Ilja Leonard Pfeijffer hält Europa einen Spiegel vor. Nach Trumps Maßnahmen, J.D. Vances Äußerungen und dem immer größer werdenden Einfluss von Elon Musk fragt er: Kann Europa die Vereinigten Staaten noch als Verbündeten betrachten? Unsere „Soft Power“ moralischer Überlegenheit ist nur von geringem Wert in einer Auseinandersetzung mit unmoralischen Regimen.

Essay von Ilja Leonard Pfeijffer | 22. Feruar 2025

Am 5. Februar wurde dem italienischen Staatspräsidenten Sergio Mattarella die Ehrendoktorwürde der Universität Aix-Marseille verliehen. In seiner Dankesrede sprach er über die Bedeutung der internationalen Rechtsordnung. Er zog Parallelen zu den 1930er Jahren, als die internationale Zusammenarbeit einem Klima von Konflikten und Machtgier wich, was zu einem Eroberungskrieg führte. „Dies war das Projekt des Dritten Reiches“, sagte er. „Und die gegenwärtige russische Aggression gegen die Ukraine ist von der gleichen Art“.

Er erinnerte an das Münchner Abkommen vom 30. September 1938, als „unter Missachtung jeglicher Verantwortung die Prinzipien der Gerechtigkeit zugunsten einer willkürlichen Lösung geopfert wurden, um eine ohnehin schon nicht mehr vorhandene Stabilität zu erreichen. Die Strategie der Beschwichtigung hat 1938 nicht funktioniert. Entschlossenheit hätte höchstwahrscheinlich einen Krieg verhindert. Wenn wir über die Aussichten auf Frieden in der Ukraine nachdenken, sollten wir uns dessen bewusst sein.

Diese Rede von Präsident Mattarella führte zu einem diplomatischen Streit. Der Vergleich mit dem Dritten Reich wurde von Russland missbilligt. Die Sprecherin des russischen Außenministers, Maria Sacharowa, sprach von „blasphemischen Fälschungen, die nicht ohne Folgen bleiben werden.“ Am Montag, den 17. Februar, wurde Italien Opfer eines massiven russischen Cyberangriffs. Die Computersysteme der Mailänder Flughäfen Malpensa und Linate wurden angegriffen, der Zahlungsverkehr der Banken wurde gestört und die Websites der Ministerien und der Carabinieri wurden abgeschaltet.

Dabei handelt es sich nicht um böswillige Streiche, Schikanen oder Provokationen. Es handelt sich um Kriegshandlungen, so wie auch frühere Versuche, unterseeische Internetkabel zu sabotieren und Wahlen zu beeinflussen, nur als Angriffshandlungen gewertet werden können. Europa befindet sich im Krieg mit Russland und es wäre unklug, dies zu leugnen.

Unser machtvollster Verbündeter will nun ohne uns mit unserem Feind verhandeln. Donald Trump versucht, sein Wahlversprechen, den Krieg zwischen Russland und der Ukraine am ersten Tag seiner Amtszeit zu beenden, mit einiger Verzögerung einzulösen, und hat Friedensgespräche mit Russland aufgenommen. Trumps Sprecher haben wiederholt klargestellt, dass Europa dazu nicht eingeladen werde.

Offene Rechnung

Der einfachste Weg, einen Krieg zu beenden, ist, ihn zu verlieren. Diesem Sprichwort folgend hat der selbsternannte Meisterverhandler bereits vorab erklärt, dass es unrealistisch sei, von Russland zu erwarten, dass es den Teil des ukrainischen Territoriums, den es nach einer gewaltsamen Invasion besetzt hat, wieder aufgibt.

Als Gegenleistung für diese Veräußerung ihrer nationalen Souveränität räumt Trump der Ukraine das Privileg ein, den Vereinigten Staaten Reparationen für die zuvor erhaltene Hilfe in Form der Hälfte der Einnahmen aus allen Bodenschätzen zu zahlen.

Dies geht aus einem vertraulichen Dokument des Weißen Hauses vom 7. Februar hervor, das dem Telegraph und der Financial Times vorliegt und in dem auch die Forderung der USA nach vollständiger Kontrolle der ukrainischen Häfen und anderer wichtiger Infrastrukturen erwähnt wird.

Laut Trump haben die Vereinigten Staaten 300 Milliarden Dollar für den Schutz der Ukraine ausgegeben, was eine Übertreibung ist, da der Kongress 175 Milliarden Dollar an Hilfen bewilligt hat, von denen etwa 70 Milliarden Dollar der US-Rüstungsindustrie zugute gekommen sind. Aber laut Trump steht eine Rechnung ohnehin noch aus. „Sie haben große Ressourcen“, sagte Trump vor ein paar Tagen in einem Interview mit Fox News. „Wir können einen Deal machen. Oder vielleicht auch nicht. Die Ukrainer könnten eines Tages Russen werden. Oder vielleicht auch nicht. Aber ich will das Geld zurück.“

Nach Ansicht der Regierung in Kiew behandelt das US-Regime die Ukraine „wie den besiegten Aggressor des Krieges, dem Strafmaßnahmen auferlegt werden, die schwerwiegender sind als die Bestrafung Deutschlands im Rahmen des Versailler Vertrags von 1919.“

Die Stadt München, in der die von Mattarella erwähnte Lektion – dass eine Beschwichtigungspolitik gegenüber einem Aggressor eine riskante Strategie ist – erteilt wurde, war am Freitag, den 14. Februar, Gastgeber der 61. Münchner Sicherheitskonferenz, an der auch US-Vizepräsident J.D. Vance teilnahm.

Sie schien den europäischen Vertretern eine Gelegenheit zu bieten, ihren mächtigen Verbündeten für die Interessen der Ukraine und des übrigen Europas zu sensibilisieren. Stattdessen nutzte Vance das ihm zur Verfügung gestellte Podium, um im Vorfeld der deutschen Wahlen am 23. Februar einen Beitrag zur Wahlkampagne der rechtsextremen Alternative für Deutschland zu leisten und einen Frontalangriff auf Europa zu starten.

„Die Bedrohung für Europa, über die ich mir am meisten Sorgen mache, ist nicht Russland, China oder irgendein anderer äußerer Feind“, sagte er, “sondern die Bedrohung von innen.“ Er ging ausführlich auf die Gefahren der „Masseneinwanderung“ ein, um seinen rechtsextremen Freunden Unterstützung zu gewähren.

Er warf Europa vor, die Grundwerte der Demokratie und der Meinungsfreiheit zu missachten, indem es die rumänischen Wahlen, die unerwartet von einem pro-russischen Extremisten gewonnen wurden, wegen angeblicher russischer Einmischung für ungültig erklärte und im Namen des Kampfes gegen Fehlinformationen die sozialen Medien zensieren wollte.

Er verglich das heutige Europa mit den kommunistischen Regimen während des Kalten Krieges, da „hässliche Wörter aus der Sowjet-Ära wie Fake News und Desinformation“ als Entschuldigung für die Unterdrückung von Bürgern benutzt werden, „die alternative Ansichten äußern oder, Gott bewahre, unerwünscht wählen oder, schlimmer noch, Wahlen gewinnen“.

Nicht vertrauenswürdig

Diese Rede von Vizepräsident Vance war von schockierender Unverfrorenheit. Jemand, der Trumps rechte Hand sein will, nachdem er ihn noch vor wenigen Jahren mit Hitler verglichen hat, ist ein schamloser Opportunist, dem es an jeglicher Autorität fehlt, Europa zu belehren. Außerdem ist er als selbsternannter Verfechter der Meinungsfreiheit ein Vertreter eines revanchistischen Regimes, das alle Informationen über Gender-Politik und Klimawandel aus dem Internet löschen will.

Seine demokratisch gewählte Regierung missbraucht ihr demokratisches Mandat, um die demokratischen Institutionen abzubauen und eine Oligarchie von Milliardären zu errichten. Im Namen von Elon Musk, der von niemandem demokratisch gewählt wurde, glaubt Vance, er habe das Recht, Europa davor zu warnen, dessen Plattform X einzuschränken. Das Recht auf freie Meinungsäußerung ist etwas anderes als das Recht, durch die Verbreitung von Desinformationen zu manipulieren. Es besteht keine Chancengleichheit zwischen der Meinung der Bürger und der durch Algorithmen unterstützten Einflussnahme im großen Stil.

Die unvermeidliche Schlussfolgerung ist eine doppelte. Die erste Schlussfolgerung, dass Europa seit dem Amtsantritt von Präsident Trump nicht mehr blind darauf vertrauen kann, dass die Vereinigten Staaten die Sicherheit der Ukraine und des restlichen Kontinents garantieren, hätte man kommen sehen können und müssen. Viele hatten es sogar vorausgesagt, was jedoch nicht zu angemessenen Vorsorgemaßnahmen geführt hat. Gleichzeitig ist es eine harte Lektion, wenn man jetzt sieht, wie unverhohlen die Trump-Administration die territoriale Integrität in Europa den finanziellen Interessen der USA unterordnet.

Aber ich fürchte, die zweite Schlussfolgerung ist noch schockierender und wird noch weitreichendere Folgen haben. Der Angriff von Vance und frühere Angriffe von Musk auf die europäischen Demokratien und ihre offene Unterstützung für extremistische, antidemokratische und antieuropäische Parteien in Europa werfen die Frage auf, inwieweit Europa die Vereinigten Staaten noch als Verbündete betrachten kann.

Wenn wir uns daran erinnern, dass Trump sich wiederholt negativ über das Projekt der europäischen Einigung geäußert hat, und wenn wir uns vergegenwärtigen, dass die von ihm angekündigten Handelsbeschränkungen für Europa Realität werden könnten, gewinnt diese Frage weiter an Bedeutung. Wir hatten erwartet, dass mit dem Amtsantritt von Trump unser treuer Verbündeter weniger verlässlich werden würde, aber jetzt müssen wir sogar feststellen, dass dieser ehemalige Verbündete sich in eine uns feindlich gesinnte Macht verwandelt hat.

„Soft Power“

Es steht mehr auf dem Spiel als die territoriale Integrität der Ukraine. Putins russisches Regime führt seit Jahren einen hybriden Krieg gegen Europa und tut alles, um die Einheit der Europäischen Union zu untergraben, indem es Desinformationen verbreitet, antieuropäische Populisten unterstützt, sich in Wahlen einmischt und die Flüchtlingsproblematik bewusst verschärft.

In jüngster Zeit haben wir es mit einer Regierung in den Vereinigten Staaten zu tun, die mit all dem einverstanden ist, die die Europäische Union ebenfalls als unerwünscht ansieht und zudem aktiv politische Bewegungen unterstützt, die das europäische Projekt sabotieren wollen.

In einem geopolitischen Spielfeld, in dem nur noch das Recht des Stärkeren gilt, wird Europa der Stärkere werden müssen, um zu überleben

Plötzlich steht Europa zwischen einer aggressiven Macht mit imperialistischen Ambitionen, die auch vor der militärischen Invasion eines souveränen Staates nicht zurückschreckt, und unserem früheren Beschützer, der den Einmarsch Russlands in die Ukraine als günstige Gelegenheit zur Selbstbereicherung betrachtet, für die er gerne mit unserem Feind paktiert, und der keinen Grund zu der Annahme bietet, dass er in künftigen Fällen Gerechtigkeit über sein eigenes Interesse stellen wird.

Die internationale Rechtsordnung, auf die sich Mattarella in seiner Rede in Marseille bezog, ist schnell zu einer Fiktion geworden, falls Europa nicht in der Lage sein sollte, sie durchzusetzen, was gleichfalls eine Fiktion ist.

Auf einem geopolitischen Spielfeld, auf dem nur noch das Recht des Stärkeren gilt, wird Europa der Stärkere werden müssen, um zu überleben. Wir brauchen die Aufgabe, vor der wir stehen, nur auf diese Weise zu formulieren, um zu erkennen, dass wir wahrscheinlich nicht überleben werden.

Wirtschaftlich sind wir ein Machtblock, aber militärisch sind wir in keiner Weise auf den Showdown vorbereitet, der sich anbahnt. Unsere „Soft Power“ der moralischen Überlegenheit, derer wir uns gerne rühmen, ist in der Auseinandersetzung mit unmoralischen Regimen von nur geringem Wert. Das Schlimmste aber ist, dass wir durch politischen Dissens ausgebremst werden.

Europa steht vor einer historischen Herausforderung. Es muss sich selbst mit einer noch nie dagewesenen Demonstration von Einigkeit und Entschlossenheit überraschen, oder es existiert bald nicht mehr.

Dieser Essay von Ilja Leonard Pfeijffer erschien ursprünglich am 22. Februar 2025 unter dem Titel „Europa is in oorlog met Rusland. Het zou onverstandig zijn dat te ontkennen“ in der belgischen Zeitung „De Morgen“. Übersetzung ins Deutsche: Jürgen Klute

Titelbild: Patrick Mueller CC BY-NC-ND 2.0 DEED via FlickR

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Foto: Stephan Vanfleteren

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