Von Jürgen Klute

Wer 2018 oder 2019 am EuropaCamp der ZEIT-Stiftung auf Kampnagel in Hamburg teilgenommen hat, der hat sicher die quirlige Atmosphäre und Stimmung beim diesjährigen Online-EuropaCamp vermisst. Corona bedingt musste das EuropaCamp 2020 ausfallen. Für 2021 haben die Veranstalter dem EuropaCamp daher ein neues Format verpasst: ein Online-Format. Und auch das hat seine Stärken: Statt quirliger Atmosphäre war eine stärke Konzentration auf die einzelnen in der Regel sehr guten und spannenden Beiträge möglich. Und: Per Video-Konferenzschaltung konnten Beitragende eingebunden werden, die bei einer Präsenzveranstaltung vielleicht nicht hätten dabei sein können.

Dies war vor allem am ersten Tag des EuropaCamps ein großes Plus. Per Video-Konferenzschaltung konnten die libanesische Journalistin und Autorin Kim Ghattas, die die ebenfalls aus dem Libanon kommende Autorin Joumana Haddad und die tunesische Musikerin und Stimme der Jasmin-Revolution Emel Mathlouthi in die Reflexionen über den arabischen Frühling eingebunden werden. Ihre Stimmen waren eine wichtige und nötige Ergänzung zur europäischen Sicht auf die mittlerweile rund zehnjährige Geschichte der teil sehr blutigen Entwicklung der Arabellion, vor allem in Syrien.

Die Einschätzung des Entwicklungen des arabischen Frühlings waren naturgemäß unterschiedlich. Kim Ghattas betonte, dass die Akteuere falsch eingeschätzt haben, dass die Vertreibung eines despotischen Herrschers keineswegs ausreicht. „Es reicht nicht“, so Ghattas, „nur eine Diktatur stürzen zu wollen und kein Vorstellung von einem aufzubauenden Staat zu haben.“ Das entstandene Machtvakuum muss anschließend neu gefüllt werden. Genau das haben die Akteure der Arabellion vor zehn Jahren nicht geschafft bzw. gewollt. Viele wollten offenbar nicht selbst in die Politik gehen, weil Politik ihnen als ein zu schmutziges Geschäft erschien. Emel Mathlouthi: „Korruption ist ein großes Hindernis auf dem Weg zur Demokratie.“

Damit haben sie gerade denen das Feld überlassen, die sie eigentlich nicht mehr wollten. Dies sei eine wichtige Erfahrung, an der noch weiter zu arbeiten sei. Eine Demokratisierung, die Durchsetzung von Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten sei ein langer Prozess.„Wechsel braucht Zeit, er dauert Jahre und Generationen“, so Joumana Haddad.

Kim Ghattas mahnte an, dass Europa pragmatisch sein und zu stabilen politischen Verhältnis beitragen solle, die Rechtsstaatlichkeit und Gewährung von Menschenrechte zulassen. Aktivismus, Bewegung alleine reicht nicht, dass System zu ändern. Man muss selbst in die Politik gehen. Ein Wechsel in den Ländern des arabischen Frühlings müsse sowohl von innen kommen als auch von außen. Man müsse eine politisch Alternative für die Länder des arabischen Frühlings entwickeln.

Diese Mahnung ist durchaus anschlussfähig für die Einschätzung des Leiter Münchner Sicherheitskonferenz Wolfgang Ischinger. Er forderte zu einer schnellen Unterstützung arabischer und und afrikanischer Staaten auf, um es nicht zu einer noch blutigeren Entwicklung kommen zu lassen, da es dann immer schwerer werde, Gesellschaften wieder zu stabilisieren. Die derzeitige Politik eines „Diktatorenschutzrechts“ müsse wieder zu einer Politik eines „Menschenschutzrechts“ gemacht werden. Perspektivisch sieht Ischinger die Region als eine prosperierende, die sich im nächsten Jahrzehnt zu einem verlässlichen Partner der EU entwickeln kann.

Deutlich pessimistischer schätzte der deutsche Außenminister Heiko Maas im Gespräch mit Sandra Maischberger die Entwicklung des arabischen Frühlings nach zehn Jahren ein. Den Menschen sei, so Maas, vor allem an mehr Wohlstand gelegen. Den habe der arabische Frühling aber nicht gebracht. Statt dessen gäbe es heute vor allem Instabilität in den Ländern als vor dem Beginn der Arabellion.

Maas hält mehr Stabilität und Wohlstand im arabischen Raum für wichtiger als Demokratie. Man habe, so Maas, heute auch Instrumente, um Diktaturen politisch zu mäßigen, bevor man sie zum Kippen bringe.

Damit bestätigte Maas, was Timothy Garton Ash, Professor für europäische Studien an der Oxford Universität, der Europäischen Union als kritischen Spiegel vorhielt: Dass Europa – anders noch als vor rund 30 Jahren – seine Werte Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Freiheit und Menschenrecht offensichtlich weder nach innen und noch nach außen hin mehr offensiv und selbstbewusst vertrete.

Am zweiten Tag des EuropaCamps ging es stärker um den Blick auf die EU selbst. Im Mittelpunkt stand das Thema Demokratie. Beleuchtet wurde es in mehreren Runden aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Zunächst ging es um die Frage demokratischer Haltung. Diskutiert wurde dieser Aspekt am Beispiel der Debatten um die Corona-Politik. Insbesondere ging es um die Haltung zu den 53 Videos von Schauspielern und Schauspielerinnen, dass am Donnerstag veröffentlich wurde und das für hitzig und kontroverse Diskussionen sorgte.

Ein zweiter Blickwinkel war die Klimapolitik. In seiner Keynote-Rede und dem anschließenden Gespräch mit Sascha Suhrke machte der Fernsehmoderator, Arzt, Kabarettist, Schriftsteller und Gründer der Stiftung Gesunde Erde – Gesunde Menschen Eckart von Hirschhausen noch einmal deutlich, dass die Klimakrise keinen Aufschub mehr erlaubt. Vor allem die zunehmende Hitze und die Luftverschmutzung starke gesundheitliche Belastungen für alle Menschen. Von Hirschhausen erinnerte daran, dass es bisher keine Pläne gäbe, wie man mit der zunehmenden Hitzeentwicklungen etwas in Altenheimen und Schulen umgehen wolle. Eine zentrale Herausforderung sie er darin, konservativ denkende Menschen davon zu überzeugen, dass die Klimakrise schnelles Umdenken und Handeln erfordert. Abschließend regte er an, dass jede und jeder in seinem Umfeld schauen möge nach Menschen, die mehr Einfluss als er/sie selbst hätten, um sie davon zu überzeugen, etwas zum Stopp einer weiteren Klimaerwärmung beizutragen.

Gegründet wurde die Europäische Union als ein politisch-institutioneller Rahmen, der es ermöglichen sollte, politische Interessenkonflikte auf parlamentarischer Ebene – und nicht länger auf Schlachtfeldern – auszutragen. Etwas pathetisch wird die EU daher häufig als Friedensprojekt beschrieben. Diese Bezeichnung kann allerdings zu dem Fehlschluss verführen, die EU für einen konfliktfreien Raum zu halten. Das ist sie selbstverständlich nicht. Es geht vielmehr um die Art der Lösung von Konflikten: also um eine demokratische, politisch-diplomatische, zivile Konfliktlösung und auch Konfliktvermeidung. Julia Strasheim betonte, dass die EU hat über Jahrzehnte viele politische Instrumente geschaffen, bewaffnete Konflikte zu vermeiden und zu beenden. Und zwar nicht nur innerhalb der Staatengemeinschaft, sondern auch in ihrer Nachbarschaft.

Michael Roth sieht diese Kompetenz der EU allerdings gefährdet. Die EU stehe vor allem, so Roth, für Rechtsstaatlichkeit und für politische Konfliktlösung. Diese Werte würden aber nicht mehr von allen in der EU geteilt. Darin sieht Roth das Kernproblem der EU.

Mattea Weihe machte kritisierte hingegen die EU dafür, dass sie immer stärke zu einer Festung wird, die Menschen auf der Flucht keinen Zufluchtsort mehr gewähren will. Europa sei nicht mehr der Ort der Hoffnung, sondern ein Ort der Abschottung. Menschen, die fliehen fänden in Europa keinen Ort der Hoffnung mehr. So die Pressesprecherin von Sea-Watch e.V.

In diesem Panel wurde ein Dilemma deutlich. Einerseits gab es Übereinstimmung darin, dass ein Ertrinkenlassen von Flüchtenden auf dem Mittelmeer unmenschlich ist und das es nötig ist, die EU-Migrations- und Asylpolitik zu reformieren, um legale Wege der Zuwanderung zu öffnen. Andererseits bedeute Demokratie die Zulassung von Streit, von Dissens, wie Julia Strasheim betonte. Die daraus resultierende Debatte sei, so Strasheim, eine Voraussetzung für eine politische Konfliktlösung. Michel Roth stimmte dem zu, dass Streit zentral für eine Demokratie sei. Allerdings sei die Streitkultur derzeit grottenschlecht. Und das sei eine Folge autoritärer und populistischer Parteien und Politiker. Den Preis dafür zahlen allerdings die Menschen, die nun schon seit Jahren auf der Suche nach Schutz auf dem Mittelmeer bald Tag für Tag ertrinken, mit ihrem Leben.

Im letzten Panel des EuropaCamps ging es dann gezielt um die Frage nach künstlerischen Strategien gegen Rechts. Die klarste Antwort auf diese Frage gab die Journalistin und Autorin Hengameh Yaghoobifarah: Es sei sinnvoller, sich nicht auf rechte Debatten einzulassen, sondern statt dessen die eigenen Debatten voran zu bringen.

Abgerundet wurde das EuropaCamp mit einem kleinen Online-Kulturprogramm. Sandra Gugić las aus ihrem Roman „Zorn und Stille“. Thees Uhlmann bot einige seiner Lieder dar. Und im EU-Slam erzählten Johannes Floehr, Noah Klaus, Leticia Wahl und Meral Ziegler über ihre Lieblings-Europäer:innen.

Auch wenn das EuropaCamp 2021 in neuem Format erschien, war es nicht weniger spannend als die beiden vorhergehenden EuroapCamps in 2018 und 2019. Vielleicht kann nach dem Ende der Corona-Pandemie daraus ein kombiniertes Format aus Präsenzveranstaltung und Online-Veranstaltung werden. Das würde ermöglicht sowohl eine breitere Einbindung von Beitragenden als auch eine Ausweitung der Teilnehmenden ermöglichen. Denn der Weg nach Hamburg zum Internationalen Kulturzentrum Kampnagel steht schlicht nicht jedem offen, der an den Themen interessiert ist.

Fortgesetzt wird das EuropaCamp 2021 ab dem 27. April mit fünf Themenwochen jeweils dienstags und donnerstags:

  • BermEUda-Dreieck? – Europas Rolle in der Welt zwischen den USA, China und den Emerging Economies (Interaktiver Citizens‘ Think Tank)
  • What’s next? Klimaneutralität bis 2050 – und dann? (Interaktiver Citizens‘ Think Tank)
  • Trading Values? Die EU-Handelspolitik zwischen globaler Verantwortung und ökonomischer Stabilisierung (Planspiel-Workshop)
  • Managing Migration – Die EU auf dem Weg zu einer einheitlicheren Migrationspolitik? (Planspiel-Workshop)
  • Stronger than Yesterday? Die Gemeinsame Bewältigung der Corona-Pandemie (Interaktiver Citizens‘ Think Tank)

[Transparenzhinweise: Dies ist ein von der Veranstalterin gesponserter aber in Eigenverantwortung des Autors geschriebener Artikel.]

Titelbild: privat

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