Laut Ilja Leonard Pfeijffer ist die demokratische Debatte so aus dem Ruder gelaufen, dass „Feuerlöscher und Pyromanen sich gegenseitig für den beklagenswerten Zustand des Hauses verantwortlich machen“. In diesem Essay seziert er die moralische Verwirrung, die eine solche falsche Symmetrie verursacht.
Essay von Ilja Leonard Pfeijffer | 6. April 2025
In Kürze finden in Genua Kommunalwahlen statt. Der Wahlkampf ist in vollem Gange und in diesem Zusammenhang war ich letzten Montag Gast bei einem vertraulichen, privaten „Aperitivo elettorale“, den meine Schwiegermutter bei sich zu Hause für Ilaria Cavo, die Kandidatin für das Amt der Vizebürgermeisterin der rechten Koalition, organisiert hatte.
Was ich gerade beschrieben habe, ist schon merkwürdig. Es ist nicht so sonderbar, dass ich dort war, denn ich bin gerne zu Gast bei meiner Schwiegermutter, und es ist auch nicht ungewöhnlich in Italien, dass der Wahlkampf größtenteils in der Privatsphäre eleganter Salons stattfindet, wo einflussreiche Gäste gefeiert werden, von denen man dann erwartet, dass sie nicht nur eine, sondern gleich Dutzende oder gar Hunderte von Stimmen einwerben.
Merkwürdig ist, dass meine Schwiegermutter sich für ein führendes Mitglied des rechten Blocks engagiert hat. Sie ist die Tochter der Anwältin Isetta, der besten Freundin von Sandro Pertini, Widerstandsheld und ehemaliger Präsident Italiens, der hochgeschätzten und unantastbaren Galionsfigur der Sozialisten, auf dessen Schoß sie als Kind saß. Sie wurde nach ihm benannt, weil sie Sandra heißt. Pertinis Pfeife liegt auf einem Sideboard in ihrer Küche. Sie gehört zum sozialistischen Adel, wie ich es ausdrücken würde.
Aber sie ist auch eine Freundin von Ilaria Cavo, mit der sie schon mehrmals zusammengearbeitet hat, und in ihrer charmanten Laudatio betonte sie, dass ihre Unterstützung für sie etwaige ideologische Differenzen überbrückt und auf Vertrauen in die Person beruht, was ich ungeachtet des gutbürgerlichen Ambientes des 19. Jahrhunderts als eine ultramoderne Argumentation empfand, denn in unseren heutigen Demokratien sind Persönlichkeiten entscheidender als Wahlprogramme.
Brennendes Haus
Neben den anständigen bürgerlichen Rechten, die sich an ausgewählten Weinen und Häppchen labten, waren auch ein paar anständig aussehende rechtsextreme Fanatiker gekommen. Irgendwann kam ich mit einem älteren Paar ins Gespräch, das mich höflich nach meinen literarischen Aktivitäten fragte.
Als ich sagte, dass die italienische Übersetzung meines Romans Alkibiades bald erscheinen würde, zeigte der ältere Herr sich interessiert. Er fragte mich, warum ich mich für diese Figur interessiere. Ich erklärte, dass Alkibiades ein Protagonist in einer Zeit war, in der die athenische Demokratie im Niedergang begriffen war, dass die Symptome dieses Niedergangs für uns heute erschreckend aktuell sind und dass der historische Roman in der Tat von äußerst aktuellen Entwicklungen handelt. Es ist ein Buch, das vor dem Untergang unserer Demokratie warnen soll.
Das ältere Ehepaar stimmte meiner Risikoanalyse voll und ganz zu. Auch sie glauben, dass die Demokratie in großer Gefahr ist.
„Schauen Sie sich nur an, was heute in Frankreich passiert ist“, sagte sie.
„Marine Le Pen wurde verurteilt und darf nicht bei den Wahlen kandidieren.“
„Genau wie in Amerika“, sagte er. ‚Dort sieht man dasselbe. Nicht gewählte Richter versuchen ständig, Trumps Politik zu sabotieren.“
„Es ist der innere Feind‘, sagte sie. “Genau wie J.D. Vance in München sagte. Der innere Feind zerstört unsere Demokratie.“
Es ist, als würden Brandstifter und Feuerwehrmänner, die vor einem brennenden Haus stehen, miteinander reden und sich in ihrer Analyse völlig einig sind, dass das Haus wahrscheinlich seine besten Tage hinter sich hat. Aber selbst dieser Vergleich wird der Absurdität der Situation nicht gerecht. Es ist, als würden sich die Feuerlöscher und die Brandstifter gegenseitig die Schuld für den beklagenswerten Zustand des Hauses geben, wobei die Feuerwehr die zerstörerische Kraft des Feuers dafür verantwortlich macht, während die Brandstifter auf den enormen Schaden durch das Löschwasser hinweisen.
Die demokratische Legitimität, die ein Abgeordneter für sich beanspruchen kann, gibt ihm oder ihr die Möglichkeit, das Gesetz durch die entsprechenden Verfahren zu ändern, aber sie ist keine Lizenz, das Gesetz zu brechen.
Es ist wie bei den amerikanischen Wahlen vom 5. November letzten Jahres, bei denen die Sorge um den Zustand der Demokratie aus Sicht aller Meinungsforscher bei weitem das wichtigste Thema für die Wahlberechtigten war, wobei diese Sorge sowohl von Wählern geteilt wurde, die Trump als Gefahr betrachteten, als auch von Wählern, die glaubten, dass er 2020 um seinen Sieg betrogen worden war.
Sowohl diejenigen, die die Demokratie angreifen, als auch diejenigen, die sie verteidigen, betrachten sich selbst als die Verteidiger der Demokratie und die anderen als ihre größte Bedrohung, weil sie eine unterschiedliche Verständnis von Demokratie haben. Für die einen ist Demokratie per definitionem ein nie perfektes System von Institutionen und verfassungsrechtlichen Garantien, in dem ein Gleichgewicht zwischen allen Teilinteressen angestrebt werden muss, während die andere Gruppe sie als Diktatur der Mehrheit definiert, in der der Wahlsieger das Mandat hat, die Institutionen und den Rechtsstaat im Namen des Volkes zu missachten, außer Kraft zu setzen oder zu zerschlagen.
Ein schwindelerregendes Tempo
Dass sich beide Definitionen gleichermaßen gut in Worte fassen lassen, bedeutet jedoch nicht, dass sie gleichwertig sind. Die zweite Definition führt unweigerlich zur Zerstörung der Demokratie im Namen der demokratischen Mehrheit, zur Aushöhlung des vom Rechtsstaat garantierten Gleichheitsideals, zu diktatorischer Willkür und Tyrannei. Die zunächst im besten Sinne demokratisch legitimierten Diktatoren, in deren Namen Europa Mitte des letzten Jahrhunderts zerstört wurde, sind ein eindrucksvolles historisches Beispiel für die Gefahren dieser verzerrten Sicht auf das Wesen der Demokratie.
Als Charles de Montesquieu 1748 ein Regierungsmodell entwarf, das eine Alternative zum und eine Garantie gegen den Absolutismus bieten sollte, formulierte er das Prinzip der „Trias Politica“. Die von ihm für unabdingbar erklärte Gewaltenteilung von Legislative, Exekutive und Judikative hat sich seither als Fundament eines ausgewogenen demokratischen Rechtsstaats bewährt.
Aber in der Auseinandersetzung zwischen den Brandstiftern und den Feuerlöschern unterliegt auch dieses Prinzip der Gewaltenteilung widersprüchlichen Interpretationen. Nach klassischer Auffassung ist die Tatsache, dass eine einflussreiche Politikerin wie Marine Le Pen wegen nachgewiesener Gesetzesverstöße verurteilt wurde, ein Beweis für die Kraft des Prinzips der Trias politica, weil dieses Urteil bestätigt, dass niemand über dem Gesetz steht, und weil es die korrigierende Rolle der Justiz gegenüber einem Vertreter der Legislative demonstriert. Sie und ihre Anhänger sprechen jedoch von einem politischen Prozess und betrachten es als grobe Verletzung der Trias politica, dass ein nicht gewählter Richter ein Urteil über einen Parlamentarier fällt, der ein Mandat des Volkes hat.
Auch diese beiden Interpretationen sind nicht gleichwertig. Die demokratische Legitimität, die ein Volksvertreter genießt, gibt ihm oder ihr die Möglichkeit, das Gesetz durch die entsprechenden Verfahren zu ändern, aber sie ist keine Freibrief, das Gesetz zu brechen. Der Richter hält die Gesetze aufrecht, die von den Volksvertretern verabschiedet wurden, und bestraft diejenigen, die diese Gesetze brechen, selbst wenn es sich dabei um Volksvertreter handelt.
Es ist bittere Ironie, dass die Vereinigten Staaten von Amerika, die 1787 als erste Nation der Welt die Trias politica von Montesquieu in ihrer Verfassung verankerten, seit dem Amtsantritt von Donald Trumps Regierung mit atemberaubender Geschwindigkeit zum erschreckendsten Beispiel für die Gefahren werden, die aus einem Machtungleichgewicht zwischen den drei Gewalten folgen.
Für einige ist die Demontage der Demokratie im Namen der Demokratie der Gipfel der Demokratie
Ich könnte das auch bösartiger formulieren. Für einen Politiker mit absolutistischen Ambitionen ist die Gewaltenteilung das erste Hindernis, das aus dem Weg geräumt werden muss. Als Oberhaupt der Exekutive hat Trump die Legislative durch Dekrete ins Abseits gedrängt, und es sollte betont werden, dass seine Parteikollegen, die in beiden Häusern des Parlaments die Mehrheit haben, dies zulassen. Er unternimmt auch große Anstrengungen, um die Justiz unter seine Kontrolle zu bringen. Bereits in seiner ersten Amtszeit hatte er eine konservative Mehrheit im Obersten Gerichtshof der USA erreicht.
Am 8. Februar, 18., 20., 21. und 23. März griff er verschiedene einzelne Richter an. Am 8. Februar, 9., 22. und 27. März bedrohte er Staatsanwälte und Richter, die an Prozessen gegen ihn beteiligt waren. Am 9. Februar behauptete er, der Präsident habe die absolute Macht über das Rechtssystem. Am 14. Februar zwang er einen Richter, ein Verfahren gegen den Bürgermeister von New York einzustellen.
Am selben Tag entließ er achtzehn für Einwanderungsfragen zuständige Richter. Am 15. Februar erklärte er, dass er als selbsternannter Retter des Landes über dem Gesetz stehe. Am 16. Februar forderte er den Obersten Gerichtshof auf, ein Urteil eines niedrigeren Gerichts aufzuheben, und am 13., 24. und 26. März stellte er ähnliche Anträge. Am 14. März stellte er die Unabhängigkeit der Justiz in Frage. Am 15. März ignorierte er ein Gerichtsurteil. Am 17. und 24. März weigerte er sich, auf Fragen von Richtern zu antworten, die ihn zu seiner Einwanderungspolitik befragten.
Ein Wunder
Diese Woche, am 1. April, wurden Wahlen für einen der sieben Sitze im Obersten Gerichtshof von Wisconsin abgehalten. Elon Musk hatte den konservativen Kandidaten mit einer massiven Spende von einer Million Dollar unterstützt und sogar Wählern Geld versprochen, die ein Selfie mit der richtigen Wahl auf ihrem Stimmzettel einreichen konnten. Dass der liberale Kandidat dennoch gewann, kann als Wunder bezeichnet werden.
Für manche ist die Demontage der Demokratie im Namen der Demokratie der Gipfel der Demokratie. Trump hat bereits zu verstehen gegeben, dass er es ernst meinte, als er offen über eine dritte Amtszeit spekulierte, die nach dem 22. Zusatzartikel zur Verfassung illegal wäre. In den Gentlemen’s Clubs der Republikanischen Partei spricht niemand mehr über Prinzipien oder Gerechtigkeit, und während sie ausgewählte Weine und Snacks genießen, scharen sich die Parteibonzen stillschweigend hinter der Person, die ihnen diese einzigartige Gelegenheit zur Selbstbereicherung bietet.
Wenn wir es wirklich wollen, werden sie dafür eine Definition von Demokratie erfinden, die dies rechtfertigt. Doch auch wenn heute alles zu einer Frage der Meinung geworden ist, sogar die Fakten, gibt es einen Unterschied zwischen Feuerlöschern und Pyromanen. Es gibt einen Unterschied zwischen Gut und Böse.
Dieser Essay von Ilja Leonard Pfeijffer erschien ursprünglich am 05. April 2025 unter dem Titel „Wat wel raar is, is dat mijn schoonmoeder zich heeft ingezet voor een kopstuk van het rechtse blok“ in der belgischen Zeitung „De Morgen“. Übersetzung ins Deutsche: Jürgen Klute
Titelbild: Marine Le Pen, © European Union 2015 – European Parliament“ CC BY-NC-ND 4.0 via FlickR
Auch ein Blog verursacht Ausgaben ...
![Ilja Pfeijffer © Stephan Vanfleteren [ALWAYS MENTION CREDITS] HighRes-Web](https://europa.blog/wp-content/uploads/2024/12/Ilja-Pfeijffer-©-Stephan-Vanfleteren-ALWAYS-MENTION-CREDITS-HighRes-Web.jpg)
Ilja Leonard Pfeijffer
Foto: Stephan Vanfleteren
1419
Leave A Comment