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Mit einem Wirtschaftsförderungsprogramm für Syrien und den Mittleren Osten könnte die EU sowohl den Wiederaufbau, eine Transformation von der fossilen Wirtschaft zur einer klimaverträglichen Wirtschaft, eine wirtschaftliche und politische Integration als auch eine Demokratisierung anstoßen.
Von Jürgen Klute
Am 23. Dezember 2024 habe ich über die geostrategischen Veränderungen im Mittleren Osten geschrieben, die sich Ende 2024 ergeben haben (Geopolitische Veränderungen nach Assad: Die Türkei, die Kurden und die EU-Politik).
In dieser Kolumne will ich nun genauer nach den gemeinsamen Interessen fragen, die die Europäische Union und den Mittleren Osten verbinden. Daraus ergeben sich meines Erachtens Chancen für eine langfristige politische Stabilisierung und demokratische Entwicklung der Region, von der beide Seiten profitieren. Im Rahmen einer Art Marshall Plans, wie er 1947 für den Wiederaufbau Europas nach dem 2. Weltkrieg entwickelt wurde, könnte die EU die Entwicklung des Mittleren Ostens fördern.
Zunächst einmal ist festzuhalten, dass ohne die kurdischen Selbstverteidigungskräfte in Nordsyrien der IS nicht zerschlagen worden wäre. Davon hat die EU unmittelbar profitiert, da der IS für mehrere blutige Anschläge innerhalb der EU verantwortlich zeichnete.
Zweitens ist festzuhalten, dass es seit rund 10 Jahren eine den Umständen entsprechend gut funktionierende Selbstverwaltung in den kurdischen Gebieten in Nordsyrien/Rojava gibt. Die kurdische Selbstverwaltung hat in dieser Zeit viele Erfahrungen mit der friedlichen und auf demokratischen Regeln basierende Zusammenarbeit mit unterschiedlichen Minderheiten und mit der Integration einer erheblichen Zahl an syrischen Binnenflüchtlingen gesammelt – also mit der politischen und praktischen Organisation kultureller, religiöser, etnischer und sprachlicher Diversität. Die kurdische Selbstverwaltung in Rojava folgt damit grundsätzlich und soweit unter den gegebenen Umständen möglich den Prinzipien eines säkularen Staats, die Rechtsstaatlichkeit, Menschen- und Minderheitenrechte und selbstverständlich auch die Gleichstellung von Frauen und Männern umfasst. Und nicht zuletzt ist die kurdische Selbstverwaltung offen für eine umweltverträgliche Wirtschaftsform. Ein Abspaltung vom gegebenen syrischen Staat verfolgen die nordsyrischen Kurden nicht, wie Salih Muslim kürzlich gegenüber MedyaNews betonte (A Call for stability, The Kurdish perspective on Syria’s future).
Im Grundsatz gibt es also eine hohe Kompatibilität zwischen dem Selbstverständnis der kurdischen Selbstverwaltung in Nordsyrien/Rojava und den grundlegenden Normen der Europäischen Union. Folglich sollte die die EU die Kurden in Nordsyrien einen wichtigen Ansprechpartner begreifen, wenn es um die zukünftige Entwicklung der Region geht.
Vor welchen Herausforderungen stehen Syrien, aber auch andere Gebiete des Mittleren Osten? Nach über zehn Jahren Bürgerkrieg in Syrien stehen der Wiederaufbau des Landes im Vordergrund: technische Infrastruktur, staatliche Verwaltung, das Bildungssystem, das Gesundheitssystem, die Wirtschaft. Die Notwendigkeit des Wiederaufbau der Wirtschaft bietet die Chance, diese mit dem Ausstieg aus der Nutzung fossiler Energieträger zu verbinden, also auf eine nachhaltige und klimaverträgliche Wirtschaft zu setzen.
Mehr als 10 Jahre Bürgerkrieg haben Hunderttausenden Menschen das Leben gekostet und eine noch größere Zahl zu Flüchtlingen innerhalb Syrien oder in andere Länder gemacht und viele Menschen sind körperlich und seelisch traumatisiert worden. Die traumatisierten Überlebenden zu versorgen und wieder in das gesellschaftliche Leben zu integrieren ist eine weitere große Herausforderung.
Um den Wiederaufbau des Landes leisten zu können, sind viele Menschen erforderlich, die die entsprechenden Aufgaben übernehmen können. Einige europäische Medien berichten, dass die neuen Machhaber in Syrien die bewaffneten Gruppen in Syrien demobilisieren und auflösen wollen. Das ist eine zentrale Maßnahme zur Befriedung der syrischen Gesellschaft. Diese Maßnahme ist allerdings auch eine Herausforderung, denn die Auflösung der bewaffneten Gruppen wird nur dann gelingen, wenn deren Mitglieder eine neue berufliche Perspektive geboten bekommen. Der Dienst in den bewaffneten Gruppen ist eben auch eine persönliche Einkommensquelle. Der Bedarf an Arbeitskräften für den Wiederaufbau des Landes bietet den Mitgliedern der bewaffneten Gruppen – sofern sie nicht in die reguläre Armee integriert werden – grundsätzliche eine alternative Berufsperspektive, die allerdings organisiert werden muss. Diese Herausforderung ist durchaus vergleichbar mit dem wirtschaftlichen Strukturwandel, mit dessen Organisation die Europäische Union seit Jahrzehnten konfrontiert ist und für den sie etliche erfolgreiche Förderprogramme entwickelt hat.
Schließlich gilt es, eine neue staatliche Struktur aufzubauen, die aufbaut auf den Prinzipen der Demokratie: Menschenrechte und Minderheitenrechte sowie Gleichstellung von Frauen und Männern, Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit. Wie das konkret organisiert wird, das müssen die Menschen vor Ort in Syrien entscheiden und gestalten.
Die Europäische Union versteht sich als eine Antwort auf die verheerenden Verwüstungen durch den Nazi-Terror in Europa. Sie verfügt also über ein enormes theoretisches Wissen und Erfahrungswissen im Aufbau von durch Krieg zerstörte Gesellschaften. Das wichtigste ist, dass Menschen wieder Vertrauen in staatliche Institutionen entwickeln können und dass die Wirtschaft wieder für die Waren und Dienstleistungen sorgen kann, die Menschen zu einem Leben in Würde brauchen. Aufbauend auf dem Manifest von Ventotene aus dem Jahre 1941 (siehe auch hier) und dem Schuman-Plan von 1950 ist es gelungen, Schritt für Schritt eine wirtschaftliche und politische Integration der europäischen Länder auf den Weg zu bringen, die bis heute für Stabilität, Wohlstand und Frieden sorgt.
Natürlich kann es nicht darum gehen, die Europäische Union eins zu eins auf Syrien oder gar auf den Mittleren Osten zu übertragen. Aber die Prinzipien, nach denen die EU entwickelt wurde, können eine Orientierung geben, insbesondere, wenn man in Rechnung stellt, dass nicht allein Syrien wieder aufgebaut werden muss. Nach dem Terrorakt der Hamas vom 7. Oktober 2023 wurde Gaza weitgehend durch die israelische Armee verwüstet und die Zerschlagung der Hisbollah hat auch Spuren der Zerstörung im Libanon hinterlassen. Eine nachhaltige Politik zur Stabilisierung des Mittleren Osten muss folglich über die Grenzen Syriens hinausblicken. Deshalb kann die EU als das bisher erfolgreichste überstaatliches Projekt einer schrittweisen wirtschaftlichen und politischen Integration, dass sehr unterschiedliche kulturelle, wirtschaftliche, rechtliche, sprachliche, religiöse und ethnische Gruppen und Traditionen umfasst, Orientierungen geben. Dabei geht es nicht um eine Blaupause und nicht um Bevormundung – das sei hier noch einmal ausdrücklich festgehalten. Es geht um Orientierungen und Erfahrungsaustausch auf Augenhöhe im Sinne einer eigenständigen Entwicklung der Region vor dem Hintergrund der eigenen regionalen Geschichte und Bedingungen!
Natürlich erfordert ein Wiederaufbau Syriens bzw. der gesamten Region finanzielle Ressourcen. Grundsätzlich verfügen die Europäische Union und die Länder im Mittleren Osten über erhebliche finanzielle Ressourcen. Grundsätzlich lässt sich auch in diesem Punkt einiges aus den Erfahrungen mit dem Wiederaufbau des kriegszerstörten Europas lernen. Grundlage des Wiederaufbaus Europas nach 1945 war das European Recovery Program (ERP) – bekannt als Marshall-Plan, benannt nach dem seinerzeitigen US-Außenminister George C. Marshall, der den Plan 1947 auf den Weg brachte. Das Entscheidende an diesem Wirtschaftsförderprogramm war, dass es allen europäischen Staaten angeboten wurde – einschließlich Deutschlands als dem Verantwortlichem für den 2. Weltkrieg. Voraussetzung für die Teilnahme an diesem Wiederaufbauprogramm war, dass die teilnehmenden europäischen Staaten sich untereinander verständigen und selbst bereit waren, einen Betrag zu leisten.
In diesem Sinne wäre es eine Chance für die Europäsche Union ein Wirtschaftsförderprogramm für Syrien und den Mittleren Osten aufzulegen. Über die nötigen Instrumente verfügt die EU: Die Europäische Investitionsbank (EIB) und vor allem die European Bank for Reconstruction and Development (EBRD), die 1991 gegründet wurde, um Länder auerhalb der EU in Mittel- und Osteuropa beim Wiederaufbau nach dem Zusammenbruch des Warschauer Paktes zu unterstützen.
Ein entsprechendes gut ausgestattetes von der EU zur Verfügung gestelltes Wirtschaftsförderungsprogramm für den Mittleren Osten in Anlehnung an den historischen Marshall-Plan wäre einerseits ein finanzieller Anreiz für Staaten und Regierungen der Region, sich daran zu beteiligen. Zum anderen ließen sich im Sinne des historischen Marshall-Plans mit der Teilnahme Selbstverpflichtungen verknüpfen: ganz im Sinne des historischen Plans einerseits die Bereitschaft zur gegenseitigen Verständigung und zu Eigenleistungen und zum anderen die Einhaltung demokratischer Prinzipien wie oben skizziert, der Einstieg in eine regionale wirtschaftliche und politische Integration und der Einstieg in den Ausstieg aus der fossilen Energienutzung. Denn der Erfolg der EU basiert auf der Verknüpfung von wirtschaftlicher und politischer Integration von Anfang an, beginnend mit dem Vertrag zur Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) von 1951, der dann 1957 mit den Römischen Verträgen in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) überging und 1993 mit dem Vertrag von Maastricht in die Europäische Union (EU).
Den Menschen und den Gesellschaften des Mittleren Osten böte ein solches Projekt nach rund einem Jahrhundert der Instabilität infolge des Zerfalls des Osmanischen Reiches eine Aussicht auf Frieden, Demokratie und Wohlstand. Längerfristig liegt das auch im Interesse Israels und der Türkei, die derzeit die regionalen Gewinner der politischen Machtverschiebung im mittleren Osten sind. Israel kann den Krieg gegen Palästina nicht unendlich fortführen. Und die Türkei hat mit erheblichen wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen, die durch den Krieg gegen die Kurden nur noch vergrößert werden. Angesichts der innenpolitischen Spannungen im Iran ist auch dort in absehbarer Zeit mit Veränderungen zu rechnen. Dann könnte ein solches Wirtschaftsförderungsprogramm auch eine Option für den Iran darstellen.
Die Europäische Union würde von einem geregelten und sozial abgesicherten Ausstieg aus der fossilen Energienutzung profitieren. Denn der enthielte die Entwicklung zukunftsfähiger und klimaverträglicher wirtschaftlicher Alternativen für die Region, die bis heute wirtschaftlich weitgehend vom Export fossiler Energie abhängt. Die Region ist sonnenreich und damit bietet sich die Produktion und der Export von solarbasierter Energie an: Strom und auch Wasserstoff, der zumindest in Teilen der Industrie und im Schiffs-, Luft- und Seeverkehr vorerst unverzichtbar ist. Die Transportwege vom Mittleren Osten nach Europa sind kürzer als in andere sonnenreiche Regionen der Welt.
Schließlich und endlich: Das zuvor skizzierte Projekt ist anknüpfungsfähig an die von Abdullah Öcalan 2013 veröffentlichte „Road Map für Verhandlungen“ zur Überwindung des kurdisch-türkischen Konflikts. Denn Öcalans Überlegungen fokussieren sich nicht allein auf die Türkei und die vier Staaten, auf die sich die kurdischen Siedlungsgebiete heute verteilen (Irak, Iran, Syrien, Türkei), sondern letztlich auf den gesamten Mittleren Osten. Seine Road Map von 2013 weitet tatsächlich den Blick aus auf eine denkbare wirtschaftliche und politische Kooperation und Integration der Staaten des Mittleren Ostens, die sich bis zu einem gewissen Grad an das Modell der Europäischen Union anlehnt, allerdings viel stärker als die EU aus einer basisdemokratischen Perspektive gedacht wird.
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Titelbild: by Michael-Ann Cerniglia CC BY-NC-ND 2.0 DEED via FlickR
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