Von Jürgen Klute
„Wenigstens dieses eine Mal würde weitsichtige Europapolitik nationale Egoismen überwinden. Besteht Europa diesen Test hingegen nicht, wird es womöglich keine weitere Gelegenheit geben, europäische Einheit und Geschlossenheit unter Beweis zu stellen.“ Mit diesen dramatischen aber wohl zutreffenden Sätzen endet der Appell aus dem in Hannover ansässigen Sozialwissenschaftlichen Institut der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), der einen Tag vor dem virtuellen EU-Gipfeltreffen am 23. April 2020 veröffentlicht wurde. Die Autoren des Appells, der Direktor des Instituts, Georg Lämmlin und Andreas Mayert, fordern die Bundesregierung auf, endlich ihren Widerstand gegen eine gemeinsame europäische Finanzierung der durch die Coronakrise entstandenen und noch entstehenden Kosten aufzugeben und zudem ihren Einfluss zu nutzen, die anderen Blockadestaaten davon zu überzeugen, ihren Widerstand ebenfalls aufzugeben und der Ausgabe von Coronabonds, wie sie von südeuropäischen Ländern gefordert werden, zuzustimmen.
Für Coronabonds sprechen aus Sicht der Autoren folgende Argumente:
- Sie schaffen Vertrauen, das nötig ist zur Stabilisierung der Wirtschaft,
- die wirtschaftliche Infrastruktur der EU-Mitgliedsstaaten wird vor einer Zerstörung geschützt und schützt so die Menschen vor Massenarbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit,
- Coronabonds ermöglichen den EU-weiten Aufbau eines leistungsfähigen Gesundheitssystems,
- Coronabonds zeigen den Bürgern, dass die EU für sie von Nutzen ist und entzieht populistischen Strömungen den Boden.
In einer dem eigentlichen Appell folgenden 10-seitigen Begründung führen die Autoren detailliert aus, weshalb aus ihrer Sicht die Verweigerungshaltung der Bundesregierung gegenüber Coronabonds nicht länger zu rechtfertigen ist.
Die Begründung stellt zunächst die Sinnhaftigkeit der bisherigen Entscheidungen der Bundesregierung im Blick auf eine Stabilisierung der Wirtschaft innerhalb der Bundesrepublik heraus. Hat man sich durch diese ersten etwas zähen und teils auch übertrieben affirmativen (dass die Programme signalisieren, dass in Deutschland niemand fallen gelassen werde, wie es auf Seite 3 heißt, trifft für viele, aber keineswegs für alle zu) Absätze durchgearbeitet, finden die Autoren zu klaren Worten der Kritik am Kurs der Bundesregierung.
Mit wenigen Worten zeichnen sie nach, wie die Bundesrepublik als wirtschaftlich stabilstes Land der EU von den Unsicherheiten der Anleger gegenüber südeuropäischen Euro-Ländern profitiert: Sie ziehen ihre Euroguthaben von dort ab und investieren in deutsche Staatsanleihen, die zu Minus-Zinsen auf den Markt kommen, während die Zinsen für Staatsanleihen in den Euro-Ländern Italien und Spanien nach oben gehen.
Zu dieser Entwicklung beziehen die Autoren eine unmissverständliche Position:
„Es ist sicher eine große Versuchung, die damit verbundenen finanzpolitischen Vorteile als den verdienten Lohn deutscher Solidität anzusehen und vornehmlich zur Finanzierung der eigenen Krisenfolgelasten zu verwenden. Es sollte jedoch kein Zweifel daran bestehen, dass es aus christlicher Sicht ethisch nicht angemessen wäre, dieser Versuchung nachzugeben und eine schicksalhafte, die gesamte Menschheit treffende Katastrophe in einen finanzpolitischen Vorteil zu verwandeln. Doch selbst wenn man die ethische Frage außen vor lässt: Ein solches Verhalten wäre auch kein Zeichen kluger Wirtschafts- und weitsichtiger Europapolitik.“
Im weiteren gehen die Autoren auf die wirtschaftlichen Verflechtungen zwischen den EU-Staaten ein und insbesondere auf die hohen Exporte der bundesdeutschen Wirtschaft in andere EU-Länder. Deutschland, so ihr Schluss würde kurzsichtig handeln, wenn es sich nicht um eine wirtschaftliche Stabilisierung der Länder bemühen würde, in die mehr als die Hälfte der Exporte aus der Bundesrepublik fließen. Ein wirtschaftliches Stützungsprogramm sei also nicht nur für die Bundesrepublik nötig, sondern für die gesamte EU. „Was für Deutschland gilt“, so die Autoren, „gilt somit auch für den europäischen Binnenmarkt.“
Erfreulicherweise richten die Autoren ihren Blick auch auf Mittel- und Osteuropa:
„Ob andere EU-Staaten, insbesondere in Osteuropa, die bislang noch relativ geringe Infektionszahlen aufweisen, den schlimmsten Folgen der Corona-Krise entgehen können oder dem tragischen Beispiel der oben genannten Staaten noch folgen werden, ist zurzeit eine offene Frage. Es ist jedenfalls zu befürchten, dass die dort zu beobachtende Unterfinanzierung der Gesundheitssysteme, verbunden mit dem Exodus von Ärzten und Pflegekräften in kerneuropäische Staaten, dazu führen kann, dass sie auf derzeitigem Niveau ihrer klinischen Kapazitäten einer Infektionswelle nicht gewachsen sein werden. Es dürfte Einigkeit darüber bestehen, dass sich die Ereignisse in Spanien und Italien nicht wiederholen dürfen und ähnliche Entwicklungen in Osteuropa schon im Ansatz verhindert werden müssen. Hierfür müssten dann aber auch Mittel verfügbar sein.“
Des Weiteren betont das Papier, dass die jetzige finanzielle Last von Staaten keine Folge von mangelnder Haushaltsdisziplin ist, sondern Folge einer unverschuldeten Pandemie, die alle Staaten – wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß – trifft und von daher ein gesamteuropäisches politische Handeln verlangt:
„Dass die Corona-Krise mit Spanien und Italien ausgerechnet zwei Staaten getroffen hat, die auch im Fokus der Staatsschuldenkrise standen und deren Staatsverschuldung trotz (oder wegen) jahrelanger Sparmaßnahmen im Vergleich zu anderen EU-Staaten immer noch hoch ist, steht mit der Schuldenkrise ansonsten nur insofern in Zusammenhang, als dass diese Staaten aufgrund jahrelanger Austeritätspolitik über Gesundheitssysteme verfügen, die der Krise weit weniger gewachsen sind als das deutsche. Es verbietet sich daher von selbst, mit diesen Staaten umzugehen, als befänden sie sich erneut in einer selbstverschuldeten Krise. Ein exogener Schock, der die ganze EU getroffen hat und dessen Asymmetrie letztlich auf Glück oder Pech zurückzuführen ist, erfordert eine gesamteuropäische Antwort. In Deutschland diskutiert niemand darüber, ob die im Rahmen der Finanzierung der Krisenkosten aufgenommenen Schulden je nach Betroffenheit auf die einzelnen Bundesländer aufgeteilt werden sollten. Kein Bundesland hat sich freiwillig in eine schlechtere Lage versetzt und die finanziellen Lasten, die mit dieser ganz Deutschland treffenden Katastrophe einhergehen, können offensichtlich nur vom Zentralstaat und den ohnehin national aufgestellten Sozialversicherungssystemen geschultert werden.“
Richtigerweise verweisen die Autoren im weiteren darauf, dass – auch aufgrund der schlechten Erfahrungen südeuropäischer Länder mit der Krisenpolitik während der EU-Krise – der ESM kein angemessenes Instrument zur finanziellen Absicherung der jetzigen Coronakrise ist. Kredite der EIB und des ESM seien zwar besser als nichts. Aber mit diesen Instrumenten blieben die Staaten, die sie in Anspruch nehmen, auf sich allein gestellt und müssten sich nach Ende der Krise den mit ESM-Krediten verbundenen Konditionen unterwerfen – also Sanktionen, die darauf ausgerichtet waren und sind, Misswirtschaft zu unterbinden. Der Coronakrise werden diese Instrumente daher nicht gerecht. Deshalb seien neue adäquate Instrumente – also Coronabonds – nötig, die allerdings mit einer Zweckbindung zur Bewältigung der Coronakrise und der unmittelbaren Folgelasten versehen werden sollten.
Das politisch stärkste und überzeugendste Argument für Coronabonds enthalten jedoch die abschließenden Sätze des Papiers:
„Für die am stärksten betroffenen Staaten würde ein weiteres verlorenes Jahrzehnt, geprägt von Massenarbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit, verhindert. Und sie würde der Bevölkerung in der gesamten EU vor Augen führen, dass man es ernst meint, wenn man sagt: „We are all in this together“. Anders als bei der drakonischen Politik im Rahmen der Europäischen Schuldenkrise würde das politische Risiko einer Stärkung populistischer Strömungen ernst genommen und weiteren Exit-Debatten der Nährboden entzogen. Wenigstens dieses eine Mal würde weitsichtige Europapolitik nationale Egoismen überwinden. Besteht Europa diesen Test hingegen nicht, wird es womöglich keine weitere Gelegenheit geben, europäische Einheit und Geschlossenheit unter Beweis zu stellen.“
Der Appell ist im folgenden dokumentiert. Das vollständige Papier kann hier als PDF heruntergeladen werden.
Dokumentation
„We are all in this together“
Für eine solidarische und nachhaltige Bewältigung der wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise in Europa
Appell aus dem Sozialwissenschaftlichen Institut der EKD
APPELL
Wir appellieren an die Bundesregierung, die europäische Krisenbewältigung wirtschaftlicher Folgelasten der Corona-Krise ebenso entschlossen voranzutreiben wie die nationalen Anstrengungen bisher, und über die Nutzung des ESM-Schutzschirms und Kredite bei der EIB hinaus für das Instrument der Corona-Bonds einzutreten und jene Staaten, die Corona-Bonds bislang ablehnen, zu überzeugen, ihre Haltung aufzugeben.
- Die Ermöglichung von europäischen Corona-Bonds ist ökonomisch vernünftig, denn sie würde in der Realwirtschaft und im Finanzsystem Unsicherheiten über die Handlungsfähigkeit und den Handlungswillen europäischer Entscheidungsträger, in dieser Krise tatsächlich eine „Whatever-it-takes-Haltung“ einzunehmen, beseitigen. Die Beseitigung von Zweifeln an der Stabilität des gesamtwirtschaftlichen Gefüges ist Kern der innerdeutschen Krisenpolitik. Ein solches Vorgehen wäre auch für Europa der richtige Weg.
- Die Ermöglichung von europäischen Corona-Bonds würde alle Staaten befähigen, ihre wirtschaftliche Infrastruktur intakt zu halten, indem Masseninsolvenzen ansonsten gesunder Unternehmen verhindert würden. Für die am stärksten betroffenen Staaten wäre damit ein weiteres verlorenes Jahrzehnt, geprägt von Massenarbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit, abgewendet.
- Die Ermöglichung von europäischen Corona-Bonds würde den Aufbau von Gesundheitssystemen mit ausreichenden Test- und klinischen Reservekapazitäten in der gesamten EU unterstützen und auf diese Weise eine verantwortungsvolle und aufeinander abgestimmte Rückkehr des wirtschaftlichen Lebens ermöglichen.
- Die Ermöglichung von europäischen Corona-Bonds würde der Bevölkerung in der gesamten EU vor Augen führen, dass man es ernst meint, wenn man sagt: „We are all in this together“. Anders als bei der drakonischen Politik im Rahmen der Europäischen Schuldenkrise würde das politische Risiko einer Stärkung populistischer Strömungen ernst genommen und weiteren Exit-Debatten der Nährboden entzogen.
Wenigstens dieses eine Mal würde weitsichtige Europapolitik nationale Egoismen überwinden. Besteht Europa diesen Test hingegen nicht, wird es womöglich keine weitere Gelegenheit geben, europäische Einheit und Geschlossenheit unter Beweis zu stellen.
(Hannover, 22. April 2020)
Titelbild: Covid-19 | Foto: Prachatai CC BY-NC-ND 2.0 via FlickR
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