Beitrag von Vesna Caminades
Liebe Leserinnen, liebe Leser!
Ich habe kürzlich über die Initiative „Du bist hier der Chef“ geschrieben. Dabei uns Verbrauchern die Macht zurückgegeben, selbst über den Preis von landwirtschaftlichen Produkten zu entscheiden: Milch, Eier, Mehl zum Beispiel. Die Befugnis aber auch die Verantwortung. Der Gründer in Deutschland dieser bemerkenswerten Aktion heißt Nicolas Barthelmé. Ich hatte das Glück, mit ihm etwas mehr im Detail über dieses Konzept zu reden. Dabei hat er mich auf einige zusätzliche Aspekte aufmerksam gemacht, die mir zu Beginn gar nicht so bewusst geworden waren. Das würde ich gerne wieder mit Ihnen teilen.
Nicolas hat mir insbesondere erklärt, dass es hier nicht allein um ein innovatives Marketingkonzept geht. Nein, es steckt viel mehr dahinter. Es geht um das Überleben von ganzen Familien. Als die Initiative in Frankreich entstand – Oktober 2016 – waren die Bauern der Verzweiflung nahe. Landwirte begannen Flyer zu drucken, um ihre Produkte zu bewerben. Ein solcher Flyer gelangte durch Zufall nach Paris zu Carrefour. Damals gab es außerdem bereits erste Gespräche zur Schaffung dieser innovativen und revolutionären Aktion „C’est qui le patron“. Carrefour glaubte daran und beschloss, diese Initiative tatkräftig zu unterstützen. Das bedeutet, Carrefour verpflichtete sich, die gesamte Milch, welche von diesen teilnehmenden Bauern produziert wurde, zu erwerben. Damit war das Signal eindeutig: die Landwirte, die hinter unseren Produkten stehen, brauchen Unterstützung, um zu überleben. Die Marktkette ging jedoch noch einen Schritt weiter. Zu Beginn waren diese Pionier-Landwirte ohne Molkerei. Also traf Carrefour Vereinbarungen in diesem Sinne und im Zuge einer „Extra-Tour zum Milchsammeln“, holte man auch diese „besondere Milch“. Langsam, aber sicher hat sich dieses System zu einem großen Erfolg entwickelt und heutzutage sind ca. sechs Mal so viele Produzenten dabei wie zu Beginn: von 60 wurden es 350!
Die Kritik, die ich in meinem ersten Beitrag genannt habe, betraf vor allem die Entstehung des Preises und die Debatte rund um „Bio“; ich muss hinzufügen, dass sie sich auf die Entstehungsphase dieser Aktion bezog. Einiges mehr dazu …
Wir stehen hier einem sehr transparenten und eigentlich einfachen System gegenüber. Grundlegend ist die Tatsache, dass dem Konsumenten – wie eingehend angedeutet – Verantwortung und sogar Macht „zurück“gegeben werden. Ja genau: Macht. Wir als Verbraucherinnen und Verbraucher können entscheiden, wieviel uns bestimmte Kriterien wert sind: freier Auslauf für Hühner, ob die erst geschlüpften männlichen Küken umgebracht werden sollen, ob und wie lange die Kuh auf die Weide darf, ob sie auch im Stall frisches Gras bekommen soll. Unter anderem entscheiden wir aber auch, ob der Landwirt durch den Preis, den wir bezahlen, leben, überleben oder in seinen Betrieb investieren darf.
Damit wir uns als Konsumenten unserer Verantwortung wirklich bewusst sind, wird die notwendige Information rund um das Produkt leicht zugänglich gemacht. Das Prinzip beruht darauf, dass ein Fragebogen ausgehend von einem Basispreis, der dem gängigen Markt entspricht, ausgefüllt wird. Es werden verschiedene Fragen gestellt. Jedes Mal können wir entscheiden, ob wir die billigste Variante wählen oder aber, ob wir bereit sind, ein paar Cents mehr zu zahlen, um eine nachhaltigere Variante zu erwerben. Genau, schließlich geht es um Nachhaltigkeit. Es geht nicht nur darum, dass eine Kuh ein paar Wochen länger auf der Alm grasen kann. Oder dass der Landwirt einmal in den Urlaub fahren darf. Dahinter steckt viel mehr. Das ist mir im Gespräch mit Nicolas noch viel stärker bewusst geworden. Eine Kuh, die grast, das bedeutet Beeinflussung der CO2 Emissionen, das bedeutet, Bewirtschaftung der Weiden, das bedeutet auch Landschaftspflege, Tourismus, Beschäftigung, etc. Das bedeutet auch Bevorzugung kurzer Kreisläufe, indem man Produkten aus der eigenen Region Vorrang gibt. Ein Landwirt, der schließlich investieren darf, bedeutet besseres Futter, bessere Bedingungen für das Tier; das bedeutet aber auch, dass dieser Mensch eine Zukunft in seiner Arbeit sieht und sie daher gerne verrichtet. Ein Bauer, der auf jeden Cent schauen muss, der nicht einmal für die entstandenen Kosten kompensiert wird – wie soll er noch die Möglichkeit haben, sich um Tierwohl zu kümmern?
Dann war da noch die Polemik rund um die Echtheit von Bio – ja, das ist so ein Ding. Glauben oder nicht glauben. In diesem spezifischen Fall sind aber auch Maßnahmen vorgesehen, damit man als Verbraucher direkt auf den Hof gehen kann, um zu überprüfen, ob alles so läuft, wie es versprochen wurde. In Frankreich wurde beispielsweise eine Vereinigung geschaffen, der man beitreten kann. Das kostet gerade Mal 1 Euro. Dadurch darf man mit zu den Produzenten gehen, bei Versammlungen anwesend sein, etc. Was mich aber besonders beeindruckt ist, dass „Du bist der Chef“ viel striktere Regeln für Bio auferlegt, als die geltenden EU-Bestimmungen. Ein Beispiel? Freier Auslauf für Kühe ist bei „Du bist hier der Chef“ gleichbedeutend mit „Weide“; der Mindeststandard laut EU-Bestimmungen ist „freier Auslauf“ das kann eigentlich auch nur ein Hof mit Betonboden an der frischen Luft sein; oder aber: frisches Gras auch während der Stallhaltung und kein Futter aus Übersee (die EU gewährt bei Fütterung wie auch bei anderen Aspekten einiges an Flexibilität).
Grundlegend für diese Initiative ist das Vertrauen – das ist wenigstens mein Eindruck. Vertrauen, dass der Mehrpreis auch einem tatsächlichen Mehrwert und einer ehrlichen Mehr-Dienstleistung entspricht. Aber, andrerseits, Vertrauen, dass wir Verbraucherinnen und Verbraucher, die wir den Fragebogen ausgefüllt haben, schließlich das Produkt zum gewählten Preis auch kaufen. Vertrauen und Transparenz. Wie mir Nicolas erklärt hat, die Auswertungen der Fragebögen, die Preisbildung, alles ist abrufbar. Werbung wird keine betrieben, alles beruht auf Mund-zu-Mund-Propaganda, Social Media, etc. Transparenz kann allerdings ein zweischneidiges Messer sein. Sie ist nützlich, denn man kann genau nachvollziehen, wieviel schließlich in die Taschen der Landwirte landet. Andrerseits wird aber dieser gewählte Preis auf die Packung gedruckt: da bleibt dem Handel nicht mehr viel Spielraum. Es sind somit drei Optionen offen:
a) der Handel verlangt genau den angegebenen Preis
b) der Handel verlangt weniger, damit das Produkt auf jeden Fall gekauft wird; die Differenz geht aber auf Kosten der Gewinnspanne des Handels nicht der Bauern
c) der Handel verkauft die Milch um einen teureren Preis
Kleine Anmerkung meinerseits: da dieses System nicht mit den klassischen Instrumenten, wie z.B. Handelsvertretern arbeitet, kann es sein, dass die Packungen ganz unten im Regal landen. Andere Marken können es sich eher leisten, jemanden zu bezahlen, der genau im Bilde ist, wo welches Produkt wie ausgestellt wird. Zum Glück aber ist der Karton leuchtend blau, somit findet man ihn leichter.
Warum ist so ein System wichtig? Nicolas erklärte mir, dass heutzutage der größte Gewinn bei Verarbeitung und Vermarktung eines landwirtschaftlichen Produktes entsteht, nicht so sehr bei der Herstellung. Daher ist es wichtig, dass wir uns als Konsumenten dessen bewusst sind und unsere Kaufkraft wieder walten lassen. Besonders gut finde ich auch, dass Familien aufgefordert werden, diesen Fragebogen gemeinsam mit den Kindern auszufüllen. Dadurch lernen diese, woher die Produkte kommen und vor allem, dass das, was sie essen und trinken, einen Wert hat. Übrigens: das gilt auch für uns Erwachsene, es wäre gut, wenn wir etwas öfter darüber nachdenken würden, wieviel etwas wert ist – bevor wir es wegwerfen oder sonst wie verschwenden. Damit möchte ich sagen „wie viel etwas wert ist, nicht nur, wie viel etwas kostet“. Denn der Wert beinhaltet auch all die Arbeit, die investiert wurde, aber auch das Leiden des Tieres, welches schließlich (bio oder konventionell) doch sterben muss. Nachhaltigkeit soll daher kein schönes Wort auf dem Papier bleiben, sie kann und muss gelebt werden.
Apropos – in Frankreich investiert „C’est qui le patron“ die Überschüsse in einen Fond für Menschen, die von Covid betroffen sind. Warum ist das möglich? Wir reden hier von Grundnahrungsmitteln, die selbst in Krisenzeiten immer gekauft werden, daher sind die Umsätze ausreichend, dass auch Gewinne entstehen.
Erlauben Sie mir bitte eine kurze Überlegung am Ende: wir reden hier über Cents – minimale Geldbeträge, die das Leben von Mensch und Tier beeinflussen können. Tatsächlich machen 40% von den konventionellen 40 Cents pro Liter Milch einen Unterschied zu den 40% des 1,05 Euro, der jedoch die Zukunft verspricht.
Ich glaube, dieses System kann uns so einiges beibringen. Wir haben endlich die Wahl, wir können etwas beeinflussen. Das bedeutet aber auch, Verantwortung übernehmen. Es braucht nämlich Mut dazu, nicht nur blindlings, gestresst und automatisch eine Packung Milch aus dem Regal zu holen. Sind wir bereit, diesen Schritt zu wagen? Bitte reden Sie auch mit Bekannten und Freunden darüber – Danke IAMA
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Titelbild / Foto: privat
Wer Fragen oder Anregungen zu diesem Thema an Vesna Caminades hat, kann sich unter dieser E-Mail-Adresse an sie wenden: iama4iwannaknow |et| gmail.com oder Mobile Phone +32488617321.
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