Beitrag von Otmar Steinbicker, Herausgeber des Aachener Friedensmagazins aixpaix.de und Redakteur der Zeitschrift FriedensForum.

Dieser Artikel eröffnet eine kleine Reihe, in der es um die Frage geht, wie die auch von Otmar Steinbicker hier reflektierte neue internationale Rolle der BRD aus friedenspolitischer Sicht zu füllen ist. Diese Frage ist wohl die größte Herausforderung, vor der die Friedensbewegung in Europa und weltweit seit Jahrzehnten steht. Weitere Artikel zu diesem Thema werden in unregelmäßigem Abstand folgen.


Der Schlüsselbegriff im Weißbuch der Bundeswehr von 2016 lautet „Verantwortung“. Im Eingangskapitel „Deutschlands Rolle in der Welt und sicherheitspolitisches Selbstverständnis“ heißt es unmissverständlich: „Deutschland wird zunehmend als zentraler Akteur in Europa wahrgenommen. Diese Wahrnehmung schafft ihre eigene Realität – im Sinne wachsender Handlungsmöglichkeiten, aber auch mit Blick auf die daraus resultierende Verantwortung.“
Im Weißbuch ist das ein neuer, offen formulierter deutscher Führungsanspruch in Europa, der künftig die Sicherheitspolitik mit all ihren Aspekten in Europa, in der NATO, im NATO-Russland-Konflikt und auch im Hinblick auf andere Kontinente „out of aerea“, also weit abseits des NATO-Gebietes bestimmen wird. Das hat es in dieser Klarheit und Offenheit bisher noch nicht gegeben!

Lange Zeit vermieden es die Bundesregierungen, im Rückblick auf die von Deutschland verursachten Gräuel und Leiden des Zweiten Weltkrieges, einen deutschen Führungsanspruch in Europa zu postulieren. Andererseits verloren frühere Großmächte wie England und Frankreich im Vergleich vor allem zum wiedervereinigten Deutschland mehr und mehr an ökonomischem Gewicht und damit auch an politischem Einfluss in der EU. Diese über einen längeren Zeitraum gewachsene Bedeutung Deutschlands innerhalb der EU und der NATO dürfte unumkehrbar sein. Auch wenn man daraus aus guten gründen keinen Führungsanspruch ableiten will, so bleibt angesichts dieser Realität eine gestiegene Verantwortung Deutschlands in und für Europa und auch darüber hinaus.

Dass die Friedensbewegung ihrerseits einen Begriff der „Verantwortung“ ablehnen muss, wenn dieser der Rechtfertigung militärischer Gewalt und gegebenenfalls von Kriegseinsätzen dienen soll, versteht sich. Doch mit einem pazifistischen Nein zum Krieg hat sie die Frage nach einer Verantwortung Deutschlands für die Welt noch nicht hinreichend beantwortet.
Wenn sie den Begriff der „Verantwortung“ nicht der Regierung und deren Interpretation in Richtung auf eine unverantwortliche Orientierung auf militärische Lösungsversuche allein überlassen will, dann muss sie selbst den Begriff der „Verantwortung“ in der Außen- und Sicherheitspolitik definieren für sich, aber auch für die öffentliche Debatte. Dann aber reicht ein „Nein zum Krieg“ allein nicht mehr aus. Dann muss ihr „Ja zum Frieden“ auch konkrete Vorschläge für Krisenprävention und für zivile, nichtmilitärische Konfliktlösungen beinhalten.

Die Notwendigkeit ziviler, nichtmilitärischer Konfliktlösungen ergibt sich jenseits von pazifistischen Wunschvorstellungen aus den Rahmenbedingungen deutscher Sicherheitspolitik.
Bereits am Ende des Kalten Krieges in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre bestand bei Militärs in Ost und West Konsens darüber, dass ein großer, raumgreifender Krieg in Europa zur Vernichtung unseres Landes und der europäische Zivilisation führen würde. Die Konzeption großer Auslandseinsätze ist in Afghanistan krachend gescheitert. Diese Konzeption beruhte auf der Illusion, dass Militär Frieden schaffen könne. Auch hier wussten Militärs beizeiten, dass das nicht funktionieren kann, sondern dass politische Konflikte nur politisch gelöst werden können. Obendrein stellen uns die Folgen des Klimawandels in absehbarer Zeit vor erhebliche Probleme, die ebenfalls militärisch nicht gelöst werden können und deren Lösung eines erheblichen personellen und finanziellen Ressourceneinsatzes bedarf. Wenn Militär Probleme nicht löst, sondern im Gegenteil Probleme schafft, dann ist sein Einsatz und in letzter Konsequenz auch seine Existenz zu hinterfragen.

Allerdings wird es immer Konflikte zwischen Staaten geben, weil es unterschiedliche Interessen gibt. Wer nicht will, dass solche Konflikte in Kriegen eskalieren, braucht politische Konzepte für Lösungen dieser Konflikte und internationale Foren für deren Bearbeitung. Das erfordert vor allem eine Stärkung der UNO und ihrer Unterorganisationen und auf der europäischen Ebene eine Stärkung der OSZE.

Graffiti in Lissabon, Foto: J. Klute, 2013

Aktive Friedenspolitik muss selbstverständlich Kriegsverhinderung sein, kann sich darauf aber allein nicht beschränken. Sie muss auch in der Lage sein, zur Konfliktprävention sowie zur zivilen Eindämmung und politischen Lösung bereits eskalierter Konflikte beizutragen.
Wenn aber vorhandene Konflikte nicht militärisch, sondern zivil gelöst werden sollen, dann braucht es dazu geeignetes politisches und diplomatisches Handwerkszeug. Dann muss an erster Stelle eine Analyse sich abzeichnender oder bereits offen ausgebrochener Konflikte stehen. Dabei gilt es, die jeweilige Entstehungsgeschichte ebenso einbeziehen wie die unterschiedlichen Interessen der Konfliktparteien.

Die Friedensforschung und auch die Friedensbewegung haben dazu bereits seit Jahren beigetragen. Der leider im Januar 2016 verstorbene große Kopf der deutschen Friedensbewegung, der Friedensforscher Prof. Andreas Buro hat dazu innerhalb von fast zehn Jahren eine Reihe von Dossiers zu verschiedenen Konfliktfeldern – in Afghanistan, Nahost, der Ukraine, zum türkisch-kurdischen Konflikt oder dem um das iranische Atomprogramm beigetragen. In diesen Dossiers waren neben einer Konfliktanalyse immer auch Optionen für Lösungswege und konkrete Vorschläge oder Forderungen an die Bundesregierung mit enthalten.

Wenn sich die Friedensbewegung heute der Problematik der Verantwortung stellen und auch selbst Verantwortung übernehmen will, dann kann und muss sie daran anknüpfen. Dann benötigt sie sowohl einen engen Kontakt zur Friedensforschung als auch Geschick, ihre friedenspolitischen Alternativen wirkungsvoll in die öffentliche Debatte einzubringen. Dazu ist wohl in vielen Köpfen ein Um- und Weiterdenken gefragt, sicherlich aber auch die Erinnerung an die friedens- und sicherheitspolitischen Debatten der 1980er Jahre, in denen die Friedensbewegung nicht unwesentlich dazu beigetragen hat, den bis dahin existierenden „sicherheitspolitischen Konsens“ (Egon Bahr) zu zerbrechen und damit auch Militärs und Politiker zu „Neuem Denken“ (Michail Gorbatschow) zu zwingen.

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