Beitrag von Jürgen Klute
Jean-Claude Juncker, der Noch-EU-Kommissionspräsident, ist bereits auf Abschiedstour. Für den kommenden Freitag, den 1. November 2019, war geplant, dass Ursula von der Leyen mit der neuen Kommission die Arbeit aufnimmt. Doch der Start der neuen Kommission wird sich wohl noch bis zum 1. Dezember verzögern. Eine gute Möglichkeit, noch ein paar Hintergrundinformationen zur EU zusammenzustellen. Denn die Bildung bzw. Wahl der EU-Kommission ist vielen Wähler*innen nur schwer nachvollziehbar. Das dürfte ein wesentlicher Grund dafür sein, dass die EU vielen als eine unvollständige Demokratie gilt. Tatsächlich ist das Verfahren gar nicht so kompliziert und es ist auch keineswegs undemokratisch. Selbstverständlich gäbe es auch andere Möglichkeiten, die Kommission zu bestimmen. Aber das ist eine andere Frage.
Selbst wenn man davon ausgeht, die EU-Kommission sei so etwas wie die Regierung der EU – was eher irreführend ist –, ist ihr Zustandekommen keineswegs intransparenter als das Zustandekommen etwa der Bundesregierung. Weder der/die Bundeskanzler*in noch die formal von ihm/ihr ausgewählten Minister*innen werden einer Anhörung durch das Parlament unterzogen und dann vom Parlament bestätigt. Davon unterscheidet sich der Prozess der Bildung bzw. Wahl der EU-Kommission deutlich.
Anlässlich der Anhörung der EU-Kommissions-Kanditat*innen durch das Europäische Parlament (EP), die vom 30. September bis zum 8. Oktober 2019 stattfand, hat die Journalistin Beatriz Rios auf dem europäischen Nachrichtenportal Euractiv das Anhörungsverfahren der Kandidat*innen (“Ein kurzer Leitfaden zu den Anhörungen der Kommissare”) in einer gut nachvollziehbaren Weise nachgezeichnet. Dass und wie das EP dieses Instrument zu nutzen weiß, zeigt dieser Artikel von Jonny Fischer „Es läuft nicht rund für Leyens Truppe“.
Das EP wählt die Kommssar*innen zwar nicht direkt, aber, das wird in dem Artikel von Beatriz Rios deutlich, das EP entscheidet letztendlich über die Kommission. Zuvor unterzieht das Parlament die Kandidat*innen einer ausführlichen Befragung, in der die fachliche Qualität und die persönliche Integrität der Bewerber*innen überprüft wird. Beatriz Rios beschreibt in ihrem Artikel Schritt für Schritt, wie dieses Anhörungsverfahren abläuft.
Weist das Parlament Kandidat*innen zurück – im vorliegenden Falle sind es gleich drei –, muss das EU-Mitgliedsland, aus dem der/die Kandidat*in kommt, einen neuen Vorschlag machen. Haben alle Kandidat*innen die Zustimmung des EP erhalten, dann stimmt das Parlament anschließend über das komplette Kollegium, das dem Parlament vom Rat vorgeschlagen wird, ab.
Dieses Verfahren, das in Artikel 17 des Vertrags über die Europäische Union vorgeschrieben ist, ist im Vergleich zur Bildung der Bundesregierung recht transparent und garantiert vor allem, dass in aller Regel vergleichsweise kompetente Kandidat*innen als Kommissar*innen bestimmt werden und keine parteitaktisch wünschenswerten. Vor allem aber hat dieses Verfahren bisher sicher gestellt, dass Populisten wie Donald Trump, Boris Johnson oder Viktor Orbán keine Chance hätten, EU-Kommissar zu werden. Jedenfalls sind solche Figuren bisher nicht als EU-Kommissar nominiert worden. Sie hätten schlicht keine Chance, dieses Verfahren erfolgreich zu durchlaufen.
Aus bundesrepublikanischer Sicht erscheint dieses Verfahren gewöhnungsbedürftig und wird gelegentlich auch als undemokratisch empfunden. Doch die EU ist nicht nach dem gleichen demokratischen Konzept aufgebaut wie die Bundesrepublik. Die EU ist eher eine Gremiendemokratie bestehend aus den drei Institutionen EP, EU-Rat, und EU-Kommission, die unterschiedliche Aufgaben haben. Die Bildung der Kommission erfolgt arbeitsteilig zwischen EU-Rat und EP: Der EU-Rat nominiert die Kandidat*innen, das EP entscheidet über die Nominierungen.
Die EU-Kommission hat exekutive Aufgaben einschließlich der Ausarbeitung von Gesetzesvorlagen. EP und EU-Rat sind bis auf ganz wenige Ausnahmen gleichberechtigte Gesetzgeber (wobei das EP das Recht hat, legislative Initiativberichte zu verfassen, mit denen es die Kommission zur Ausarbeitung von Gesetzesvorlagen auffordern kann; vgl. Vertrag über die Arbeitsweise der EU, Art. 225).
Eine Trennung von Gesetzgebung und Gesetzeseinbringung, wie auf EU-Ebene, ist allerdings keineswegs undemokratisch. In der antiken Athener Demokratie waren diese Funktionen ebenfalls auf unterschiedliche Gremien aufgeteilt. Und in modernen theoretischen Konzepten einer deliberativen Demokratie sind diese Funktionen ebenfalls auf mehrere Gremien aufgeteilt (vgl. dazu z.B. David van Reybrouk: Gegen Wahlen, Göttingen 2016).
Ein Blick auf die demokratischen Modelle der europäischen Nachbarländer zeigt schnell, dass sich die Architekten der politischen Struktur der EU offensichtlich von der Schweiz haben inspirieren lassen. Während sich die anderen europäischen Länder überwiegend am Prinzip einer Konkurrenzdemokratie orientieren, folgt die Schweiz sehr konsequent dem Modell einer Konkordanzdemokratie oder Konsensdemokratie.
Schon ein kurzer Blick auf die grundlegenden Strukturen und Arbeitsweisen des Schweizer politischen Models zeigt die Schnittmengen zur Struktur und Arbeitsweise der EU. Auf Schweizer Bundesebene gibt es als gesetzgebendes Organ die Bundesversammlung. Sie besteht allerdings aus zwei Kammern: dem Nationalrat und dem Ständerat.
Der Nationalrat besteht aus konstant 200 Mitgliedern, die durch allgemeine Wahlen im Vierjahresrhythmus bestimmt werden. Damit jeder der unterschiedlich großen Schweizer Kantone im Nationalrat repräsentiert ist, ist jedem Kanton mindestens ein Sitz als Mindestquote garantiert. Das spiegelt sich in der EU-Wahlgesetzgebung insofern wieder, als dass die Sitzanteile im EP nach Ländern quotiert sind, damit auch kleine Mitgliedsländer im EP präsent sind. Dafür wird sowohl in der Schweiz als auch in der EU eine Abweichung von der Regel „one man, one vote“ hingenommen.
Der Ständerat besteht aus 46 Mitgliedern, also zwei Mitgliedern pro Kanton, die jeweils ihren Kanton repräsentieren und nicht die Bürgerschaft als ganze. Das entspricht zwar nicht exakt dem EU-Rat, aber strukturell ist der Ständerat dem EU-Rat am ähnlichsten unter den drei EU-Institutionen.
Eine starke Übereinstimmung gibt es zwischen dem Nationalrat und dem Ständerat einerseits und dem EP und dem EU-Rat andererseits im Blick auf ihre Rolle als Gesetzgeber. In beiden Fällen sind Gesetze angenommen, wenn die eingereichten Gesetzesvorschläge von beiden Kammern mit eigner Mehrheit und identischem Wortlaut angenommen wurden. Kommt es nicht zu einer Einigung, dann setzt sowohl in der Schweiz als auch in der EU ein Kompromisfindungsprozess zwischen den beiden gleichberechtigten Gesetzgebern ein. Hier spiegelt sich also das Prinzip der Ko-Gesetzgebung zweier gleichberechtigter Gesetzgebungsinstanzen.
Deutliche Unterschiede bestehen hingegen im Blick auf die Einbringung von Gesetzesvorschlägen. In der Schweiz gibt es – im Unterschied zur EU – neben dem Bundesart (er entspricht der Kommission) eine ganze Reihe weiterer Institutionen, die Gesetzesvorschläge einbringen können. In der EU gibt es allerdings mittlerweile auch die Möglichkeit für Bürger*innen, über eine Europäische Bürgerinitiative die EU-Kommission aufzufordern, eine Gesetzesinitiative zu starten (Vertrag über die EU, Art. 11 (4) und Vertrag über die Arbeitsweise der EU, Art. 24 (19)).
Die Funktion einer Regierung übt ein drittes Gremium aus: Der Bundesrat. Er hat im wesentlichen exekutive Aufgaben und Berichtspflichten gegenüber der Bundesversammlung. Der Bundesrat besteht aus 7 völlig gleichberechtigten Personen. Gewählt wird er durch die Bundesversammlung auf vier Jahre. Der/die Vorsitzende wird jährlich neu gewählt von der Bundesversammlung und hat gegenüber den anderen Mitgliedern die zusätzliche Aufgabe der Sitzungsleitung. Im Bundesrat sind die in der Bundesversammlung vertretenen Parteien nach einer Quotenregelung vertreten. Die Mitglieder des Bundesrates sind verpflichtet, alle mehrheitlich gefassten Beschlüsse des Organs – unabhängig vom eigenen Abstimmungsverhalten – nach außen als gemeinsam Position zu vertreten und zu verteidigen.
Die Regelung, dass nicht die stärkste Partei den Schweizer Bundesrat stellt, sondern alle im Bundesrat vertretenen Parteien, spiegelt sich in der Zusammensetzung der EU-Kommission wieder, in der eben jedes EU-Mitgliedsland vertreten ist. Auch die Bestimmung des Bundesrates durch die Bundesversammlung entspricht in etwa dem Verfahren der Bestimmung der EU-Kommission.
Mit dem Lissabon Vertrag trat allerdings eine modifizierte Regelung in Kraft. Um bei einer größer werdenden EU die Zahl der Kommissar*innen begrenzen zu können, müssen nach der neuen Regelung seit November 2014 nicht mehr alle Länder gleichzeitig in der Kommission vertreten sein, wenn sicher gestellt gestellt ist, dass alle Länder durch ein Rotationsverfahren mindestens iterativ in der Kommission präsent sind (vgl. Vertrag der EU, Art. 17 (5)). Dennoch: Die Grundidee bleibt erhalten, dass alle EU-Mitgliedsländer an den politischen Entscheidungsprozessen beteiligt werden.
Im Zentrum des Schweizer Demokratiemodells steht also ein möglichst breiter Konsens. Dieses Modell ist zwar nicht eins zu eins von der EU übernommen worden. Übernommen wurde von der EU aber in jedem Fall das Konsensuale des Schweizer Modells und in angepasster Form etliche weitere Elemente dieses Modells. Historisch ist das auch schlüssig. Die EU hat das Ziel und den Anspruch, einen über Jahrhunderte durch Kriege zerrissenen Kontinent zusammenzuführen zu einer friedlichen Koexistenz der verschiedenen Gesellschaften. Dazu eignet sich das Schweizer Demokratiemodell schlicht besser als ein auf Konkurrenz basierendes Demokratiemodell. Ein Blick auf die Konfliktherde, die es nach wie vor innerhalb der EU gibt, zeigt, dass die Entscheidung für dieses Konzept eine kluge und richtige war.
Aus dieser Perspektive ist es im übrigen auch zu begrüßen, dass das so genannte aus der Bundesrepublik kommende „Spitzenkandidaten-Modell“ offensichtlich mittlerweile gescheitert ist. Das „Spitzenkandidaten-Modell“ passt zum Konzept der Konkurrenzdemokratie und fügt sich als einzelnes bzw. isoliertes Element nicht in das Modell einer Konkordanzdemokratie ein.
Selbstverständlich kann man darüber streiten, ob das Modell einer Konkurrenzdemokratie nicht vorteilhafter und effizienter wäre. Bisher scheint es immerhin, dass das Schweizer Modell einer Konkordanz-Demokratie weniger anfällig für Populisten ist als das angelsächsische Modell der Konkurrenz-Demokratie.
Will man einen Modell-Switch – wie z.B. mit dem Spitzenkandidaten-Modell – dann muss man allerdings auch offen sagen, worauf man hinaus will und dann muss man auch darlegen können, weshalb eine Modell-Switch von Vorteil wäre. Wahrlos Elemente zu mischen macht keinen Sinn und löst auch nicht die Krisen, in der sich Parteien und Demokratie derzeit befinden.
Eine so starke Orientierung an Konsens und an Beteiligungskriterien wie in der Schweiz und in der EU geht sicher zulasten einer Proportionalität im Sinne der Regel „one man, one vote“. Das ist aber keineswegs undemokratisch, wie gelegentlich behauptet wird, sondern schlicht eine andere Form und Ausgestaltung einer Demokratie, wie ich hier darzulegen versucht habe, die aus meiner Sicht dem Sinn und dem Ziel der EU besser entspricht als eine Konkurrenzdemokratie – auch, weil sie die politischen Institutionen der EU bisher vor Populismus weitgehend geschützt hat.
Das heißt nicht, dass die EU nicht weiter zu entwickeln ist und auch demokratischer werden kann. Gerade die Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern lässt sich deutlich ausweiten. Claus Leggewie Patricia Nanz haben in ihrem Band „Die Konsultative – Mehr Demokratie durch Bürgerbeteiligung“ (Berlin 2016) dazu eine ganze Reihe von Anregungen aufgeschrieben.
Der oben schon genannte belgische Autor David van Reybrouck („Gegen Wahlen“) hat Vorschläge für eine deliberative Demokratie ausgearbeitet. Die politische Architektur der EU ist für die Vorschläge van Reybroucks durchaus anschlussfähig.
Sein Konzept ist – wie die EU – ebenfalls eine Gremien-Demokratie ohne Regierung, wenngleich mit deutliche mehr und unterschiedlichen Gremien als die EU. Zudem werden in seinem Konzept Wahlen durch ein Losverfahren ersetzt, um Demokratien resistenter zu machen gegen Populismus (in diesem Sinne ist van Reybrouck der Gegenpol zu der belgischen Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe, die sich für einen linken Populismus als Antwort auf rechten Populismus stark macht). Experimentiert wird mit solchen Ideen z.B. in Irland (vgl. „Zur Wahl steht: Die Demokratie“, in: Die Zeit vom 19.01.2017), aber auch in der deutschsprachige Gemeinschaft Belgiens (DG), in der derzeit auf Dauer ein Bürgerdialog in Ergänzung zur Regierung der DG installiert wird, dessen Mitglieder durch ein Losverfahren bestimmt werden.
Hier öffnen sich Wege und Perspektiven für eine tiefgreifende Reform der EU, die selbstverständlich auch eine neue Austarierung der Befugnisse sowie der Verhältnisse der verschiedenen politischen Handlungsebenen zueinander umfassen muss, und die den veränderten Produktionsverhältnissen – um einen klassischen linken Terminus aufzugreifen – als wahrscheinlichster Ursache der gegenwärtigen Demokratie-Krise Rechnung trägt, ohne die konsensuale Architektur der EU zu zerstören.
Den Hinweis, dass die EU sich stark an das Schweizer Demokratiemodell anlehnt, habe ich von Jan Kurlemann erhalten, einem Kollegen vom Belgieninfo [www.belgieninfo.net]. Jan Kurlemann ist Jurist hat lange als Beamter in verschiedenen Funktionen bei der EU gearbeitet und ist ein ausgezeichneter Hobby-Historiker.
Titelbild: Jürgen Klute CC BY-NC-SA 4.0
Vertrag von Lissabon
Der Vertrag von Lissabon umfasst zwei Teile: Den Vertrag über die Europäische Union und den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union. Der folgende Link für auf die Webseite EUR-Lex, auf der die verschiedenen Sparaversionen wahlweise als HTML, als Word-Datei oder als PDF zur Verfügung stehen: Bitte hier klicken!
Informationen zum politischen Modell der Schweiz
Ergänzende Links …
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