Beitrag von Stanislaw Kibalnik und Bernhard Clasen 

Selten schienen die Bedingungen für soziale Gerechtigkeit in der Ukraine so günstig zu sein wie 2013 und 2014. Wütende Demonstrationen setzten einen korrupten Präsidenten ab, der in einem Luxus lebte, wie wir ihn von mittelalterlichen Königen und Kaisern kennen. Doch die Absetzung des korrupten Präsidenten Janukowitsch hat dem Land nicht mehr soziale Gerechtigkeit gebracht. Kurz nach der Maidan-Revolte bekam die Ukraine, das ärmste Land Europas, mit Petro Poroschenko den reichsten Präsidenten Europas.

Diese Situation sollte eigentlich eine gute Ausgangslage für Linke sein. Tatsächlich aber haben Linke und solche, die sich links nennen, in den letzten Jahren weiter an Bedeutung verloren. Dieser Bedeutungsverlust lässt sich nicht nur mit dem gewaltsamen Vorgehen Rechtsradikaler gegen Linke oder den staatlichen Verboten kommunistischer und sozialistischer Symbolik erklären. Die ukrainischen Linken sind ausgerechnet in den Fragen zerstritten, die die Menschen im Land umtreiben. Einige gelten als prorussisch, andere Linke kämpfen an der Front gegen die von Russland unterstützten Aufständischen. Einige Linke vor allem im internationalen Raum begrüßen die Annexion der Krim, stehen auf der Seite der „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk, andere Linke, insbesondere in der Ukraine, sehen sich als ukrainische Patrioten, die die Ukraine in den Grenzen anerkennen, in denen sie in die UNO aufgenommen worden ist.

Zankapfel unter den Linken in der Ukraine ist die Frage: wie halte ich es mit der Europäischen Union? Eine Frage, die Ex-Präsident Janukowitsch aus dem Amt gejagt hat.

Zum Verständnis: Nicht alle der im Folgenden angeführten Gruppen und Personen sind Linke, aber alle verstehen sich selbst als Linke.

Die Kommunistische Partei der Ukraine (KPU) und die Progressive Sozialistische Partei der Ukraine (PSPU)

In der KPU von Petro Symonenko und der PSPU von Natalia Witrenko finden sich vor allem ehemalige Funktionäre der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, die ihre Stimmen immer wieder an Parteien und Regierungen verkauft haben. Und sie sind gegen die Europäische Union. Beide haben einen konservativ-reaktionären Hintergrund. Immer wieder ist in diesen Kreisen von einem Europa die Rede, wo man den Kindern auf den Schulen angeblich Inzest predige, das die Ukraine mit schwarzen Migranten fluten und alle Bürger zur Teilnahme an Gay-Paraden zwingen wolle. Sie argumentieren weitgehend abstrakt, man ist gegen den IWF und gegen Oligarchen, ohne konkrete Handlungsperspektiven aufzuzeigen, glaubt, dass es mit der ukrainischen Wirtschaft wegen der EU-Quoten und des verloren gegangenen russischen Marktes bergab gehe.

KPU und PSPU sind seit 2015 bedeutungslos.

Die Sozialistische Partei der Ukraine (SPU) und die Vereinigte Sozialdemokratische Partei (SDPU)

Die SPU von Olexandr Moros war 2005 noch sehr beliebt. Doch 2007 wechselte die SPU auf einmal die Seiten, unterstützte nun Viktor Janukowitsch und die „Partei der Regionen“. Dieser Wechsel hat die Partei ins politische Abseits gestellt. Auch die SDPU von Viktor Medwetschuk und Nestor Schufritsch ist seit 2005 weitgehend bedeutungslos. Beide haben inzwischen eine neue Heimat gefunden: die Oppositionsplattform für das Leben.

Die Oppositionsplattform – für das Leben

Diese Partei steht im Erbe der Partei der Regionen des früheren Präsidenten Viktor Janukowitsch. Ihre Mitgliedschaft kommt auch aus der SPU und der SDPU. In dieser sehr hierarchisch strukturierten Partei finden sich vor allem Geringverdienende, ältere russischsprechende Stadtbewohner. Die Partei kann mit einem Potential von 18% rechnen. Sie hat eigentlich keine Ideologie, gilt als prorussisch und antiamerikanisch.

Die Bewegung der Linken Kräfte

Die Bewegung der linken Kräfte war 2008 bei ihrer Entstehung eher prorussisch. Inzwischen verstehen sich ihre Vertreter als proukrainisch. Ende 2019 hat die Partei neue Mitglieder und damit auch an Bedeutung gewonnen. Auch bei den Kiewer Bürgermeisterwahlen im Herbst werden sie mit einem eigenen Kandidaten antreten. Nicht auszuschließen, dass sie dabei ein Ergebnis um die 5 Prozent erzielen werden. In ihren außenpolitischen Vorstellungen unterscheiden sie sich kaum von der Oppositionsplattform für das Leben. Von ihrer Struktur her sind sie jedoch demokratischer, haben viele jugendliche Mitglieder. Sie wollen die Beziehungen zwischen der Ukraine und Russland wieder neu aufleben lassen, wollen Russisch als zweite Sprache. Der Assoziierungsvertrag mit der EU soll neu verhandelt werden.

Borotba

Die 2011 entstandene „Borotba“ (der Kampf) sieht die Stalin-Zeit weitgehend kritiklos, befand sich aber zunächst in Gegnerschaft zur KPU. Doch in den darauffolgenden Jahren arbeiteten einzelne Mitglieder mit der KPU zusammen. Die Positionen von Borotba sind mit der offiziellen russischen Haltung weitgehend identisch.

Die Linke Opposition

Die von Trotzkisten gegründete Linke Opposition kommt aus der „Organisation der Marxisten“.

Aus der „Organisation der Marxisten“ ist auch die „Borotba“ hervorgegangen. Einige der 10-15 Mitglieder leben im Ausland. Sie haben die Revolte des Maidan 2013 und 2014 zunächst unterstützt. Auf dem Maidan waren sie mit einer Fahne der EU-Sterne auf rotem Hintergrund zu sehen, traten dort für ein „sozialistisches Europa“ ein. 2016 hatte ein Vertreter der Gruppe bei einer Reise in die Niederlande die niederländische Bevölkerung aufgerufen, gegen die Assoziierung der Ukraine in die EU zu stimmen. Diese eurokritische Haltung darf nicht als prorussisch interpretiert werden. Man sieht vielmehr eine starke Ukraine durch den westlichen Einfluß bedroht. Inhaltlich gibt es auf der Ebene persönlicher Kontakte in Fragen sozialer Gerechtigkeit eine gewisse Zusammenarbeit mit ehemaligen Mitgliedern von „Borotba“.

Chornij Stjag (die schwarze Fahne)

Mehrere Dutzend Aktivisten zählt die Chornij Stjag (die schwarze Fahne) im westukrainischen Lwiw. Die Gruppe ist strikt gegen eine Integration in die EU. Diese würde die EU, so Chornij Stjag, nur als Rohstofflieferant missbrauchen. Gleichzeitig lehnt man auch die russische Expansion ab, glaubt, dass Russland die Ukrainer als Ethnos einverleiben wollen. Die Regierungen der letzten Jahre sind für Chornij Stjag neoliberal und neokolonial. Sie sehen keinen großen Unterschied zwischen den Regierungen unter dem früheren Präsidenten Janukowitsch und den aktuellen Regierungen.

Zachist Praxi (Schutz der Arbeit)

Zachist Praxi versteht sich als linke unabhängige Gewerkschaft. Die Gewerkschaft lehnt die Annexion der Krim ab, steht im Krieg um den Donbas auf der Seite der Ukraine. Die Gruppe lehnt eine Integration nach Russland genauso wie eine Assoziierung mit der EU ab. Letztendlich seien in Russland genauso wie in der EU Vertreter des Großkapitals an der Macht.

Perspektiven einer ukrainischen Linken

Von ihrem Denken her, meint Sergey Movchan vom Internetportal „Politichna Kritika“, lehnen die Ukrainer Privatisierungen von Unternehmen ab, sie sind für die Beibehaltung des Moratoriums zum Verkauf landwirtschaftlich genutzter Flächen, wollen einen Sozialstaat.

Somit gebe es in der Gesellschaft gerade vor dem Hintergrund der neoliberalen Reformen durchaus einen Bedarf an linker Politik. Linke Politk, so Movchan, finde derzeit vor allem in Protestbewegungen und Gewerkschaften statt.

Im Parteienspektrum sieht Movchan derzeit für eine linke Partei keinen Platz. Dazu sei die ukrainische Parteienlandschaft viel zu sehr auf Personen konzentriert. Ukrainische Parteien, so Movchan, orientieren sich nicht an Ideen, sondern an den Interessen von Finanzwelt und Business-Clans.

Deswegen hätten weder linke, noch liberale oder auch nationalistische Parteien Chancen, an die Macht zu kommen.

In einem Artikel für das Internetportal Censor.net denkt der linke Polittechnologe Oleg Wernik von der Gewerkschaft „Zachist Praxi“ über Perspektiven einer ukrainischen Linken nach. Wernik, der wegen einer Reihe von Finanzskandalen und einer Mitwirkung an fragwürdigen Projekten bei den ukrainischen Linken umstritten und weitgehend isoliert ist, ist der Auffassung, dass die Linke wegkommen müsse vom Image einer Bewegung, die Stalin verherrliche und Ziele des Kreml verfolge. Man könne nicht ständig gegen den amerikanischen Imperialismus angehen und den russischen Imperialismus ausblenden.

Nun gelte es, neben der sozialen Gerechtigkeit Themen der modernen Linken, wie das bedingungslose Grundeinkommen, LGBT-Rechte, Umweltschutz, Tierschutz und Anti-Diskriminierung von Minderheiten aufzugreifen.

Gleichzeitig müsse die Ukraine die Mitbestimmung, wie sie in der europäischen Gesetzgebung praktiziert wird, in geltendes Recht einfließen lassen.

Eine rechtsradikal geprägte Ukraine, glaubt Wernik, werde niemals den Anschluss an die EU finden. Und so sei es Aufgabe einer modernen ökologisch-sozialen ukrainischen Linken, der Ukraine die Türen in die Europäische Union zu öffnen.

Titelbild: Ukraine Maidan 2013-14 left maidan salamaniuk Quelle: commons.com.ua

Autoren

Stanislaw Kibalnik ist Journalist des Internetportals assembly.org.ua (Charkiw).

Bernhard Clasen ist taz-Korrespondent in Kiew.

Bei den Protesten gegen Viktor Janukowitsch auf dem Maidan 2013 und 2014. Linke sind mit dabei – und führen eine rote Fahne mit den EU-Sternen mit sich. Lange waren sie nicht dabei, schon bald wurden sie von rechten Gruppen vom Maidan vertrieben. Quelle: commons.com.ua

Prorussische Aktivisten von “Borotba” auf dem Charkiwer “Antimaidan“ 2014. Quelle: commons.com.ua

Linke Anarchisten der Gruppe Chornij Stjag (die schwarze Fahne) aus dem westukrainischen Lwiw gegen eine Kolonialisierung durch Amerika und Russland. Quelle: Facebook

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