Rechtsextreme Politiker verachten die Kultur und versuchen dennoch, sie zu beeinflussen, schreibt Ilja Leonard Pfeijffer, denn der aktuelle politische Kampf ist vor allem ein Kulturkampf, in dem traditionelle Werte gegen Globalisierung und Wandel verteidigt werden.

Kolumne von Ilja Leonard Pfeijffer | 3. November 2024

Ausgangspunkt dieser Betrachtungen ist Otterlo in der niederländischen Provinz Gelderland, wo sich im Houtkampweg 6 in einem idyllischen Wald das Kröller-Müller-Museum befindet. Vom 29. April bis zum 3. September 2023 fand dort eine Ausstellung statt mit dem Titel „Futurismus & Europa. Die Ästhetik einer neuen Welt“. Diese einzigartige Retrospektive über den Futurismus und seinen Einfluss auf die anderen Strömungen der europäischen Avantgarde, an der fünf Jahre lang gearbeitet wurde und für die Schlüsselwerke aus der ganzen Welt ausgeliehen wurden, stieß auf so großes Interesse, dass sie die niederländische Zeitung NRC zu gleich zwei großen Reflexionen inspirierte, die am 3. Mai 2023 veröffentlicht wurden.

Es war geplant, die Ausstellung anschließend nach Italien zu zeigen. Aufgrund der italienischen Wurzeln des Futurismus und der zahlreichen Werke italienischer Künstler, die ausgestellt wurden, war dies naheliegend. Es gab eine Vereinbarung mit dem MaXXI, dem Museum für moderne Kunst in Rom. Alles war vorbereitet, doch als sich die Kuratoren wegen der letzten Formalitäten an das italienische Kulturministerium wandten, wurde das Verfahren durch ein persönliches Veto von Minister Gennaro Sangiuliano gestoppt. Wir werden diese Ausstellung machen“, sagte er. Der Kulturminister verhinderte die Ausstellung, weil sie von Ausländern gemacht wurde.

Zum besseren Verständnis dieses Vorfalls, der diese Woche bekannt wurde, muss ich fünf Dinge erklären. Erstens war Sangiuliano nicht nur Mitglied der Regierung der neofaschistischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, sondern er ist auch ein überzeugter Faschist. In den 1980er und 1990er Jahren, als das für eine politische Karriere noch alles andere als förderlich war, war er bereits Mitglied des „Movimento Italiano Sociale – Destra Nazionale“, also der politischen Partei, die die Nachfolgerin der von Benito Mussolini gegründeten faschistischen Partei war, und die inzwischen in Melonis Partei aufgegangen ist. Der zweite Punkt ist, dass der Futurismus den Faschismus inspiriert hat. Mussolini selbst erklärte, dass sein Denken weitgehend von Filippo Tommaso Marinetti (1876-1944), dem Begründer der futuristischen Bewegung, geprägt wurde. Für jemanden mit Sangiulianos politischer Ausrichtung ist eine Ausstellung über den Futurismus also nicht eine beliebige Ausstellung. Seiner Meinung nach sollte eine solche Ausstellung dazu dienen, die italienische Besonderheit und die Wurzeln des Faschismus zu zeigen.

Warum kommen diese Informationen erst jetzt an die Öffentlichkeit? Diese Frage bringt mich zu meinem dritten Punkt. Kürzlich, am 6. September dieses Jahres, trat Sangiuliano wegen eines Skandals um seine Geliebte Maria Rosaria Boccia von seinem Amt als Kulturminister zurück, der an Pikanterie alle Opern und Operetten in den Schatten stellt und auf den ich gerne ausführlich eingegangen wäre, wenn unsere Lebenszeit nicht so begrenzt wäre. Offenkundig wurde es von den Beteiligten als zu riskant angesehen, seine Entscheidungen zu kritisieren, solange er noch Minister war. Der Zeitpunkt dieser Nachricht ist übrigens auch dadurch bestimmt, dass kürzlich bekannt wurde, dass die Eröffnung der von Sangiuliano selbst initiierten Futurismus-Ausstellung verschoben wurde. Diese Ausstellung ist bereits jetzt ein Flop. Kein Museum von Rang und Namen will mit ihr kooperieren und Werke ausleihen. Das ist der vierte Punkt.

Es ist ein Irrtum zu glauben, dass jeder eine Ausstellung zusammenschustern kann“, sagt der Kunsthistoriker Fabio Benzi, der Kurator der abgesagten Ausstellung war, “genauso wie es ein Irrtum ist zu glauben, dass jeder Kulturminister werden kann. Es ist auch ein Irrtum zu glauben, dass ein Minister die Kultur eines ganzen Landes lenken und seine Geschichte neu schreiben kann.

Aber Fabio Benzi, ist das nicht ein italienischer Name? Das ist mein fünfter und letzter Punkt in dieser Affaire. Ironischerweise wurde die große futuristische Ausstellung in den Wäldern von Otterlo von einem Italiener konzipiert.

Die Einmischung in die Futurismusausstellung ist nicht das erste Beispiel kultureller Profilierungsversuche der rechtsextremen Regierung Italiens. Am 16. November 2023 fand in der „Galleria Nazionale d’Arte Moderna e Contemporanea“ in Rom in Anwesenheit von Premierministerin Meloni die feierliche Eröffnung einer Ausstellung statt, mit der sie sich einen Herzenswunsch erfüllte. Es mag auf den ersten Blick überraschen, aber diese von ihr unbedingt gewollte Ausstellung war dem Leben und dem Werk von J.R.R. Tolkien gewidmet, und obwohl man geneigt sein könnte, die Fantasiewelt von Mittelerde mit harmlosem Zeitvertreib zu verbinden, war diese Wahl Tolkiens von großer politischer Bedeutung.

Faschisten und andere Konservative erkennen sich in der Art und Weise wieder, wie Tradition und Erinnerung in der Erzählung Der Herr der Ringe eine zentrale Rolle spielen. Die Idylle der wohligen, provinziellen Geborgenheit der Hobbit-Gesellschaft wird von dunklen Mächten bedroht, in die man die Gefahren der Globalisierung, der Moderne, der supranationalen Organisationen und des linken Nivellierertums hineinprojizieren kann. Die italienische neofaschistische Bewegung organisierte von den 1970er bis in die 1990er Jahre „Hobbit-Camps“ für ihre Jugend. Meloni hat gesagt, sie identifiziere sich mit einem Hobbit, nicht zuletzt, weil sie nur 163 Zentimeter groß ist, doch, wie sie sagte „sind es die kleinen Hände, die die Welt verändern“. Am Abend des 25. September 2022, an dem sie die Wahl gewann, postete ihre Schwester Arianna diese Nachricht auf Facebook: „Ich werde dich bei deinem Aufstieg zum Schicksalsberg begleiten, um den Ring ins Feuer zu werfen, so wie Sam Frodos Begleiter war, in dem Wissen, dass es deine Geschichte sein wird und nicht meine, die erzählt wird, und so ist es gut.“

Im Bann des Rings ist ein Gedicht des Hobbits Bilbo Beutlin enthalten, das als „Das Rätsel von Stapper“ bekannt ist. Seine Schlusszeilen sind ein Bezugspunkt für die faschistische Bewegung. Ich zitiere die amphibischen Trimeter im englischen Original:

The old that is strong does not wither,

Deep roots are not reached by the frost.

From the ashes a fire shall be woken,

A light from the shadows shall spring;

Renewed shall be blade that was broken,

The crownless again shall be king.

[Das Alte, das stark ist, verwelkt nicht,

Tiefe Wurzeln werden vom Frost nicht erreicht.

Aus der Asche wird ein Feuer geweckt werden,

Ein Licht aus den Schatten wird entspringen;

Erneuert wird die Klinge, die zerbrochen war,

Der Kronenlose wird wieder König sein.]

Die Zeile über „tiefe Wurzeln“, die „nicht erfrieren“, ist von Meloni mehrfach zitiert worden. „Ich betrachte den Herrn der Ringe nicht als Fantasy“, hat sie gesagt. Sie hält das Buch für einen heiligen Text.

Es ist auffällig, dass rechtsextreme Politiker und Parteien dazu neigen, einerseits alles, was nach Kultur riecht, unverblümt abzulehnen, während sie andererseits, sobald sie die Gelegenheit dazu haben, beginnen, sich intensiv in die Kultur einzumischen. „Wenn ich das Wort Kultur höre“, sagte Joseph Goebbels, „entsichere ich meinen Revolver“. Nichtsdestotrotz organisierte sein Ministerium 1937 zwei große Ausstellungen, um Kunst und Kultur eine Richtung zu geben: eine, die zeigte, wie man es machen sollte, die „Große deutsche Kunstausstellung“, und eine, die zeigte, wie man es nicht machen sollte, die berüchtigte Ausstellung „Entartete Kunst“, die ein Vielfaches der Besucherzahl der Leitkulturausstellung anlockte.

Wie Türme und Blitzableiter ziehen Kunst und Kultur die Verachtung und das Ressentiment der Rechtspopulisten auf sich. Sie sind die Spielzeuge der Eliten, die es zu zerschlagen gilt. In den Niederlanden sprechen Geert Wilders und seine Kumpane schon so lange von „linken Hobbys“, wenn es um Kunst und Kultur geht, dass sich der Begriff inzwischen völlig eingebürgert hat. Das rechtsextreme Schoof-Kabinett, das de facto von Wilders geführt wird, ist das erste seit Menschengedenken, das keinen Minister oder Staatssekretär für Kultur hat. Das ist ein Statement, ebenso wie es auch als klare Botschaft an die Eliten zu verstehen ist, dass diese Regierung den Mehrwertsteuersatz für Kunst und Kultur erhöhen will. Gleichzeitig ist Geert Wilders immer der Erste, der für gefährdete Traditionen wie den Zwarte Piet in die Bresche springt, und in lauten Tönen erklärt, dass sie Teil der niederländischen Kultur sind.

Die deutsche rechtsextreme Partei Alternative für Deutschland, die in ihrem Wahlprogramm schreibt, dass sie sich für eine „deutsche Leitkultur“ einsetzen will, versucht, die deutsche Kulturgeschichte neu zu schreiben. In dieser Woche brachte der AfD-Abgeordnete Oliver Kirchner im Landtag von Sachsen-Anhalt einen Antrag gegen die Bauhaus-Architektur ein, weil die Ideale dieser Designschule den lokalen, traditionellen Lebens- und Wohnformen widersprächen und zu einer „Überfremdung“ führen könnten. Die in diesem Antrag enthaltenen Äußerungen waren ein deutliches Echo der Kritik der Nazis am Bauhaus.

Das ist das rechtsextreme Kulturparadoxon. Kunst und Kultur werden von rechtsextremen Politikern verachtet und gleichzeitig als so wichtig erachtet, dass sie unglaublich viel Energie darauf verwenden, sie sich zu eigen zu machen. Ihre Verachtung der Kultur und die ständige Verharmlosung ihrer Bedeutung sind durch ihren Hass auf die Eliten motiviert, aber sie haben auch das ursprünglich sozialistische Konzept des „langen Marsches durch die Institutionen“, wie es Rudi Dutschke formuliert hat, übernommen und führen im Sinne des Sozialisten Antonio Gramsci einen Kampf um die „kulturelle Hegemonie“.

Alles dreht sich um Kultur. In beiden Lagern ist die Kultur alles, was zählt. Bei der zunehmenden Polarisierung zwischen links und rechts, zwischen den Gewinnern und Verlierern der Globalisierung, zwischen den traditionellen politischen Parteien und den Populisten, geht es nicht um Wirtschaft. Der Kampf dreht sich nicht einmal um die Einwanderung, auch wenn alle ständig davon reden. Der Kampf dreht sich nur insofern um die Einwanderung, als sie als Bedrohung der traditionellen Kultur angesehen wird. Der Kampf dreht sich um kulturelle Werte, die sich unter dem Einfluss von Emanzipation, Wokeness, Migration, Demografie und Internationalisierung verändern. Der Kampf, der derzeit innerhalb und außerhalb der Politik ausgetragen wird, ist ein Kulturkampf, und die extreme Rechte ist sich dessen viel stärker bewusst als die Linke.

Dieser Essay von Ilja Leonard Pfeijffer erschien ursprünglich am 2. November 2024 unter dem Titel „De toenemende polarisatie tussen links en rechts gaat niet over de economie. De strijd gaat niet eens over immigratie“ in der belgischen Zeitung „De Morgen“. Übersetzung ins Deutsche: Jürgen Klute

Titelbild: Herr der Ringe, Theater der Kuenste CC BY-NC-ND 2.0 DEED via FlickR

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Ilja Leonard Pfeijffer

Foto: Stephan Vanfleteren

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