Die EU müsse sich wieder großen Projekten zuwenden, forderte Ulrike Guérot bei einer Diskussionsrunde des Ausschusses der Regionen (AdR) in Brüssel. Skeptisch zeigten sich die Gäste gegenüber einem zentralen Versprechen der neuen Kommissionspräsidentin

Von Hanna Penzer

In welchem Zustand befindet sich die Europäische Union vier Monate nach den Europawahlen? Was erwarten die Vertreter der Städte und Regionen vom neuen Kommissionsteam um die Deutsche Ursula von der Leyen? Zum Austausch über diese Fragen luden der Ausschuss der Regionen und der Wissenschaftliche Dienst des Europäischen Parlaments (EP) am 16. Oktober in die Bibliothek des EU-Parlaments in Brüssel. An den voll besetzten Stuhlreihen mit Blick auf das Brüsseler Plenargebäude ließ sich bereits erahnen, dass die geladenen Gäste keineswegs für meinungsarme Phrasen bekannt sind.

Eingeleitet wurde die Diskussion durch Mairead McGuiness, Vizepräsidentin des EP aus Irland (Fine Gael – EPP) und dem Vorsitzenden des Ausschusses für Regionalentwicklung Younous Omarjee (La France Insoumise – Linksfraktion GUE/NGL). Die Irin McGuiness warf den Blick auf die zurückliegende EU-Wahl. Eine Wahlenthaltung von knapp 50 Prozent und einem Stimmenanteil von einem knappen Drittel für nationalistisch orientierte Parteien dürften kein Grund zur Erleichterung sein. Die von ihr formulierte Frage, mehr Bürger für das europäische Vereinigungsprojekt gewonnen werden können, sollte den weiteren Verlauf der Diskussion bestimmen.

Omarjee: Unzureichender Haushalt bedroht die Glaubwürdigkeit der EU

Sowohl die Christdemokratin McGuiness wie der Vertreter der Linken Omarjee waren sich darin einig, dass die EU mehr leisten müsse, um die wirtschaftliche Kluft zwischen den Regionen zu verringern. Beide kritisierten vor diesem Hintergrund den Unwillen einiger Mitgliedstaaten, die Union mit den hierzu notwendigen Finanzmitteln auszustatten. Der EU jene Mittel an die Hand zu geben, die sie zur Erfüllung ihrer Aufgaben benötige, sei eine Frage der Glaubwürdigkeit, unterstricht Omarjee. Es sei nicht hinzunehmen, die traditionellen Politikbereiche der Landwirtschaftspolitik und der Regionalförderung gegen neue EU-Politiken auszuspielen.

Nach diesem Aufschlag der beiden Europaabgeordneten wurde die weitere Diskussion von der in Österreich lehrenden Politikwissenschaftlerin, Publizistin und Gründerin des European Democracy Labs, Ulrike Guérot und dem Vorsitzenden des EU-Ausschusses der Regionen und Parlamentspräsidenten der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens (DG) Karl-Heinz Lambertz bestritten.

Einen grundsätzlicheren Blick auf die zunehmende Kluft zwischen prosperierenden Ballungsgebieten und zunehmend abgehängten Regionen warf Ulrike Guérot. So dürfe man einerseits nicht die Augen davor verschließen, dass die Freizügigkeit innerhalb der EU die Abwanderung gut ausgebildeter Eliten begünstige und die bestehenden regionalen Schieflagen somit verschärfe. Andererseits führe gerade die Stadt-Land-Kluft den zunehmenden Bedeutungsverlust der Nationalstaaten besonders deutlich vor Augen, welcher bei den drängendsten Konflikten unserer Zeit praktisch keine Rolle mehr spiele.

Von ihrer Vision einer Europäischen Republik zeigte sich Karl-Heinz Lambertz angetan. Dabei stellte sich für ihn jedoch die Frage, wie die Bürger von der europäischen Integration überzeugt werden könnten. Ebenso wie die 751 Mitglieder des Europaparlaments seien auch die (EU-weit einige Tausend) nationalen Parlamentarier nicht imstande, die erforderliche Überzeugungsarbeit in der Öffentlichkeit zu leisten.

Lambertz: „Bürger entscheiden mit dem Bauch, Herz und Kopf“

Gelänge es den EU-Institutionen jedoch, die rund eine Million Mandatsträger*innen auf kommunaler Ebene für Europa zu begeistern, müsse man sich um die Akzeptanz der EU keine Sorgen mehr machen. Allerdings sei es wenig hilfreich, politisch engagierte Bürger*innen nach Brüssel einzuladen, um sie von den Institutionen der EU zu begeistern oder sie davon zu überzeugen, welche der Institutionen am wichtigsten ist. Erfolgsversprechender wäre es, so Lambertz, Kommunalpolitiker*innen Möglichkeiten zum Austausch und zur Vernetzung mit Kolleg*innen aus anderen Regionen und Mitgliedsländern der EU zu geben.

Schließlich, so Lambertz im Blick auf die auf die von den MdEP geschilderten Schwierigkeiten bei den Verhandlungen um den künftigen Haushaltsrahmen der EU, brauche es sowohl materielle, als auch intellektuelle und emotionale Gründe, um die Bürger*innen von der europäischen Einigung zu überzeugen. Eine Aussage, der die Politikwissenschaftlerin Guérot nur bedingt zustimmen wollte. Denn eine Nation – bzw. ihre Utopie einer supranationalen Republik – hänge keinesfalls von gemeinsamen Werten oder Gefühlen ab. In einer Republik ginge es nicht darum, dass die Bürger*innen sich lieben, sondern, dass sie die gleichen Rechte genössen.

Nachdem das Großprojekt des Binnenmarktes eine Gleichstellung von Waren („eine Gurke ist eine Gurke ist eine Gurke“) erreicht habe und mit der Einführung des Euro Unterschiede zwischen nationalen Währungen beseitigt wurden, forderte Guérot, nun den überfälligen nächsten Schritt zu gehen – die Gleichstellung der Bürger vor dem Recht. Denn – von wenigen Ausnahmen abgesehen – garantiere die EU bislang im Wesentlichen gleiche Verbraucherrechte, während Bereiche wie das Wahlrecht oder die Besteuerung weiter beim Nationalstaat verharrten.

Guérot: „Bürger nur anzuhören, entspricht dem Geist Ludwig XIV.“

Kritisch blickten die Podiumsteilnehmer hingegen auf den Vorschlag einer „Konferenz zur Zukunft Europas“, die den Vorstellungen Ursula von der Leyens als Ausgangspunkt für eine weitere Demokratisierung der EU dienen soll. AdR-Präsident Lambertz warnte – auch vor dem Hintergrund des Scheiterns des Spitzenkandidatenmodells – davor, Erwartungen zu wecken, denen die Institutionen in der Folge nicht gerecht werden könnten. Er verwies auf die Vielzahl der Bürgerdialoge, die im Vorfeld der Europawahlen organisiert wurden. Ohne transparente Abläufe und eine konsequente Nachbereitung solcher Initiativen bestünde die Gefahr, mehr Enttäuschte als Europafreunde zu schaffen.

Als Alternative gegenüber symbolhaften Ad-hoc-Initiativen empfahl Lambertz – der sich freute, dass er als Vorsitzender einer Institution, die im EU-Gefüge ohnehin nicht wahrgenommen werde, zumindest klar sagen könne, welche Vorschläge er für Unsinn halte – einen permanenten Bürgerdialog, wie er vom Ausschuss der Regionen angeregt wurde oder in der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens derzeit eingeführt wird. Grundsätzlichere Kritik übte Ulrike Guérot, die darauf verwies, dass den Bürger*innen in einer Demokratie die Entscheidungshoheit obliegen müsse. „Bürger nur anzuhören, entspricht dem Geist Ludwig XIV.“, so die Gründerin des European Democracy Labs.

Während sich die Vorfreude auf den – sich weiter hinauszögernden – Amtsantritt der neuen Von-der-Leyen-Kommission in dieser Runde offensichtlich in Grenzen hielt, warf Ulrike Guérot einen wehmütigen Blick in die Vergangenheit. Unter Jacques Delors sei jederzeit klar gewesen, dass die EU-Kommission ehrgeizige Projekte vorantreibe. Auf diesen Geist solle sich auch die neue, vornehmlich „PR-getriebene“ (Sascha Lobo) Leiterin der obersten EU-Behörde besinnen.


Hanna Penzer ist Politikwissenschaftlerin und arbeitet als freiberufliche Übersetzerin in Brüssel.

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