Was können wir heute von Homer, Machiavelli und dem Herzog von Sachsen lernen? Ilja Leonard Pfeijffer untersucht, wie alte Denkweisen über Macht und Entscheidungsfindung in einer Zeit der Desinformation und politischen Umbrüche zurückkehren.

Essay von Ilja Leonard Pfeijffer | 02. Juni 2025

Homerische Helden handeln sofort. Sie reagieren schnell, antworten sofort, treffen umgehend Entscheidungen, stürmen unverzüglich auf den Feind zu und selbst wenn sie an Bord ihrer Schiffe gehen, tun sie dies schnell. Als Hektor im 22. Buch der Ilias von Achilles um die Mauern Trojas verfolgt wird, „wie in einem Traum, in dem der eine den anderen nicht einholen kann und dem anderen ebenso wenig entkommen kann“, wird Hektor von Zweifeln geplagt.

Er beginnt nachzudenken. „Was, wenn ich versuche, mit Achilles zu verhandeln?“ Aber er verwirft diese Möglichkeit. „Ich kann doch nicht wie ein Junge mit einem Mädchen mit Achilles über Gott und die Welt plaudern. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als zu kämpfen.“ Dieser seltene Moment der Reflexion besiegelt sein Schicksal. Unmittelbar vor dieser Szene wird Hektor mit einer giftigen Schlange verglichen, die auf die Ankunft ihres Angreifers wartet, und unmittelbar nach dem „monologue intérieur“ ist er wie eine Taube, die vor einem Adler flieht. Einige Verse später wird er von Achilles getötet.

In seinen „Unterhaltungen mit dem Kanzler Friedrich von Müller“ erzählt Johann Wolfgang von Goethe die Anekdote, dass der Herzog der Sachsen einmal von seinen Ratgebern gedrängt wurde, gut nachzudenken, alle Optionen sorgfältig abzuwägen und sich ausreichend Bedenkzeit zu nehmen, bevor er eine bestimmte wichtige Entscheidung trifft. „Ich will nicht nachdenken, überlegen oder reflektieren“, antwortete er. „Denn ich bin nicht umsonst Herzog der Sachsen.“

Giuliano da Empoli war Berater von Matteo Renzi, als dieser italienischer Ministerpräsident war, und ist derzeit Seniorberater des französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Er pflegt die lobenswerte Gewohnheit, seine Erfahrungen in den höchsten Kreisen der internationalen Politik in Buchform einem breiten Publikum zugänglich zu machen. In seinem kürzlich erschienenen Essay L’heure des prédateurs (Giuliano da Empoli: Die Stunde der Raubtiere. Macht und Gewalt der neuen Fürsten. C.h. Beck – laut Verlagsankündigung erscheint die deutschsprachige Übersetzung am 18.09.2025) vertritt er die These, dass die Nachkriegsordnung, die auf Gesetzen, Verträgen und internationalen Vereinbarungen beruhte, nicht mehr existiert und einem Dschungel gewichen ist, in dem Chaos herrscht und nur das Recht des Stärkeren gilt.

Die Politiker, die aus den Trümmern des Zweiten Weltkriegs heraus die Führung bei der Wiederherstellung der Ordnung übernahmen, glaubten an die Vorteile der Besonnenheit und der Sicherheitsmechanismen, die aus der Achtung der Unabhängigkeit der Institutionen des Rechtsstaats, der Achtung der Menschenrechte, dem Schutz von Minderheiten und internationalen Spielregeln und Verträgen bestanden. All dies hat seiner Meinung nach heute keinen Wert mehr.

Da Empoli vergleicht die aktuelle Situation mit der vor acht Jahren, als Trump seine erste Amtszeit als Präsident der Vereinigten Staaten antrat, und stellt grundlegende Unterschiede fest. „Was sich gegenüber vor acht Jahren geändert hat, ist, dass der Sockel, auf dem die alte Ordnung ruhte, zusammengebrochen ist. Waren die Brexit-Befürworter, Trump und Bolsonaro Mitte der 2010er Jahre noch eine Gruppe von Außenseitern, die die etablierte Ordnung herausforderten und eine Strategie verfolgten, die darauf abzielte, Chaos zu stiften, genau wie Rebellen in Kriegszeiten gegenüber einer übermächtigen Gegenseite, so hat sich diese Situation heute dahingehend gewendet, dass Chaos nicht mehr die Waffe der Rebellen ist, sondern das Markenzeichen der Herrschenden.“ (S. 73).

Er sieht drei Ursachen für diesen jüngsten Umschwung. Zum einen ist die letzte Generation, die den Krieg bewusst erlebt hat, verschwunden. Nach dem klassischen Staatsmodell der drei möglichen Staatsformen, das von Polybius (Historiae 6.4-9) ausführlich beschrieben wird und das ich in meinem historischen Roman über Alkibiades Protagoras in den Mund gelegt habe, ist der kollektive Gedächtnisverlust infolge des Ablebens der Generation, die sich noch daran erinnert, welche Opfer für die Verfassung erbracht wurden und die sich an das Chaos erinnert, aus dem heraus die fragile neue Ordnung erkämpft wurde, die Hauptursache für den Verfall des politischen Systems.

Die zweite Ursache ist das Internet. „Solange der politische Wettstreit in der realen Welt stattfand“, schreibt Da Empoli, „im öffentlichen Raum und in den traditionellen Medien, bestimmten die Gewohnheiten und Regeln jedes Landes die Grenzen dieses Kräftemessens, aber sobald die öffentliche Debatte online geführt wird, verwandelt sie sich in einen gnadenlosen Wettbewerb, in dem alles erlaubt ist und die einzigen Regeln die der Internetplattformen sind. Damit vollzieht sich das Schicksal unserer Demokratien zunehmend in einer Art digitalem Somalia, einem gescheiterten Staat, der den gesamten Planeten umfasst und den Gesetzen der Herren des digitalen Krieges und ihrer Milizen unterworfen ist.“

„Heute geht es nicht mehr allein um Kommunikationstechniken, sondern auch um Stimmungsmache, um die Mobilisierung der Wählerschaft, um Inhalte und Programme, die geschickt von rechts über Seminare des Donau-Instituts in Budapest und die National Conservatism Conferences von Miami bis Buenos Aires eingespeist werden“ (S. 72-73). Weiterhin sagt er in seinem Essay: „Die Mobilisierung von Vorurteilen war schon immer der Nerv des politischen Kampfes, aber die sozialen Medien haben es ermöglicht, dieser Mobilisierung eine industrielle Dimension zu verleihen.“

„Das Prinzip bleibt stets dasselbe. Drei einfache Schritte: sensible Themen ansprechen, also Themen, die die öffentliche Meinung spalten; an allen Fronten die extremsten Standpunkte vertreten und diese heftig aufeinanderprallen lassen; diese Konfrontation für die breite Öffentlichkeit deutlich sichtbar machen, um die Stimmung weiter anzuheizen“ (S. 93).

Die dritte Ursache ist eigentlich keine Ursache, sondern die Beobachtung, dass die Wiedereinführung der Gesetze des Dschungels eigentlich eine Rückkehr zur Normalität bedeutet. Die internationale Nachkriegsordnung war historisch gesehen eine Ausnahmesituation. Jetzt geht es wieder so weiter, wie es seit Menschengedenken war. Und damit werden die alten Lehren von Niccolò Machiavelli wieder relevant. Die wichtigste Eigenschaft eines Herrschers ist Tatkraft. Das erste Gesetz des strategischen Handelns ist entschlossenes Auftreten. In ungewissen, chaotischen Situationen, in denen die Legitimität der Macht zweifelhaft ist und jederzeit in Frage gestellt werden kann, ist jede Veränderung nachteilig für diejenigen, die sich passiv verhalten.

Aber Entschlossenheit allein reicht nicht aus. Das Handeln des Herrschers muss demonstrativ unüberlegt sein. Denn was ist eine Entscheidung wert, die logisch und vernünftig ist und einer Notwendigkeit entspricht? Das wäre kaum mehr als die Reaktion eines Technokraten. Das Wesen der Macht liegt jedoch in der Freiheit, unvorhersehbare, unerhörte und unvernünftige Dinge zu tun. Das ist es, was der Herzog von Sachsen gemeint hat.

„Donald Trump ist eine Gestalt, die außerordentlich gut an die heutige Zeit angepasst ist“, sagt Da Empoli. „Eine seiner Eigenschaften ist, dass er nie liest. Keine Bücher, denn die sind seiner Meinung nach etwas für Museen, und auch keine Zeitungen, denn die gehören ebenfalls dorthin. Was seinen Beratern zu schaffen macht, obwohl sie sich eigentlich darüber freuen sollten, ist, dass Trump die Notizen nicht liest – nicht einmal eine halbe Seite, die sie ihm zur Vorbereitung einer Besprechung geben und in denen sie die wichtigsten Punkte des zu behandelnden Themas zusammenfassen.“

Trump würdigt diese Notizen nicht mit einem Blick. Keine Seite, keine halbe Seite, kein einziger Satz. Er funktioniert nur mündlich. Das ist eine große Herausforderung für alle, die ihm ein Minimum an strukturiertem Wissen vermitteln wollen. Aber was macht das schon? Was zählt, ist in erster Linie Handeln, entschlossenes Handeln, und wie wir wissen, ist Wissen einer der größten Feinde des Handelns. Ein chaotisches Umfeld erfordert mutige Entscheidungen, die die gierige Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich ziehen und die Gegner verstummen lassen“ (S. 74-75).

Mit unserem Drang nach Ordnung, Vereinbarungen und Verträgen spielen wir ein Spiel, das es nicht mehr gibt. Unsere Mitspieler werfen den Spielplan über den Haufen

Da Empoli geht in seinem Essay noch ein paar Schritte weiter. Er verbindet apokalyptische Vorhersagen mit der Kombination aus diesem kompromisslosen Machtdenken, unkontrolliertem technologischen Fortschritt und dem Potenzial künstlicher Intelligenz, aber es scheint mir sinnvoll, einen Moment der Reflexion einzuschieben, denn die erste Hälfte seiner Argumentation ist schon deprimierend genug. Wenn er mit seiner Analyse Recht hat, wird schlagartig klar, dass unsere alten, trägen Demokratien mit ihren mühsam ausgehandelten Kompromissen und den noch langsameren Entscheidungsmechanismen in der Europäischen Union zu einem Anachronismus geworden sind.

Wir stehen für Besonnenheit, Zögern und Reflexion auf einem chaotischen Schlachtfeld, auf dem homerische Helden sofort handeln. Mit unserem Drang nach Ordnung, Vereinbarungen und Verträgen spielen wir ein Spiel, das es nicht mehr gibt. Unsere Mitspieler werfen den Spielplan um und schmeißen die Spielfiguren aus dem Fenster, weil sie Chaos wollen. Das gleiche Chaos bedroht uns von innen, weil unsere Demokratien sich grundsätzlich tolerant gegenüber denen zeigen, die unsere Demokratien zerstören wollen.

Selbst wenn wir wollten, könnten wir uns nicht gegen die Desinformation und Aufwiegelung verteidigen, die in industriellen Größenordnungen mit Lichtgeschwindigkeit von denen, die ein Interesse an Unordnung haben, über unsere Wähler ausgekotzt wird. Jede Ordnung ist schwächer als das Chaos, das sie bedroht. Wir halten an Gerechtigkeit fest und damit an der Mäßigung von Ambitionen und Machtgier in einer Welt, die auf Macht und Maßlosigkeit basiert. Es gibt keine Gerechtigkeit mehr, wenn das Recht von den Ungerechten nicht anerkannt wird.

Aber dass wir ein Anachronismus sind, bedeutet nicht zwangsläufig, dass wir nicht im Recht sind. Dass wir zu einem ungleichen Kampf verdammt sind, in dem wir selbst an Spielregeln festhalten, die unsere Gegner nicht mehr respektieren wollen, bedeutet, dass der Kampf schwierig sein wird und dass wir unmöglich gewinnen können, aber das bedeutet nicht, dass wir den Kampf einfach aufgeben dürfen. Hektor ist ebenso unsterblich geworden wie Achilles. Nach Homer kam die Philosophie, die Zurückhaltung und Besonnenheit zu Tugenden erhob. Die Athener Demokratie hat wirklich existiert. Sie inspiriert die Menschheit noch nach Jahrtausenden.

Wir müssen uns nur davor hüten, naiv zu sein und zu glauben, dass die Welt wieder so werden kann, wie sie gestern noch war. Das Einzige, was uns dann noch bleibt, ist, den Ausnahmezustand, in dem Recht, Reflexion und Vernunft auf unserem eigenen Territorium geschätzt werden, so lange wie möglich aufrechtzuerhalten.

Dieser Essay von Ilja Leonard Pfeijffer erschien ursprünglich am 31. Mai 2025 unter dem Titel „De wereld keert terug naar de wetten van de jungle“ in der belgischen Zeitung „De Morgen“. Übersetzung ins Deutsche: Jürgen Klute

Titelbild:  Sara CC BY-NC-SA 2.0 DEED via FlickR

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Ilja Leonard Pfeijffer

Foto: Stephan Vanfleteren

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