Von Marta Cillero Manzano

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Da es an einer Einigung über die Zukunft Europas fehlt – selbst in Bezug auf die Konferenz zu diesem Thema – ist es an der Zeit, eine Europäische Bürgerversammlung ins Auge zu fassen.

Die Covid-19-Pandemie hat die Welt mit Europa als Zentrum erschüttert, hat unser tägliches Leben in einer Weise unterbrochen, wie es seit Jahrzehnten nicht mehr vorgekommen ist. Nach Jahren, die geprägt waren von zügellosem Neoliberalismus, haben wir angesichts dieser Pandemie festgestellt, dass unsere Sicherheit, unser Wohlergehen und unser Wohlstand mehr von leistungsfähigen und gut finanzierten öffentlichen Diensten abhängen als von multinationalen Konzernen. Zugleich wurde uns aber auch klar, dass unsere europäische Demokratie es versäumt hat, Solidarität zu organisieren, und dass sie strukturell wieder Raum für eine Politik geschaffen hat, bei der die Nation an erster Stelle steht.

Wie jede Krise hat auch diese Pandemie immerhin eine Chance zum Wandel geschaffen – denn die Art und Weise, wie Europa darauf reagiert, wird unsere Zukunft bestimmen. Diese Chance gibt es auch für die Bürgerinnen und Bürger Europas, die sie ergreifen und nutzen können, wenn wir tatsächlich eine Demokratie wollen, die sich um alle und nicht nur um einige wenige kümmert.

Am 9. Mai wurde diese Chance von Hunderten von Bürgern auf dem ganzen Kontinent ergriffen. Am diesjährigen Europatag wurde mit dem Start einer zivilgesellschaftlichen Initiative, die eine Vorreiterrolle übernehmen soll, um den Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit zu geben, über ihre Zukunft mitzubestimmen, ein echter erster Schritt zur Öffnung eines transnationalen öffentlichen Raums getan. Diese Initiative ist das Bündnis „Citizens Take Over Europe“ (Bürger*innen übernehmen Europa).

Ein weiteres Top-Down-Treffen?

Sie resultierte aus einem Gefühl der Frustration. Die offizielle Konferenz über die Zukunft Europas, die ebenfalls am 9. Mai in Dubrovnik eröffnet werden sollte, wurde auf ein noch unbekanntes Datum verschoben. Es gibt bisher keine institutionelle Vereinbarung zwischen der Europäischen Kommission, dem Europäischen Parlament und dem Europäischen Rat über den Umfang, die Methodik und die Ziele der Konferenz. In der Tat scheint es, als handele es sich wieder einmal um ein Top-Down-Treffen, ohne jegliche Absicht, die Bürger und die Zivilgesellschaft ernsthaft einzubeziehen.

Viele Bürger und Organisationen in Europa haben während der Finanz-, Migrations- und Gesundheitskrise zahlreiche Petitionen, offene Briefe und Projekte initiiert. Doch dieses Mal war der Anspruch höher. Der Wunsch am 9. Mai war zu zeigen, dass die europäischen Bürger bereit sind, die Vorreiterrolle zu übernehmen. Und nicht nur das: Es ist entscheidend, sich jetzt über Grenzen hinweg zu organisieren, um für das Europa einzutreten, das wir wollen.

Dieses Bündnis hat Organisationen der europäischen Zivilgesellschaft in einer beispiellosen Weise zusammengeführt, um die europäischen Institutionen mit einem eigenen Plan zur Erneuerung der Demokratie herauszufordern. Das Bündnis fordert eine eigene transnationale Versammlung, die in der Lage ist, die Vision und den Ehrgeiz aufzubringen, die die europäischen Staats- und Regierungschefs auf dramatische Weise vermissen lassen.

Die Millionen von europäischen Bürgern und Einwohnern, die von der Pandemie betroffen sind, sehen die direkten Auswirkungen der mangelnden Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Die organisierte Zivilgesellschaft hat die Verantwortung, den politischen Raum zu öffnen, um sich mit den konkreten Anliegen der Menschen in Europa auseinanderzusetzen. Gerade jetzt ist der richtige Zeitpunkt, den geeigneten Zugang zu den Institutionen einzufordern, um sicherzustellen, dass die Menschen immer im Mittelpunkt der Entscheidungsprozesse stehen.

Europäische Bürgerversammlung (Citizen‘ Assembly)

Der konkrete Vorschlag ist die Organisation einer Bürgerkonferenz zur Zukunft Europas in Form einer Europäischen Bürgerversammlung als bürgerschaftliches Instrument, um den demokratischen und sozio-ökologischen Übergang, den wir brauchen, um unser Leben zu verbessern, zu organisieren und gemeinsam zu beraten. Ein solcher Prozess würde die oft ungehörten Stimmen – ob von Pflegekräften, die Tag und Nacht gearbeitet haben, um uns zu retten, oder von jungen Menschen, die für Klimagerechtigkeit demonstrieren – verstärken, die die Institutionen und Regierungen nicht länger ignorieren dürfen. Diese Bürgerinnen und Bürger können eine grundlegende und von unten nach oben gerichtete Energie entwickeln, um unsere Beziehungen zu Europa in einem Moment zu überdenken, in dem die Top-down-Governance die Idee der europäischen Solidarität bedroht und die Gefahr besteht, dass unsere Gesellschaften noch weiter gespalten werden.

In den Krisen der vergangenen Jahrzehnte hat es die europäische Politik versäumt, die Solidarität mit den am stärksten marginalisierten Menschen zu organisieren.Diese Krise bietet stattdessen die Chance, dafür zu sorgen, dass die Bürger und die Beteiligung der Zivilgesellschaft im Mittelpunkt aller neuen Initiativen zur Zukunft Europas stehen.

Allzu oft hören zivilgesellschaftliche Akteure das Argument, dieses Versagen sei auf die mangelnde Kompetenz der europäischen Institutionen in Bereichen wie Migration, Sozialfürsorge oder Gesundheit zurückzuführen. Aber es gibt alternative substantielle Lösungen, die gefördert werden könnten, anstatt den Schwarzen Peter zwischen den nationalen Regierungen hin und her zu schieben – zum Beispiel in Bezug auf Migration, indem Gemeinden, die Flüchtlinge aufnehmen, mit EU-Mitteln unterstützt werden.

Verfahrenstechnisch haben die bisherigen Erfahrungen mit Bürgerversammlungen, von der Irischen „Citizens‘ Assembly“ bis zur „Convention Citoyenne sur le Climat“ in Frankreich – die beide offiziell einberufen wurden, um herausfordernde Themen anzugehen – bewiesen, dass es Alternativen gibt und dass sie im Fall Irlands bereits echte Veränderungen eingeleitet haben. Als Bürger können wir am Ende dieser Krise mit der Kompetenz auftreten, ein neues Modell für unsere Gesellschaften präsentieren zu können. Wir haben gezeigt, dass es möglich ist, unser System einschneidend umzugestalten – warum also nicht diesen Modellwechsel über den gegenwärtigen Ausnahmezustand hinaus fortsetzen?

Der entscheidende erste Schritt besteht darin, weiterhin die Grundlagen zu schaffen und sich auf eine Bürgerversammlung vorzubereiten. Der nächste Termin ist am 1. Juli, bei dem das Ziel darin besteht, den Raum für Diskussionen und Beratungen mit Bürgern des ganzen Kontinents erneut zu öffnen.  Dieser Tag soll einen Ort des Nachdenkens darüber anbieten, wie der Reformprozess in den nächsten Jahren weiter ausgebaut werden kann und wie die wichtigsten Forderungen der Bürgerinnen und Bürger artikuliert werden können, die berücksichtigt werden müssen und die zu einer wirksamen Änderung des EU-Vertrags führen müssen -– dies ist der einzige Weg zu einer europäischen Demokratie, die den Bedürfnissen ihrer Bürgerinnen und Bürger besser gerecht wird. Die Initiative den Institutionen zu überlassen, damit sie auf ihre eigene Art und Weise arbeiten können, ist keine Option mehr.

Übersetzung: Jürgen Klute

Titelbild: ‘Die Zukunft liegt in Europa’ Streetart Stück in Brüssel geschrieben auf einem blauen und gelben Hintergrund mit Vögeln auf einer 30 Meter hohen Hauswand | Foto: Marco Verch CC BY 2.0 via FlickR

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Autorinnen-Info

Marta Cillero Manzano ist verantwortlich für die Kommunikation bei European Alternatives, einer der Organisationen, die hinter dem Bündnis „Citizens Take Over Europe“ stehen. Sie ist zudem Mitglied des Exekutivteams von „Chayn Italia“. @martacille

Dieser Beitrag von Marta Cillero Manzano erschien erstmals am 4. Juni 2020 in englischer Sprache unter dem Titel “A citizens’ conference on the future of Europe” auf Social Europe. Die Übersetzung und die Veröffentlichung der deutschsprachigen Version dieses Beitrags auf Europa.blog erfolgt mit Zustimmung von Social Europe.

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