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Von Ögmundur Jónasson und Jürgen Klute

In der letzten Januarwoche 2024 nahmen wir auf Einladung des Kurdischen Nationalkongresses (KNK) mit Sitz in Brüssel an einer kleinen Delegation nach Nordirak und Südkurdistan – Basur auf Kurdisch – teil. Begleitet wurden wir von Zainab Murad Sahrab, der Ko-Vorsitzenden des KNK, die in Schweden lebt. Der KNK ist eine 1985 gegründete multinationale Plattform, der fast alle kurdischen Organisationen und Parteien angehören. Sie setzt sich für die politischen und kulturellen Rechte der Kurden ein.

Ziel unserer kleinen Delegation war es, mit Vertretern der kurdischen Parteien in Südkurdistan über ihre Einschätzung und Haltung zur Wiederbelebung des von der türkischen Regierung 2015 beendeten Friedensprozesses und die Rolle von Abdullah Öcalan in einem solchen Prozess zu sprechen. Öcalan wird seit 1999 von der Türkei auf der Gefängnisinsel İmralı im Marmarameer in Isolationshaft gehalten. Unter Verstoß gegen das Völkerrecht und die Menschenrechtskonventionen wird ihm jeglicher Kontakt zu Anwälten und Familienangehörigen verwehrt.

Die Gespräche waren für uns aufschlussreich. Einerseits sind alle kurdischen Parteien für eine Wiederbelebung des Friedensprozesses. Auf der anderen Seite wird aber auch deutlich, dass es Unterschiede gibt. Zwar betonen alle die Bedeutung von Abdullah Öcalan, aber einige Gesprächspartner wiesen auch darauf hin, dass nicht nur Öcalan inhaftiert ist, sondern ebenso mehrere tausend Journalisten und kurdische Politiker. Einige Befragte vermissten auch eine größere Einigkeit unter den kurdischen Parteien. Während es zu Zeiten Saddam Husseins nur eine Einheitspartei im Irak gab, gibt es heute im kurdisch kontrollierten Nordirak eine bunte Parteienlandschaft, die Ausdruck der demokratischen Entwicklung in dieser Region ist. Diese Entwicklung macht aber gleichzeitig deutlich, dass Demokratie bedeutet, unterschiedliche Interessen innerhalb einer Gesellschaft anzuerkennen, über die dann ein Kompromiss ausgehandelt werden muss.

Ein weiterer Punkt ist die Rolle der Frauen. Unter unseren Gesprächspartnern waren fast keine Frauen vertreten. Die kurdische Selbstverwaltung in Nordsyrien und die politischen Organisationen der Kurden in der Türkei unterscheiden sich in dieser Hinsicht deutlich von den kurdischen Parteien in Südkurdistan.

Schließlich betonten Vertreter der Regierungsparteien, dass sie im Interesse der wirtschaftlichen Stabilität keinen scharfen Konfrontationskurs gegen die Türkei und den Iran fahren könnten, obwohl beide Staaten sowohl im Nordirak als auch in Nordsyrien (insbesondere die Türkei) immer wieder völkerrechtswidrig kurdische Gebiete angreifen. Die internationale Gemeinschaft hat die militärische Aggression der Türkei weitgehend ignoriert, als das türkische Militär des Einsatzes chemischer Waffen beschuldigt wurde. Die OPCW (Organisation für das Verbot chemischer Waffen) hat bisher nicht auf die Aufforderung reagiert, diese Vorwürfe zu untersuchen.

Nach wie vor gibt es unterschiedliche Vorstellungen über die Zukunft Kurdistans: Soll es ein unabhängiges und politisch autonomes Kurdistan oder autonome Regionen innerhalb der derzeitigen Staatsgrenzen möglich geben. Es gibt beide Optionen, wobei die Mehrheit der Kurden in Nordkurdistan (Türkei) und in Rojava (Nordsyrien) eine föderale Struktur mit kurdischen Autonomieregionen innerhalb der derzeitigen Staatsgrenzen befürwortet.

Ein Friedensprozess hängt jedoch nicht allein von den Kurden ab. Sie sind eindeutig bestrebt, einen internen politischen Ausgleich zu erreichen. Ein Friedensprozess hängt allerdings ebenso von den Interessen der beiden konkurrierenden Regionalmächte Türkei und Iran ab. Beide Staaten haben eindeutig kein Interesse an einer demokratischen und wirtschaftlich und politisch stabilen selbstverwalteten kurdischen Region.

Die aktuellen iranischen Drohnen- und Raketenangriffe im Nordirak werden teils als Versuch interpretiert, die dortige kurdische Wirtschaft zu zerstören, teils als Botschaft an die USA und Israel im Zusammenhang mit Israels Krieg gegen die Hamas, da der Iran behauptet, die Opfer der Angriffe seien Mitglieder des israelischen Geheimdienstes Mossad.

Noch komplizierter wird die Situation dadurch, dass die Türkei als Nato-Mitglied im Ukraine-Krieg eine ambivalente Rolle spielt und der türkische Präsident Erdoğan immer wieder die Nähe zum russischen Präsidenten Putin sucht.

Die Wiederbelebung eines Friedensprozesses in einer solch komplexen Situation ist nicht einfach. Ein einfacher Aufruf zu Verhandlungen und politischen Lösungen greift angesichts dieser komplexen Situation zu kurz. Mit Blick auf die Beendigung des Nordirlandkonflikts wird von kurdischer Seite gefordert, dass eine dritte Partei – die EU oder die UNO – einen Friedensprozess begleitet und moderiert. Diese Forderung stützt sich auch auf die Erfahrung, dass beispielsweise die irakische Zentralregierung in Bagdad immer dann Friedensabkommen angeboten hat, wenn sie politisch und militärisch geschwächt war, so unsere Gesprächspartner. Sobald sie sich erholt hatte, begann sie wieder mit Angriffen auf die Kurden. Aus kurdischer Sicht sind Friedensabkommen – so wünschenswert sie auch sein mögen – keineswegs unbedingt friedensstiftend, sondern können den Konflikt auch verlängern, wenn Konfliktpausen dazu genutzt werden, sich auf einen neuen Angriff vorzubereiten.

Wie kann diese Komplexität beherrschbar gemacht werden?

Es wird nicht einfach sein, in dieser komplexen und schwer durchschaubaren Situation, die durch die Verflechtung mehrerer Konflikte gekennzeichnet ist, einen Ansatz für die Wiederbelebung eines Friedensprozesses zu finden.

Ein denkbarer Einstieg in einen Friedensprozess könnte die Streichung der PKK und Öcalans von der EU-Terrorliste (und auch von der US-Terrorliste) sein. Dies wäre aus unserer Sicht zweifellos ein realistischer Weg. Wir drängen darauf, dass Schritte in Richtung einer Neubewertung der PKK und des kurdischen Kampfes für politische und kulturelle Selbstbestimmung unternommen werden.

Im September 2017 entschied das belgische Berufungsgericht (Cour d’appel) in Brüssel, dass es sich bei der PKK nicht um eine terroristische Organisation handelt, sondern um eine Partei in einem internen bewaffneten Konflikt, d.h. einem Bürgerkrieg. In 2020 wurde diese Entscheidung bestätig. Das deutschsprachige öffentlich-rechtliche belgische Nachrichtenportal Flanderninfo schrieb seinerzeit über das Urteil: “Dieses Urteil ist das erste Urteil seiner Art in der Europäischen Union, dass den türkisch-kurdischen Konflikt als Bürgerkrieg qualifiziert und nicht als terroristische Angelegenheit. Nach Ansicht der belgischen Justiz müsse hier das internationale Kriegsrecht angewendet werden, da es sich bei diesem Bürgerkrieg um einen bewaffneten Konflikt handelt. Der Anwalt der PKK-Angeklagten in Brüssel zeigte sich im Namen seiner Klienten zufrieden darüber, dass die belgische Justiz diesen Konflikt als einen Bürgerkrieg ansieht.”

Der Türkei-Bericht 2023 der Europäischen Kommission enthält an mehreren Stellen sehr klare Aussagen zur Menschenrechtslage in der Türkei und zum türkischen Strafvollzug. Der Bericht betont, dass die PKK nach wie vor auf der EU-Terrorliste steht und erkennt das Recht der Türkei an, sich vor Terror zu schützen. Gleichzeitig fordert der Bericht die Türkei auf, sich an internationale Standards und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu halten. Der Türkei-Bericht 2023 weist auch darauf hin, dass die Türkei den mehrfachen Aufforderungen des Europarats und seines Komitees zur Verhütung von Folter, die Einhaltung der Menschenrechte zu gewährleisten, noch nicht nachgekommen ist. Die EU-Kommission bestätigt damit die von Kurden und anderen Oppositionellen in der Türkei häufig erhobenen Vorwürfe gegen den türkischen Staat, die türkischen Sicherheitskräfte und die türkische Justiz, die Menschenrechte zu missachten.

Während der Bericht der EU-Kommission zur Türkei in seiner Einschätzung der Menschenrechtslage noch diplomatisch formuliert ist, wird der im Februar 2024 veröffentlichte Bericht “Global Terrorism Threat Assessment 2024” des Center for Strategic and International Studies (CSIS) in Washington deutlicher.

Die Autoren des Berichts neigen dazu, die Türkei für die Instabilität in der Region verantwortlich zu machen. Auf Seite 80 heißt es: “Die türkische Regierung hat ihre Kampagne gegen kurdische Gruppen über ihre Grenzen hinaus ausgeweitet. Die Zahl der Angriffe in der Türkei ist seit 2020 zurückgegangen, aber die Gewalt zwischen den türkischen Streitkräften und kurdischen bewaffneten Gruppen außerhalb der Türkei hat im gleichen Zeitraum dramatisch zugenommen.[40] Der Konflikt zwischen der Türkei und der PKK ist weiterhin ein Motor für die regionale Instabilität und indirekt auch für den Terrorismus im Nahen Osten. Die Türkei hat ihre Rhetorik gegen kurdische nationalistische Gruppen, einschließlich der Volksverteidigungseinheiten, die einen beträchtlichen Teil der von den USA unterstützten *Syrian Defence Forces (SDF) ausmachen, verschärft. [Anm. d. Red.: *Syrian Democratic Forces]”

Außerdem schreiben die Autoren: “Terroristische Anschläge stellen innerhalb der Türkei eine geringere Bedrohung dar, obwohl der türkisch-kurdische Konflikt nach wie vor eine der Hauptursachen für Gewalt und Instabilität in der gesamten Region ist. […] Dieser Rückgang der terroristischen Gewalt innerhalb der Türkei ging einher mit einer erheblichen Zunahme des Konflikts zwischen der Türkei und der PKK im Irak. […] Die PKK stellt keine direkte Bedrohung für andere westliche Länder als die Türkei dar. […] Die Bedrohung der territorialen Integrität der Türkei durch die PKK ist ebenfalls fraglich. Die Gruppe ist nicht in der Lage, das türkische Militär direkt herauszufordern, wie bei den Interventionen der Türkei in Nordsyrien und im Nordwesten des Irak wiederholt deutlich wurde. Die PKK akzeptiert offiziell die derzeitigen Grenzen der Türkei und hat ihre Forderungen nach Unabhängigkeit durch Forderungen nach mehr Selbstbestimmung ersetzt. Die PKK vertritt gegenwärtig eine Ideologie, die Öcalan als “demokratischen Konföderalismus” bezeichnet und mit der versucht wird, Selbstbestimmung zu erreichen, ohne die bestehenden politischen Grenzen in Frage zu stellen. Die öffentlichen Erklärungen der PKK lassen zumindest darauf schließen, dass die Gruppe keine nennenswerte Bedrohung für die territoriale Integrität der Türkei darstellt.”

Die Autoren dieses CSIS-Berichts bestätigen mit ihrer Analyse letztlich, was das belgische Berufungsgericht 2017 über die PKK festgestellt hat: Sie ist keine terroristische Gruppe. In der Tat bedroht die PKK weder die USA noch die Europäische Union. Sie bedroht auch nicht die territoriale Integrität der Türkei. Nimmt man all diese Einschätzungen ernst, dann gibt es keinen Grund mehr, die PKK nicht von der US-Terrorliste und der EU-Terrorliste zu streichen, zumal die PKK im Kampf gegen den “Islamischen Staat” an der Seite des Westens eine zentrale Rolle gespielt hat. Eine Streichung würde die Tür für die Wiederbelebung eines dringend notwendigen Friedensprozesses in der Türkei und letztlich im gesamten Nahen Osten öffnen, weil die destabilisierende Wirkung dieses Konflikts ein Ende fände.

Trotz der sich in den genannten Texten abzeichnenden Neubewertung der PKK wird die PKK nicht einfach und kurzfristig von den beiden Terrorlisten gestrichen werden.

Aufgrund ihrer engen Zusammenarbeit mit der türkischen Regierung wird die deutsche Regierung einer Streichung von der EU-Terrorliste vorerst wohl kaum zustimmen – es sei denn, die US-Regierung würde entsprechenden Druck auf Berlin ausüben. Die Streichung von der EU-Terrorliste erfordert Einstimmigkeit im EU-Rat. Es ist daher von zentraler Bedeutung, die Bundesregierung von der Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit einer Streichung der PKK von der EU-Terrorliste im Interesse der Stabilisierung der Region angesichts der aktuellen politischen Herausforderungen zu überzeugen.

Aufgrund des Krieges in der Ukraine ist ein kurzfristiger Erfolg in dieser Frage nicht zu erwarten. Die türkische Regierung wird sich mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln gegen eine Streichung von der Terrorliste wehren. Solange der Krieg in der Ukraine andauert, verfügt die türkische Regierung auch über ein wirksames Druckmittel gegenüber der EU, wie oben dargelegt. Ein weiteres Druckmittel in den Händen der türkischen Regierung ist der sogenannte Flüchtlingsdeal zwischen der EU und der Türkei.

Um den Friedensprozess mittelfristig wieder zu beleben, müssen die notwendigen Vorbereitungen jedoch schon heute getroffen werden. Die Streichung der PKK von den oben genannten Terrorlisten wäre ein klares politisches Signal an die türkische Regierung, sich für eine Wiederbelebung des Friedensprozesses einzusetzen. Ohne ein solches Signal ist es unwahrscheinlich, dass sie dies tut. In diesem Sinne und mit diesem Ziel vor Augen sollten politische Initiativen entwickelt und verfolgt werden. Einen dauerhaften Frieden wird es nur geben, wenn sich beide Konfliktparteien gemeinsam für den Frieden einsetzen.

Ögmundur Jónasson | Foto: privat

Ögmundur Jónasson ist ein isländischer Politiker und ehemaliger Innen-, Justiz- und Gesundheitsminister für die links-grüne Partei. Er ist Unterzeichner der internationalen Initiative “Freiheit für Abdullah Öcalan – Frieden in Kurdistan” und leitete 2019 eine internationale Friedensdelegation zur türkischen Gefängnisinsel İmralı, wo Öcalan inhaftiert ist.

Titelbild:  Jürgen Klute

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