- „In der Kommission sitzen 28 Politiker, die sich nicht in Brüssel einmauern.“
- „Kein einziger Mitgliedstaat wird 2060 noch mehr als ein Prozent der Weltbevölkerung ausmachen.“
- „Wir überlassen die Regulierung von Duschköpfen, Toilettenspülungen und Haarfönen anderen.“
- „Es kann nicht sein, dass allein die Lage auf der Landkarte darüber bestimmt, wie viel Verantwortung ein Land in der Flüchtlingsfrage trägt.“
Herr Kommissionspräsident, demokratische Grundwerte werden derzeit weltweit auf die Probe gestellt. Welchen Stellenwert hat Demokratie für Sie ganz persönlich?
Jean-Claude Juncker: Für mich ist Demokratie das Herzstück unserer Europäischen Union. Wer verstehen will, wie sehr demokratische Werte die Geschicke und Geschichte unseres Kontinents zum Besseren gewendet haben, muss nur die beiden Hälften des vergangenen Jahrhunderts vergleichen. Mein Vater musste noch darunter leiden, dass die Nationalsozialisten nicht nur grundlegende demokratische Rechte, sondern mit ihnen zugleich auch die Prinzipien der Menschlichkeit entwerteten. Daher ist auch für Abermillionen anderer Menschen seiner Zeit die Demokratie zum größten Geschenk ihres Lebens geworden. Die Demokratie ermöglicht es uns heute, in Frieden und Freiheit zu leben.
Gleichzeitig ist Demokratie nichts Selbstverständliches. Sie ist das, was wir jeden Tag daraus machen. Das spornt mich an, jeden Tag aufs Neue für Europa und unsere Art des friedlichen Zusammenlebens einzutreten.
Die politische Dynamik tendiert in Teilen Europas in Richtung illiberaler und national orientierter Demokratien. Eine Vielzahl diffuser Ängste prägt zunehmend die öffentliche Stimmung. Wie will die EU auf den „gefühlten“ Kontrollverlust ihrer Bürgerinnen und Bürger reagieren?
Juncker: Diese Frage könnte ich in drei Worten mit dem Schriftsteller Max Frisch beantworten: Informationen über Sachverhalte. Für mich bedeutet das, dass wir nicht nur den Europäern Fakten transparent liefern, sondern umgekehrt auch ihre Sorgen oder Bedenken in unsere Politik aufnehmen. In der Kommission sitzen 28 Kommissare – 28 Politiker, die sich nicht in Brüssel einmauern, sondern das Gespräch suchen. Seit Beginn unseres Mandats haben wir den Menschen unter anderem in rund 200 Bürgerdialogen zugehört und an über 500 Debatten mit nationalen und regionalen Parlamenten teilgenommen. Gleichzeitig hat die von mir geführte Kommission einen radikalen Kurswechsel vollzogen, indem wir uns ausschließlich auf die Fragen konzentrieren, in denen wir Europäer gemeinsam mehr erreichen können als jedes Mitgliedsland für sich allein.
Das heißt, wir kümmern uns um die Themen, in denen Europa einen Mehrwert hat und überlassen die Regulierung von Duschköpfen, Toilettenspülungen und Haarfönen anderen. So haben wir in den ersten zwei Jahren mehr als 100 Vorschläge kassiert, 48 entschlackt und nur 23 neue Initiativen pro Jahr gestartet, statt 130. Das sind 80 Prozent weniger im Vergleich zur vorherigen Kommission. Unser Ziel ist es, Politik wieder näher an die Menschen zu bringen, indem Entscheidungen dort getroffen werden, wo sie Sinn ergeben und die Entscheidungsträger vor Ort auch Verantwortung übernehmen.
Als Wirtschafts- und Wertegemeinschaft hat Europa Wohlstand, Frieden und Sicherheit geschaffen. Wie möchten Sie der heranwachsenden Generation die Vorteile der europäischen Idee näherbringen?
Juncker: Für junge Europäer ist es selbstverständlich, diesen Kontinent ohne Pass zu bereisen, überall in der Union zu studieren, zu arbeiten, zu leben und zu lieben. Noch mehr als meine Generation wissen und spüren sie, was es bedeutet, in einer Welt zu leben, die immer schneller und enger zusammenwächst – technisch, wirtschaftlich und menschlich. Europa lohnt sich für die jungen Europäer mehr denn je, zumal wir viele Herausforderungen nur lösen können, wenn wir über den nationalen Tellerrand schauen. Gemeinsam finden wir bessere und langfristig wirksamere Antworten, sei es durch den gemeinsamen Schutz unserer Außengrenzen, durch eine gemeinsame Währung, die uns wirtschaftlich Kraft verleiht oder durch eine grenzüberschreitende Investitionsoffensive, die europaweit Chancen und Arbeitsplätze schafft.
Ohnehin werden wir Europäer unser politisches Gewicht künftig nur noch zur Geltung bringen können, wenn wir es gemeinsam in die Waagschale werfen. Dazu braucht man sich nur die Zahlen anzuschauen. Unser Anteil an der Weltbevölkerung wird zunehmend kleiner. Während Europa zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts noch etwa ein Viertel der Weltbevölkerung stellte, werden 2060 nur noch fünf Prozent der Menschen Europäer sein. Kein einziger Mitgliedstaat wird dann noch mehr als ein Prozent der Weltbevölkerung ausmachen. Aus der Perspektive der jungen Menschen ist Europa also die beste Versicherung, um Wohlstand, Frieden und Sicherheit für die Zukunft zu garantieren.
In der EU-Grundrechtecharta ist das Recht auf Meinungs- und Informationsfreiheit verankert. Sind „Fake News“ eine ernstzunehmende Gefahr für die Demokratie in Europa? Welche Verantwortung tragen die sozialen Medien?
Juncker: Meinungs- und Informationsfreiheit und Verantwortung sind zwei Seiten einer Medaille. Das heißt auch, dass soziale Medien nicht einfach die Augen davor verschließen können, wofür sie eine Plattform bieten. Die Kommission hat dazu beigetragen, dass soziale Medien wie Facebook oder Google sich dazu verpflichten, Standards einzuführen, mit denen Manipulationen verhindert werden können. Wir werden genau prüfen, wie das umgesetzt wird. Allerdings bin ich auch zuversichtlich, dass die sozialen Medien im eigenen Interesse einen gewissen Ehrgeiz entwickeln. Schließlich ist Glaubwürdigkeit ihr wichtigstes Kapital.
Außerdem setze ich auf die Vielfalt der Qualitätsmedien in Europa und den gesunden Menschenverstand der Europäer. Ich habe den Eindruck, dass sie zunehmend sensibel dafür werden, wer sie wohlklingend anflunkert und wer ihnen die Wahrheit erzählt – auch wenn diese oft komplex ist.
Sie haben erst kürzlich ein festes Kerneuropa, welches themenspezifisch von verschiedenen konzentrischen Kreisen umgeben seien könne, vorgeschlagen. Wie soll das beim Thema Einwanderung funktionieren?
Juncker: Wenn es um Einwanderung geht, tun wir Europäer gut daran, diese als gemeinsame Herausforderung anzupacken. Solidarität ist einer der grundlegenden Pfeiler unserer Union. Sie ist das Herzstück unserer europäischen Migrationsagenda, die ich während meines Wahlkampfes zum Kommissionspräsidenten in 2014 entwickelt habe. Wir können Länder wie Griechenland und Italien nicht allein lassen, wenn es darum geht, Menschen in Not zu helfen. Es kann nicht sein, dass allein die Lage auf der Landkarte darüber bestimmt, wie viel Verantwortung ein Land in der Flüchtlingsfrage trägt. Genau deshalb haben wir ein europäisches Umverteilungssystem für Flüchtlinge geschaffen. Ebenso war es ein wichtiger und richtiger Schritt, dass wir endlich eine gemeinsame Grenz- und Küstenwache eingerichtet haben. Diese sorgt dafür, dass an all unseren gemeinsamen Grenzen die gleichen hohen Standards herrschen. Ein Soforteinsatzpool von mindestens 1500 Grenzschutzbeamten kann notfalls schnell – und unter europäischer Flagge vereint – reagieren. Ebenso ist es im Interesse aller, die Asylsysteme anzupassen und gemeinsam Einwanderung zu steuern.
Die EU-Kommission hat Anfang März ein Weißbuch mit fünf möglichen Szenarien zur Zukunft Europas veröffentlicht. Welches ist Ihr Wunschszenario und welches halten Sie derzeit für am wahrscheinlichsten?
Juncker: Als ich das Weißbuch vorgelegt habe, habe ich bewusst darauf verzichtet, meine Wunschvorstellung zu präsentieren. Ich wollte die Debatte eben nicht vorwegnehmen, sondern stimulieren. Europa hat aus solchen Debatten immer Kraft geschöpft. Das gilt heute umso mehr, weil die Frage, welchen Weg Europa künftig einschlagen will, eine ist, die wir gemeinsam entscheiden müssen. Ich lade Sie deshalb herzlich ein mitzudiskutieren. Unsere Zukunft liegt in unseren Händen.
Herr Kommissionspräsident, Sie blicken auf eine beeindruckende politische Karriere zurück. Was planen Sie nach Ihrer Amtszeit 2019? Den Mantel des leidenschaftlich engagierten Vollblut-Europäers legt man ja nicht einfach so ab.
Juncker: Ich habe alle Hände voll zu tun – schließlich hat gerade erst die zweite Hälfte meines Mandates begonnen. Wir haben noch viel vor. So werden wir unter anderem unsere europäische Verteidigung effizienter aufstellen, indem wir die Beschaffung von Waffensystemen besser koordinieren und künftig in diesem Bereich gemeinsam forschen und Technologien entwickeln. Und wir werden den digitalen Binnenmarkt weiterentwickeln. Wenn dieser reibungslos funktioniert, kann er 415 Milliarden Euro jährlich zu unserer Wirtschaftsleistung beitragen und damit Hunderttausende Arbeitsplätze schaffen. Das ist also eine dringend notwendige Zukunftsinvestition im Interesse der jungen Europäer.
Doch Europa ist für mich nicht nur eine Angelegenheit des Verstandes, sondern auch des Herzens – und das wird es auch über mein Mandat als Kommissionspräsident hinaus immer bleiben. Bei meinem Europawahlkampf in 2014 habe ich mich aufs Neue in die Vielfalt, Sprachen und Errungenschaften Europas verliebt. Europa ist und bleibt meine Liebe fürs Leben.
Vielen Dank für das Interview Herr Kommissionspräsident!
Titelfoto: Kommissionsgebäude, Bruxelles | J. Klute CC BY-NC-SA 4.0
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