Von Jürgen Klute
Neben dem Grundgesetz gibt es in der Bundesrepublik noch die Verfassungen der Bundesländer. Einige Bundesländer haben auch eigene Landesverfassungsgerichte, die über die Einhaltung der jeweiligen Landesverfassung wachen. Kommt es zu Widersprüchen zwischen Landesverfassungen und Grundgesetz, gibt es eine klare Regelung: Bundesrecht bricht Landesrecht. Deshalb konnte in der hessischen Landesverfassung von 1946 noch die Todesstrafe vorgeschrieben sein. Und trotzdem konnte sie nicht verhängt werden (erst 2018 ist dieser Artikel im Rahmen einer Volksabstimmung aus der hessischen Verfassung gestrichen). Es ist innerhalb Deutschlands unvorstellbar, dass ein Landesverfassungsgericht Bundesrecht in Zweifel zieht bzw. Bundesrecht und Entscheidungen des BVerfG ignoriert.
Analog zu dieser bundesdeutschen Rechtsordnung verhält es sich mit der Rechtsordnung innerhalb der EU als Rechtsgemeinschaft: Europäisches Recht steht über dem Recht der Nationalstaaten.
Das deutsche BVerfG hadert mit diesem Grundsatz aber schon länger. So ist die Entscheidung des BVerfG vom 5. Mai 2020 bezüglich der Anleihenaufkäufe durch die EZB nicht gänzlich überraschend.
Entsprechend kritisch fallen die meisten Kommentierungen zumindest in den deutschen Qualitätsmedien aus.
Die Kritik richtet sich vor allem auf drei Punkte:
- Juristische Schwächen des Urteils.
- Mangelnde wirtschaftliche Kompetenz der Richter.
- Politische Brisanz des Urteils.
Auf die juristischen aber auf auf wirtschaftlichen Aspekte geht vor allem der Podcast des Verfassungsblogs sehr differenziert und fachkundig ein.
Wesentlich schärfer kritisiert der Bielefelder Europarechtler Franz Mayer das Urteil in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung. Er sieht in dem Urteil eine Kriegserklärung des BVerfG an die Adresse des EuGH. Da er die Existenz der Europäischen Rechtsgemeinschaft durch das Urteil gefährdet sieht, empfiehlt Mayer der EU-Kommission, ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik einzuleiten. Ferner kritisiert Mayer das sehr einseitige deutsche Demokratieverständnis, dass einerseits andere Formen von Demokratie ignoriert und damit andererseits mittels des BVerfG nötige Weiterentwicklungen der EU blockiert.
Die taz-Wirtschaftsjournalistin Ulrike Herrmann wirft dem Bundesverfassungsgericht vor, mutwillig den Ruf der EZB zu beschädigen, „allein um sich selbst mit Bedeutung zu umwehen“.
Der Ökonom Rudolf Hickel kommentierte auf der Webseite der Arbeitsgruppe alternative Wirtschaftspolitik die Urteilsverkündigung des Bundesverfassungsgerichts we folgt: „… Dabei wäre es wichtig, auch den zweiten Senat des BVerG in die geldtheoretische Aufklärungsarbeit einzubeziehen. Das zeigt die Schlüsselaussage seines Vorsitzenden Voßkuhle: Die EZB habe ihre Kompetenzen überschritten, denn das Aufkaufprogramm zeige‚ erhebliche Auswirkungen auf nahezu alle Bürgerinnen und Bürger, die als Aktionäre, Mieter, Eigentümer von Immobilien, Sparer und Versicherungsnehmer betroffen sind.‘ Das erinnert eher an die Verbreitung populistischer Vorurteile von den ‚Sparern als Opfer der EZB‘.“
Peter Bofinger, Ökonomieprofessor und ehemaliger Wirtschaftsweiser, kommentierte auf Twitter. „Der Stammtisch ist beim Bundesverfassungsgericht angekommen.“ So seien beispielsweise angesichts sehr niedriger Inflationsraten große Verlustrisiken für Sparer nicht ersichtlich. (Quelle: Handelsblatt vom 05.05.2020)
Heiner Flassbeck und Friederike Spiecker werfen den Verfassungsrichtern auf Makroskop „ökonomischen Analphabetismus“ vor: „… Aber für derlei „ökonomischen Analphabetismus“ deutscher Richter, wie es die Financial Times zu Recht genannt hat, kann man die EZB nicht verantwortlich machen. … Zu konstatieren, es sei ‚nicht ersichtlich, dass der EZB-Rat die im PSPP angelegten und mit ihm unmittelbar verbundenen Folgen erfasst und abgewogen hätte‘, ist eine glatte Unverschämtheit. Der Zentralbank schließlich auch noch eine dreimonatige Frist zu setzen, bis wann sie eine Abwägung und Dokumentation nachzuholen habe, ist an Arroganz nicht zu überbieten. Man kann der EZB nur zu einem Brief an das Gericht raten, in dem sie ihrem Zweifel Ausdruck verleiht, dass es innerhalb von drei Monaten gelingen könnte, so viel juristische Ignoranz in Sachen Ökonomik zu beheben. Der politische Flurschaden, den dieses Urteil anrichtet, ist nicht zu ermessen.“
Und Hermannus Pfeiffer fragt im neuen deutschland: Die EU-Zentralbank stemmt sich gegen den Absturz des Euro – ist das kompetenzwidrig?
Zu ergänzen wäre noch, dass die deutschen Verfassungsrichter falsch liegen mit der pauschalen Behauptung, die EZB habe nur ein geldpolitisches und kein wirtschaftspolitisches Mandat. Es stimmt, dass Geldpolitik und Preisstabilität die vorrangige Aufgabe der EZB ist. Schaut man sich die im Vertrag über Arbeitsweise der Europäischen Union (Lissabon Vertrag) benannten Aufgaben der EZB genauer an, ergibt sich ein etwas differenzierteres Bild. In Artikel 127 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäische Union heißt es:
Die Währungspolitik
Artikel 127 (ex-Artikel 105 EGV)
(1) Das vorrangige Ziel des Europäischen Systems der Zentralbanken (im Folgenden »ESZB«) ist es, die Preisstabilität zu gewährleisten. Soweit dies ohne Beeinträchtigung des Zieles der Preisstabilität möglich ist, unterstützt das ESZB die allgemeine Wirtschaftspolitik in der Union, um zur Verwirklichung der in Artikel 3 des Vertrags über die Europäische Union festgelegten Ziele der Union beizutragen. Das ESZB handelt im Einklang mit dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb, wodurch ein effizienter Einsatz der Ressourcen gefördert wird, und hält sich dabei an die in Artikel 119 genannten Grundsätze.
(2) Die grundlegenden Aufgaben des ESZB bestehen darin,
- die Geldpolitik der Union festzulegen und auszuführen,
- Devisengeschäfte im Einklang mit Artikel 219 durchzuführen,
- die offiziellen Währungsreserven der Mitgliedstaaten zu halten und zu verwalten,
- das reibungslose Funktionieren der Zahlungssysteme zu fördern.
Es geht also keineswegs um eine „blinde“ Geldpolitik und Preisstabilität, sondern um eine Geldpolitik, die – vorbehaltlich der Sicherung der Preisstabilität – die Wirtschaftspolitik in der EU unterstützt, und zwar im Sinne der in Artikel 3 des Vertrag über die EU formulierten grundlegenden Ziele der EU. Der Artikel lautet wie folgt:
Artikel 3 (ex-Artikel 2 EUV)
(1) Ziel der Union ist es, den Frieden, ihre Werte und das Wohlergehen ihrer Völker zu fördern.
(2) Die Union bietet ihren Bürgerinnen und Bürgern einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne Binnengrenzen, in dem – in Verbindung mit geeigneten Maßnahmen in Bezug auf die Kontrollen an den Außengrenzen, das Asyl, die Einwanderung sowie die Verhütung und Bekämpfung der Kriminalität – der freie Personenverkehr gewährleistet ist.
(3) Die Union errichtet einen Binnenmarkt. Sie wirkt auf die nachhaltige Entwicklung Europas auf der Grundlage eines ausgewogenen Wirtschaftswachstums und von Preisstabilität, eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt, sowie ein hohes Maß an Umweltschutz und Verbesserung der Umweltqualität hin. Sie fördert den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt. Sie bekämpft soziale Ausgrenzung und Diskriminierungen und fördert soziale Gerechtigkeit und sozialen Schutz, die Gleichstellung von Frauen und Männern, die Solidarität zwischen den Generationen und den Schutz der Rechte des Kindes. Sie fördert den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt und die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten. Sie wahrt den Reichtum ihrer kulturellen und sprachlichen Vielfalt und sorgt für den Schutz und die Entwicklung des kulturellen Erbes Europas.
(4) Die Union errichtet eine Wirtschafts- und Währungsunion, deren Währung der Euro ist.
(5) In ihren Beziehungen zur übrigen Welt schätzt und fördert die Union ihre Werte und Interessen und trägt zum Schutz ihrer Bürgerinnen und Bürger bei. Sie leistet einen Beitrag zu Frieden, Sicherheit, globaler nachhaltiger Entwicklung, Solidarität und gegenseitiger Achtung unter den Völkern, zu freiem und gerechtem Handel, zur Beseitigung der Armut und zum Schutz der Menschenrechte, insbesondere der Rechte des Kindes, sowie zur strikten Einhaltung und Weiterentwicklung des Völkerrechts, insbesondere zur Wahrung der Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen.
(6) Die Union verfolgt ihre Ziele mit geeigneten Mitteln entsprechend den Zuständigkeiten, die ihr in den Verträgen übertragen sind.
Unbeschadet der durchaus berechtigten Frage, ob die EU und die EZB mit ihrer konkreten Politik die hier genannten hehren Ziele tatsächlich verfolgt und fördert, bedeutet der Bezug im Rahmen der Aufgabendefinition des ESZB und der EZB auf Artikel 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU, dass die EZB durchaus auch wirtschaftspolitische Ziele im Blick zu haben hat, wenngleich auch als sekundäres Ziel bzw. als Bezugsrahmen ihrer Geldpolitik.
Auch der Bezug auf Artikel 119 unterstreicht, dass die EZB ein sekundäres wirtschaftspolitisches Ziel zu verfolgen hat – also nicht Geldpolitik um ihrer Selbstwillen zu machen hat, sondern dass ihre Geldpolitik auf klar vorgegebene Ziele ausgerichtet zu sein hat, wie sie in Artikel 119 umrissen:
Die Wirtschafts- und Währungspolitik
Artikel 119 (ex-Artikel 4 EGV)
(1) Die Tätigkeit der Mitgliedstaaten und der Union im Sinne des Artikels 3 des Vertrags über die Europäische Union umfasst nach Maßgabe der Verträge die Einführung einer Wirtschaftspolitik, die auf einer engen Koordinierung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten, dem Binnenmarkt und der Festlegung gemeinsamer Ziele beruht und dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb verpflichtet ist.
(2) Parallel dazu umfasst diese Tätigkeit nach Maßgabe der Verträge und der darin vorgesehenen Verfahren eine einheitliche Währung, den Euro, sowie die Festlegung und Durchführung einer einheitlichen Geld- sowie Wechselkurspolitik, die beide vorrangig das Ziel der Preisstabilität verfolgen und unbeschadet dieses Zieles die allgemeine Wirtschaftspolitik in der Union unter Beachtung des Grundsatzes einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb unterstützen sollen.
(3) Diese Tätigkeit der Mitgliedstaaten und der Union setzt die Einhaltung der folgenden richtungweisenden Grundsätze voraus: stabile Preise, gesunde öffentliche Finanzen und monetäre Rahmenbedingungen sowie eine dauerhaft finanzierbare Zahlungsbilanz.
Es ist selbstverständlich davon auszugehen, dass die Verfassungsrichter, die sich mit der Frage befassen, ob die EZB ihre Kompetenzen überschritten hat oder nicht, die zuvor zitierten Artikel des Lissabon Vertrags kennen. Um sosehr irritiert das Urteil. Politisch kann man das nur als verblendeten Nationalismus werten.
In verschiedene Kommentaren zu dem Urteil wird darauf verwiesen, dass die Verfassungsrichter bemängeln, dass die wirtschaftlichen Auswirkungen des EZB-Aufkaufprogramms möglicherweise zu wenig berücksichtigt worden seinen, wie z.B. die niedrigen Zinsen oder sich verändernde Immobilienpreise.
An dieser Stelle möchte man den Verfassungsrichtern entgegen schleudern, dass die EZB nicht nur die Befindlichkeiten deutscher SparbuchinhaberInnen und HausbesitzerInnen zu beachten hat. Artikel 3 des Vertrag über die Europäische Union bezieht sich auf die Bürgerinnen und Bürger der EU, nicht allein auf die in der Bundesrepublik lebenden und deren Interessen und Gemütslagen.
Will das BVerfG ernsthaft deutsche Interessen und Befindlichkeiten zum alles beherrschenden Maßstab in der EU machen? Das würde im Ergebnis bedeuten, dass deutsche Grundgesetz dazu zu instrumentalisiert, soziale Ungleichgewichte, die die EU derzeit – und vor allem infolge der EU-Krise – prägen, auf Dauer festzuschreiben, weil das deutsche BVerfG die vermeintlichen Interessen und Befindlichkeiten der Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik zum europapolitischen Handlungsmaßstab erklärt und die Bundesregierung, den Bundestag sowie die Bundesbank auf die Anwendung dieses Maßstabs mit ihrem Urteil vom 5. Mai verpflichten wollen. Zumindest lässt sich das Urteil so interpretieren. Dass ein so zugeschnittenes „deutsches Europa“ – um einen Begriff von Ulrich Beck von 2012 aufzugreifen – nicht überlebensfähig ist, sollte auch den Richtern und Richterinnen am deutschen BVerfG einleuchten. Da kommt es dann auch nicht mehr drauf an, ob die derzeitigen rechtsautoritären Regierungen in Ungarn und Polen sich durch das Urteil des BVerfG in ihrer Zurückweisung der Rolle des EuGH bestätigt fühlen oder nicht. Die am Horizont aufleuchtende Gefahr einer Implosion der EU geht von Karlsruhe aus, nicht von von Warschau oder Budapest. Der Hort nationalen Egoismus findet sich in Karlsruhe und in Berlin. Der Preis für diesen nationalen Egoismus dürfte sehr hoch ausfallen – für alle Beteiligten.
Titelbild: European Central Bank | Foto: Patrick Stoll CC BY-NC 2.0 via FlickR
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