 01.09.1939 in den deutschen Überfall auf Polen einmündete, sollten als ein zusammenhängendes Ganzes betrachtet werden. Denn in ihrem eskalierenden Verlauf werden die Grenzen einer allein auf Friedenssicherung angelegten Politik aufgezeigt, wenn ein Verhandlungspartner nur darauf aus ist, seine maximalen politischen Ziele auch maximal durchzusetzen und die Verhandlungen ausschließlich dem Zweck widmet, das ausersehene Opfer diplomatisch von seinen (potentiellen) Bündnispartnern zu isolieren. Angehörige des linken politischen Spektrums sollten sich vergegenwärtigen, dass für die westlichen bürgerlichen Demokratien das Münchener Abkommen von 1938 ein ähnliches Trauma darstellt wie für die (deutsche) Arbeiterbewegung der 4. August 1914, als die deutsche Sozialdemokratie im Reichstag den Kriegskrediten zustimmte. Wenn es heute darum geht, den Krieg Russlands gegen die Ukraine durch ein Arrangement der Großen Mächte (USA, Russland, China, Indien und EU) diplomatisch beizulegen, dann wird zumindest bei den Westeuropäern die „Schande“ von München als Warnung stets präsent sein, während die Osteuropäer einen erneuten „Verrat“ wittern.

Hitler zielte in der Sudetenkrise ähnlich wie schon in seinen Coups zuvor auf die Schwachstellen und Widersprüchlichkeiten der Pariser Friedensordnung. Die ca. 3 Millionen Sudetendeutschen innerhalb der Tschechoslowakei waren unzweifelhaft ethnische Deutsche – und Hitler machte für sie das in den Pariser Vorortverträgen verankerte nationale Selbstbestimmungsrecht geltend. Mit der Sudetendeutschen Partei unter Konrad Henlein verfügte er auch über eine wirksame Massenorganisation, die bei den letzten tschechoslowakischen Wahlen von 1935 gesamtstaatlich die stimmenstärkste Partei wurde und damit zu einem innenpolitischen Machtfaktor innerhalb des Landes heranwuchs. In seinen Verhandlungen mit der Prager Regierung forderte Henlein auf Anweisung Hitlers immer mehr, als ihm die Gegenseite zu gewähren bereit war. Daneben rührten letzterer und Goebbels eifrig die Propagandatrommel und beklagten in allen damals zur Verfügung stehenden Medien die angeblichen Repressionen und Verfolgungen, welche die verzweifelten sudetendeutschen „Volksgenossen“ unter dem tschechischen Joch erdulden mussten. Ähnlichkeiten mit Putins Klagen über die angebliche Diskriminierung und Missachtung russischer „Landsleute“ ab 2014 in der Ukraine sind wohl nicht rein zufällig. Hier wie dort erkennen wir ein altbekanntes Schema, nationale Minderheiten in den Nachbarländern aufzuhetzen, um Vorwände für kriegerische Aktionen und Grenzverschiebungen zu schaffen.

Die Tschechoslowakei und die Ukraine entstanden zu verschiedenen Zeitpunkten beide auf dem Boden zerfallender übernationaler Reiche. Erstere durch die Auflösung der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie in den Friedensverträgen von St. Germain (1919) und Trianon (1920), letztere durch die Beloweschen Vereinbarungen zwischen Russland, Belarus und der Ukraine sowie dem anschließenden Vertrag von Alma Ata im Dezember 1991, mit denen die Sowjetunion ihr Dasein beendete. Dem übernationalen Charakter der sich auflösenden Reiche entsprechend verfügten die Tschechoslowakei und verfügen die Ukraine von heute als Nachfolgestaaten über erhebliche nationale Minderheiten, welche es in einer die Ethnien überwölbenden Staatsbürgernation zu integrieren galt und zu integrieren gilt, die aber auch von außen instrumentalisiert werden konnten und können, um die legitime Existenz der Staaten insgesamt in Frage zu stellen. Die Tschechoslowakei der 1930er Jahre und die Ukraine ab 2014 teilten und teilen beide das Schicksal, dass ihre staatliche Existenzberechtigung durch die Staatschefs großer Nachbarn (Hitler in Deutschland und Putin in Russland) aus historischen und ethnischen Gründen bezweifelt wurde und wird. Für Hitler als ehemaligem Österreicher gehörten das Königreich Böhmen und das Herzogtum Mähren immer schon zum großdeutschen Raum, in dem die Tschechen als slawische Unterschicht allenfalls geduldet wurden..Ähnlich sieht es Putin, für den die Ukraine als eigenständige politische Einheit erst von den Bolschewiki geschaffen worden sei, die aber historisch, ethnisch und kulturell immer schon zu Russland gehörte („unsere Gebiete“), und deren Bewohner zusammen mit den Russen „ein Volk“ bilden. Hitler sah in der Tschechoslowakei ein „russisches Flugzeugmutterschiff“, das in den großdeutschen Raum direkt hineinragte und damit seine geplante Expansion nach Osten behinderte. Die russische Politik betrachtet spätestens seit Mitte des 19. Jahrhundert die Ukraine als ihr geopolitisches Zentrum, von dessen Besitz ihre Großmachtstellung in Osteuropa abhängt. Bereits in der Vergangenheit hätten „Intrigen“ ausländischer Mächte stattgefunden, welche darauf abzielten, der Ukraine eine eigene nationale Identität einzureden. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert wären es vorzugsweise die Polen und die Österreicher gewesen, welche sich dahingehend betätigten, während heute der „kollektive Westen“ aus USA, NATO und EU beabsichtige, das Russländische Imperium dauerhaft auf die Grenzen des Großfürstentums Moskau zurückzuwerfen und sich an seiner Stelle in der Ukraine geostrategisch festzusetzen. Auf diese historische Kontinuität weist Putin in seinem völkischem Pamphlet vom Juli 2021 ausdrücklich hin. Für ihn ist die russische Kontrolle über die Ukraine die Voraussetzung dafür, eines Tages „die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ zu korrigieren und als wieder erstarkte Großmacht zwischen der Ostsee und dem Schwarzen Meer jene Hegemonialstellung erneut erringen zu können, die einst das zaristische Russland und später die Sowjetunion in diesem Raum einnahm.

Frankreich sah sich 1938 nicht in der Lage, allein und ohne britische Unterstützung seinen Bündnisverpflichtungen gegenüber der Tschechoslowakei nachzukommen. Seine Militärdoktrin war defensiv ausgerichtet und sah vor, sich zunächst hinter der Maginot-Linie zu verschanzen. Ein offensives französisches Vorgehen war durch die deutsche Besetzung des einst entmilitarisierten Rheinlandes im Jahre 1936 erschwert worden. Aber auch die Briten meinten, rüstungstechnisch nicht auf einen Krieg vorbereitet zu sein und drängten Frankreich sowie die Tschechoslowakei, mit Deutschland über eine diplomatische Lösung der Sudetenfrage zu verhandeln. Bis heute ist strittig, ob das Deutsche Reich tatsächlich 1938 einer militärische Kraftprobe mit den Westmächten und der Tschechoslowakei gewachsen gewesen wäre. Die Tschechoslowaken wollten kämpfen. Sie verfügten über 21 Divisionen und konnten im Mobilisierungsfall knapp 1 Million Soldaten aufbieten. Ihre Rüstungsindustrie (Skoda-Werke) befand sich auf dem modernsten Stand, und die Befestigungsanlagen in den gebirgigen Grenzregionen waren nur schwer zu überwinden. Deutschland hätte militärisch in eine prekäre Lage kommen können, wenn ihm Frankreich bei einem Vorstoß nach Osten in den Rücken gefallen wäre und Großbritannien gleichzeitig mit seiner Flotte die deutschen Häfen wie im Ersten Weltkrieg blockiert hätte.

London und Paris entschieden sich allerdings anders. Die ca. 3 Millionen Sudetendeutschen pochten auf ihr nationales Selbstbestimmungsrecht und wollten offensichtlich partout „heim ins Reich“. Hitler hatte außerdem hoch und heilig versprochen, dies sei seine „letzte territoriale Forderung“. Neben einer unzureichenden Luftverteidigung plagte die Briten im Fall eines Krieges in Europa überdies die imperiale Konkurrenz mit Japan in Ostasien und ein möglicher geopolitischer Gewinn der Sowjetunion in Osteuropa. Auch waren ihnen die wirtschaftlichen Risiken eines Krieges bewusst. Der britische Premierminister Neville Chamberlain vertrat (wie Christian Lindner heute) die These, dass ein ausgeglichener Haushalt und die damit verbundene Stabilität der britischen Finanzen eine bessere Sicherheit gewähren würde als eine volkswirtschaftlich unproduktive Aufrüstung. Hinzu kam, dass 1938 sowohl die britische als auch die französische Öffentlichkeit in Erinnerung an die Massenabschlachtungen von 1914-1918 nicht bereit war, für den Erhalt der Tschechoslowakei in den Grenzen von 1918 in den Krieg zu ziehen.

Nachdem Großbritannien und Frankreich die Tschechoslowakei genötigt hatten, das Sudetenland an Deutschland abzutreten, reiste Chamberlain am 22. September 1938 nach Bad Godesberg, um Hitler die westliche Kapitulation zu überreichen. Der „Führer“erklärte jedoch überraschend, dass ihm diese nicht ausreiche. Inzwischen hätten auch Polen und Ungarn ihre Ansprüche angemeldet, die ebenfalls befriedigt werden müssten. In einem Chamberlain überreichten Memorandum wurden die zusätzlichen deutschen Forderungen aufgeführt und ein Ultimatum bis zum 01. Oktober 1938 gestellt, bei dessen Nichterfüllung die deutschen Truppen in die Tschechoslowakei einmarschieren würden. Alle westliche Verhandlungskunst hatte versagt, und die „Diplomatie“ war an ihre Grenzen gestoßen. Denn im Gegensatz zu den britischen und französischen Politikern, die eine dauerhafte Friedensordnung in Mitteleuropa auch um den Preis territorialer Veränderungen anstrebten, verfolgte Hitler seit Frühjahr 1938 „seinen unabänderlichen Willen, die Tschechoslowakei in absehbarer Zeit durch eine militärische Aktion zu zerschlagen“. Die Tschechoslowakei lehnte am 23. September die zusätzlichen deutschen Forderungen ab und ordnete die Mobilmachung an. Auch die britische Regierung hatte jetzt genug und sagte Frankreich seine militärische Unterstützung zu, falls dieses zu seiner Bündnisverpflichtung stehen sollte. Der Krieg schien unausweichlich. In dieser Situation ließ sich Mussolini von Chamberlain, dem amerikanischen Präsidenten Roosevelt und (verdeckt) auch von Hermann Göring als Vermittler gewinnen, um im letzten Augenblick auf einer Konferenz der vier Großmächte den Frieden zu sichern. Im Münchener Abkommen vom 30. September 1938 kamen Deutschland, Italien, Großbritannien und Frankreich überein, dass die Tschechoslowakei das Sudetengebiet an Deutschland abzutreten und auch die polnische Wünsche zu erfüllen habe. An der Konferenz selbst nahmen sie nicht teil. Ihre Vertreter mussten separat in einem Hotel das Ergebnis abwarten und unterschreiben, was die „Großen“ über sie beschlossen hatten.

Hitler wertete das Ergebnis der Münchener Konferenz als eine Niederlage. Er war fest entschlossen gewesen, auch um den Preis eines Krieges die Tschechoslowakei „zu zerschlagen“. Stattdessen musste er sich mit den Sudetengebieten begnügen und auch noch eine Garantieerklärung für den „Reststaat“ abgeben. Aber trotz der Garantieerklärung für die „Rest-Tschechoslowakei“ und trotz seiner Versicherung, das Sudetenland sei seine „letzte territoriale Forderung“, dachte er nicht daran, sich an das Abkommen zu halten. Nachdem die deutsche Führung die Slowaken erfolgreich dazu gedrängt hatte, sich aus dem staatlichen Verband mit den Tschechen zu lösen, erfolgte am 15. März 1939 die „Zerschlagung der Rest-Tschechei“ und die Bildung des „Protektorats Böhmen und Mähren“ unter deutscher Oberaufsicht. Mit dem Bruch des Münchener Abkommens war die westliche (vorrangig britische) Politik des Appeasement krachend gescheitert. Hitler galt seitdem in den westlichen Staatskanzleien nicht mehr als seriöser Vertragspartner, sondern als jemand, dessen ausufernden Ambitionen man notfalls auch mit militärischen Mitteln Einhalt gebieten musste.

In diplomatischen Kraftproben, in denen auch das militärische Abschreckungs- und Drohpotential der Konfliktparteien in Rechnung gestellt wird, ist es wichtig, dass die Beteiligten die Reaktionen der jeweiligen Gegenseite realistisch antizipieren. Anlässlich der im Frühjahr 1939 einsetzenden Danziger Krise war Hitler überzeugt, er könne einen Krieg mit Polen ähnlich „lokalisieren“, wie es ihm (fast) mit der Tschechoslowakei gelungen war, zu deren „Zerschlagung“ er allerdings zwei Anläufe brauchte. In Erinnerung an die vermeintliche Niederlage in München befürchtete er am 22. August 1939 vor den versammelten Oberbefehlshaber der Wehrmacht allenfalls, „dass mir im letzten Moment ein Schweinehund einen Vermittlungsvorschlag vorlegt“. An dieser Überzeugung änderte sich auch nach der britisch-französische Garantieerklärung vom 31.03.1939 für die polnische Unabhängigkeit nichts. Die Westmächte würden am Ende ihr Beistandsversprechen nicht einlösen, wenn er die Danziger Krise eskalierend in den Krieg einmünden ließ „Unsere Gegner sind kleine Würmchen. Ich sah sie in München.“ Und tatsächlich enthielt die britisch-französische Garantieerklärung immer noch einen gewissen Verhandlungsspielraum, um vielleicht doch den Frieden retten zu können. Denn Großbritannien und Frankreich hatten zwar die „Unabhängigkeit“ Polens garantiert, aber nicht seine „territoriale Integrität“.

Deutschland hatte von den Polen gefordert, – unter Berufung auf das nationale Selbstbestimmungsrecht – die Freie Stadt Danzig in sein Hoheitsgebiet „heimzuholen“, einer exterritorialen Verkehrsverbindung zwischen West- und Ostpreußen durch den „Korridor“ zuzustimmen und dem Antikomintern-Pakt beizutreten. Bestärkt durch die britisch-französische Garantieerklärung und durch das militärische Beistandsversprechen der Westmächte lehnte Polen eine Verhandlung über diese Punkte ab. Allerdings ging es Hitler nur vordergründig um Danzig und den „Korridor“. Er hatte bereits im Mai 1939 vor seinen Generälen verkündet: „Danzig ist nicht das Objekt, um das es geht. Es handelt sich für uns um die Erweiterung des Lebensraumes im Osten und Sicherstellung der Ernährung, sowie der Lösung des Baltikum-Problems“ – aber gleichwohl bot ihm die nicht ganz eindeutige westliche Garantieerklärung genügend Möglichkeiten für diplomatische Scharaden, um Polen die Verantwortung für den Kriegsausbruch zuzuschieben und es von seinen Bündnispartnern im Westen zu isolieren. Prompt wurde denn auch in pazifistischen Kreisen Frankreichs die Frage gestellt, ob es denn angemessen sei, „für Danzig zu sterben“ („Mourir pour Dantzig?“) – und auch in Großbritannien wollte die Regierung Chamberlain noch am 02. September 1939 mit Deutschland verhandeln und sich so verhalten, „als sei nichts geschehen“, wenn es seine Truppen aus Polen wieder abzog. Dieser letzte zaghafte Appeasementversuch scheiterte allerdings an heftigen Protesten im Unterhaus und an einer nächtlichen Revolte des Kabinetts, so dass am 03. September 1939 Großbritannien und Frankreich einem völlig überraschen Hitler den Krieg erklärten.

V. Die aktuelle Gegenwart im Spiegel der historischer Erinnerung

Polen und die baltischen Staaten waren schon vor dem 24.02.2022 innerhalb der NATO gegenüber Russland wesentlich misstrauischer als die weiter westlich gelegenen Länder. Dies ist nicht nur auf deren problematische Geschichte mit dem Nachbarn im Osten zurückzuführen, sondern gründet sich auch auf Erfahrungen, die sie mit Nazi-Deutschland und mit der Appeasement-Politik des Westens gemacht haben. Großbritannien und Frankreich hatten Polen zwar in der Danziger Krise ab Frühjahr 1939 den Rücken gestärkt, eine Garantieerklärung für seine staatliche Unabhängigkeit abgegeben, einen Bündnisvertrag mit ihm abgeschlossen und schließlich – nach einigem Zögern – auch Deutschland den Krieg erklärt. Aber wirklich getan haben sie nichts. Während die deutschen Truppen bis Ende September 1939 die auf sich allein gestellten polnischen Streitkräfte besiegten, und die Sowjetunion am 18. September ebenfalls die polnische Grenze überschritt, um sich ihren Beuteanteil aus dem Hitler-Stalin-Pakt zu sichern, verharrten die französisch-britischen Truppen hinter der Maginot-Linie und unterließen es, die polnische Verteidigung durch eine Invasion ins Ruhrgebiet zu entlasten. Diese in die Geschichtsschreibung als „Sitzkrieg“ (Deutschland), „Phoney War“ (Großbritannien) und „Drôle de guerre“ (Frankreich) eingegangene Form, seinen Bündnisverpflichtungen nachzukommen, hat sich ebenso in die kollektive Erinnerung Osteuropas eingegraben wie zuvor das Münchener Abkommen. Auch die Tatsache, dass Deutschland und die Sowjetunion im Geheimen Zusatzprotokoll zum Hitler-Stalin-Pakt den osteuropäischen Raum unter sich aufteilten, dürfte in diesen Ländern unvergessen sein. Der Osteuropa-Historiker Wolfgang Eichwede – Gründer der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen – berichtete in einem Interview mit Thilo Jung (Jung & naiv) von einem Gespräch zwischen zwei „hochgestellten“ deutschen und polnischen Diplomaten noch in der Amtszeit Helmut Kohls, in dem der Deutsche versicherte, Polen werde in Deutschland immer einen „Anwalt seiner Interessen“ finden. Der polnische Gesprächspartner habe ausgesprochen wütend reagiert: „Wir brauchen keinen Anwalt! Wir sind doch keine Verbrecher! Ihr Deutschen habt (zusammen mit den Russen) drei polnische Teilungen zu verantworten, und zwischen 1939 bis 1944 habt Ihr fürchterliche Verbrechen auf unserem Territorium begangen. Auch auf Großbritannien und Frankreich war damals kein Verlass. Sie haben uns im September 1939 schmählich im Stich gelassen. Wir vertrauen nur noch den Bündniszusagen der Vereinigten Staaten.“ Dieser Gefühlsausbruch macht verständlich, warum die osteuropäischen Staaten in der jüngeren Vergangenheit als „neues Europa“ (Donald Rumsfeld) besonders loyale Partner der USA waren und sich auch an der „Koalition der Willigen“ 2003 im Irakkrieg beteiligten. Er erklärt auch die deutliche Sprache polnischer, baltischer und jetzt auch finnischer Politiker(innen), wenn es um die Unterstützung der Ukraine geht, während sich die weiter westlich liegenden Partner etwas zurückhaltender äußern.

In der aktuellen Situation des russisch-ukrainischen Krieges fallen dem historisch kundigen Betrachter ständig Parallelen zu den Vorgängen von 1938 und 1939 ein. Das Münchener Abkommen von 1938 hinterließ eine amputierte Tschechoslowakei, die ihres Befestigungsgürtels in den Sudeten beraubt und damit nicht verteidigungsfähig als schmaler Landstrich mitten im „großdeutschen“ Territorium lag. Deutschland und die Westmächte hatten zwar ihren Bestand und ihre Grenzen garantiert, als aber Hitler dieses Abkommen am 15. März 1939 brach, rührte sich keine Hand. Nach 1991 hat Russland in mehreren völkerrechtlich verbindlichen Verträgen die Unabhängigkeit und die territoriale Integrität der Ukraine in ihren bestehenden Grenzen anerkannt. Diesen Sachverhalt hat Russland zuletzt im Austausch gegen die Übernahme der auf ukrainischem Territorium lagernden Atomwaffen im Budapester Memorandum von 1994 gemeinsam mit den USA und Großbritannien noch einmal ausdrücklich bestätigt. Ähnlich wie Hitler, der stets seinen Friedenswillen bekundete und zuletzt noch versichert hatte, er „wolle gar keine Tschechen“ und das Sudetenland sei seine „letzte territoriale Forderung“, wiesen Putin und Lawrow bis kurz vor Kriegsbeginn am 24.02.2022 jede aggressive Absicht gegenüber der Ukraine weit von sich und beschwerten sich über die westliche „Hysterie“. Hitler hatte nach der Einnahme von Prag jeden diplomatischen Kredit verspielt. Warum sollte dies bei Putin mit seinen Vertragsbrüchen rund um die Ukraine und den ganz offenen Lügen im Vorfeld des Krieges 2022 anders sein?

Die von der russischen Führung herbeigeführten Verletzungen internationalen Rechts und ihre offensichtlichen Lügen im Vorfeld des Krieges machen auch seine friedensvertragliche Beendigung sehr schwierig. Denn eine nach russischen Vorstellungen territorial amputierte Ukraine, die von ihren Seewegen abgeschnitten, ihrer industriellen Kerne im Osten des Landes beraubt, die „neutralisiert“ und nicht mehr verteidigungsfähig wäre, würde als „Rest-Ukraine“ einem mächtigen Nachbarn ähnlich hilflos gegenüberstehen wie die „Rest-Tschechei“ gegenüber Deutschland. Wahrscheinlich bedürfte es bei ersterer auch keines zweiten Anlaufs, wenn Russland die „Rest-Ukraine“ als Vasallenstaat – analog zu Belarus – in seine „Russische Welt“ eingliedert.

Die Danziger Krise ab März 1939 bot damaligen Zeitgenossen (und bietet heutigen geschichtsrevisionistischen Autoren) argumentative Anknüpfungspunkte, ob nicht „Verhandlungen“ und „mehr Diplomatie“ den deutschen Krieg gegen Polen doch noch hätte verhindern können. Die deutschen Forderungen nach einer Rückkehr Danzigs in das Deutsche Reich und nach einer exterritorialen Verkehrsverbindung zwischen West- und Ostpreußen schienen plausibel. Die Polen hätten sich diesen beiden nachvollziehbaren deutschen Anliegen gegenüber wirklich flexibler verhalten können. Aber anstelle verstärkter „Diplomatie“ und „Verhandlungen“ hätten die Westmächte mit ihren Garantie- und Beistandsversprechen die unnachgiebige polnische Haltung nur unnötig verschärft – ganz so, wie angeblich Boris Johnson im westlichen Auftrag im Frühjahr 2022 die Istanbuler Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine habe scheitern lassen. Eine „Mitschuld“ der Westmächte für den deutschen Angriff auf Polen wäre somit nicht abzuweisen. Ähnlich sieht dies auch Putin in seinem TV-Interview mit Tucker Carlson im Februar 2024. Hitler habe die Polen aufgefordert, Danzig „gütlich abzugeben, aber sie weigerten sich“. Damit „gingen sie zu weit, was Hitler dazu veranlasste, den Zweiten Weltkrieg durch einen Angriff auf sie zu beginnen“. In diesen Tenor stimmte 1940 auch die kommunistische Presse ein, als es darum ging, wer für den deutschen Überfall auf Polen verantwortlich war. In der sowjetischen Parteizeitung Prawda vom 26.01.2022 hieß es: „England und Frankreich haben den Krieg erklärt. Nicht Deutschland, sondern England und Frankreich haben (Deutschlands Friedensvorschläge) zurückgewiesen … Die englischen und französischen Imperialisten wollen diesen Krieg in einen Weltkrieg verwandeln. Sie wollen die gesamte Menschheit in ein Meer von Leid und Entbehrungen ertränken.“ Und die ein paar Tage später am 01.02.1940 in der britischen kommunistischen Zeitung Daily Worker veröffentlichte Stellungnahme klingt schon fast wie eine Erklärung aus dem Spektrum der „antiimperialistischen“ Linken von heute über die „Vorgeschichte“ des aktuellen Krieges: „Hitler hat wiederholt erklärt, dass der Krieg ihm von England aufgezwungen worden sei. Diese geschichtliche Tatsache ist unwiderlegbar. Der Krieg wurde von England, nicht von Deutschland erklärt. Und die sowjetisch-deutschen Friedensangebote waren von England zurückgewiesen worden.“ Für heutige Ohren vertraut klingen auch die Warnungen des damals berühmten amerikanischen Fliegerhelds Charles Lindbergh vor Waffenlieferungen aus den USA an Großbritannien angesichts eines sinnlos gewordenen Krieges. Dieses habe nach der Niederlage Frankreichs keine Chance mehr, den Krieg zu gewinnen. Waffenhilfen seien pure Verschwendung und stünden einem „besseren Frieden“ im Weg. Falls die USA dies doch tun würden, so seien sie für „die nutzlose Verlängerung des Krieges verantwortlich und insbesondere für das Blutvergießen und die Verwüstungen, die in Europa noch weiter angerichtet werden.“ Dieser Kommentar stand allerdings nicht in einer pazifistischen Broschüre oder in einer kommunistischen Parteizeitung, sondern ist einem Interview Lindberghs mit dem Völkischen Beobachter vom 08.02.1941 entnommen.

Titelbild: The village of Novoselivka, near Chernihiv by Oleksandr Ratushniak / UNDP Ukraine CC BY-ND 2.0 via FlickR

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Friedhelm Grützner ist promovierter Historiker und Mitglied der LINKEN in Bremen.

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