Von Paul Schäfer
Seit einiger Zeit kursiert ein Gerücht in der linken Medienwelt: Bei den Gesprächen zwischen der Ukraine und Russland in Belarus und in Istanbul Ende März habe es eine große Annäherung gegeben, sogar ein Friedensvertrag sei vorgelegt worden, den beide Seiten hätten unterzeichnen wollen. Diese Einigung sei aber durch den britischen Premier Boris Johnson am 9. April bei seinem Besuch in Kiew verhindert worden. Diese Absage wird auch gerne so interpretiert, dass dies im Auftrag der NATO bzw. der USA geschehen sei. Somit ist die These komplett, wonach „der Westen“ den Frieden sabotiert habe.
Schauen wir uns die Sache genauer an und fragen nach den Quellen, auf die man sich in diesem Zusammenhang bezieht.
Verhandlungen in Istanbul – der ukrainische Friedensplan?
Die britische Zeitung Faridaily berichtete am 29. März 2022 (Rustamowa 2022), dass ihr ein 10- Punkte-Friedensplan zugespielt worden sei, den die ukrainische Delegation bei den Verhandlungen in Istanbul vorlegen wollte. Einige Punkte daraus hat der russische Verhandlungsführer Vladimir Medinsky öffentlich bestätigt. Eine Autorisierung dieses Plans von ukrainischen Offiziellen gibt es jedoch nicht. Allerdings deckt sich das hier Wiedergegebene mit Positionen, die Präsident Selenskyi im unmittelbaren Vorfeld und nach dem Beginn des Krieges mehrfach öffentlich formuliert hat. Selenskyi war zu weitreichenden Zugeständnissen bereit: Die Ukraine sollte sich als neutralen Staat definieren, der sich keinem militärischen Block anschließt, keine fremden Truppen auf seinem Territorium stationiert und definitiv auf Atomwaffen verzichtet. Dafür sollten die russischen Truppen zurückgezogen werden. Die Ukraine solle ausreichende Sicherheitsgarantien bekommen, die ihre künftige territoriale Unverletzlichkeit sichern sollten. Alle weiteren Details sind unklar bis strittig.
Zuvor hatte die Financial Times hatte am 16. März 2022 (Seddon/Olearchyk/Massoudi 2022) von einem 15-Punkte Plan gesprochen. Bei den inhaltlichen Ausführungen gibt ein bestimmtes Maß an Übereinstimmungen. Halten wir fest:
- Ein offizielles, autorisiertes Dokument gibt es bis heute nicht.
- Das was von beiden Seiten in der Öffentlichkeit berichtet wurde (Agenturmeldungen, Zeitungsartikel), ergibt kein eindeutiges Bild, was, wie verhandelt wurde oder schon ausverhandelt war.
- Dazu gehören auch Behauptungen der russischen Seite, die Ukraine habe während des Verhandlungsprozesses ihre Positionen geändert Wladimir Putin hat dies auf einer Pressekonferenz mit dem Präsidenten von Belarus am 12. April 2022 vorgetragen. Bei den Sicherheitsgarantien für die Ukraine seien die Krim, Sewastopol und der Donbass ursprünglich ausgenommen worden. Dies habe die ukrainische Delegation einseitig verändert. Dagegen steht, dass die ukrainische Seite immer darauf bestanden hat, niemals bereit zu sein, die Souveränität des Landes aufzugeben.
Immerhin ist davon auszugehen, dass die Idee einer Neutralität der Ukraine, vergleichbar mit Schweden und Österreich, die erwartungsgemäß die ungeteilte Zustimmung von Außenminister Lawrow fand, Eingang in die Entwürfe gefunden hatte. Aber ohne Details zu kennen, scheint es andererseits ziemlich klar (und ergibt sich aus öffentlich zugänglichen Regierungsverlautbarungen der Ukraine), dass die weitreichenden Zugeständnisse – wie den Nichtbeitritt der Ukraine zur NATO – im Gegenzug den Truppenrückzug der russischen Streitkräfte von ukrainischem Territorium voraussetzten. Was wir nicht wissen, ist, wie das Territorium exakt definiert wurde. Dass die staatliche Souveränität der Ukraine durch Regelungen untersetzt werden sollte, die deutlich über das Budapester Memorandum von 1994 hinausgehen mussten, war ebenso klar. Alle Hinweise deuten darauf hin, dass in diesen beiden Punkten (Territorialfrage, Sicherheitsgarantien) keine abschließende Einigung erreicht wurde. Auch das Problem bis wohin sich die russischen Truppen zurückziehen sollten, dürfte umstritten, d.h. ungelöst, geblieben sein. Welche Rolle die Frage spielte, ob sich die Ukraine der EU anschließen könne, bleibt völlig unklar. Im Vorfeld war gemeldet worden, dass die Ukraine von Moskau grünes Licht für einen solchen Beitritt fordere (MDR 2022).
Von einem fertig ausverhandelten Friedensvertrag, der nur noch der Absegnung durch die jeweiligen Präsidenten bedurft hätte, kann keine Rede sein.
Die russische Seite hat deutlich gemacht, dass Regelungen, die Krim und die Donbass-Region seien Teil der Ukraine, für sie nicht zur Debatte stünde. Die Financial Times schreibt dazu unmissverständlich: „Der größte Knackpunkt bleibt Russlands Forderung, dass die Ukraine die Annexion der Krim 2014 und die Unabhängigkeit der zwei Separatstaaten in der östlichen Donbass-Region anerkennen müsse“ (Übersetzung PS). Genau dies hat Außenminister Lawrow bei der Abweisung eines italienischen Friedensplans vom Mai 2022 bekräftigt (s.u.). In der Meldung der Financial Times wie auch in anderen Informationsquellen, ist zudem deutlich nachzulesen, dass die ukrainischen Teilnehmer der Verhandlung sehr skeptisch gewesen sind, ob man Russland nach all den Lügengeschichten zuvor überhaupt trauen könne. Und diese Meldungen liegen vor dem Eintreffen Johnsons in Kiew am 9. April.
Aus dem bisher Geschriebenen folgt: Über das was in Istanbul konkret auf dem Tisch lag, was verhandelt wurde, mit welchem Ergebnis bzw. Nicht-Ergebnis gibt es keinerlei offizielle Verlautbarung. Auch die in den Medien gehandelten Informationen, Mutmaßungen, Interpretationen, man sei einer Friedensvereinbarung sehr nahe gekommen, sind nicht eindeutig und wenig verlässlich – keineswegs eindeutig und verlässlich.
Ein interessantes Detail ist in der Presse zu finden: Die Verhandlungen seien nach der Annäherung wegen der ungelösten Territorialfragen ins Stocken geraten – auch weil die Delegationen nicht autorisiert gewesen seien, darüber zu befinden. Möglicherweise war dies der Hintergrund, der (unmittelbar nach Istanbul) Präsident Selenskyi veranlasste, Wladimir Putin aufzufordern, man möge sich auf höchster Ebene treffen, um den Gordischen Knoten durchschlagen zu können. Dieses öffentlich gemachte Angebot wurde von Putin zurückgewiesen. Warum, wenn doch ein Vertragsdokument vorgelegen haben soll? Auch dies ein Indiz dafür, dass das von Putin lancierte Narrativ des schon ausverhandelten Friedens unrichtig ist.
Der Johnson-Besuch in Kiew am 9. April 2022, oder: Wer weiß was?
Nun gibt es Menschen, die zwar in Istanbul am 29. März 2022 nicht am Tisch saßen, die dennoch genau wissen, was dort ausverhandelt wurde und die auch wissen, was Präsident Selenskyi mit dem britischen Premier Boris Johnson bei dessen Blitzbesuch am 9. April 2022 beredet hat.
Die Erzählung lautet: Der angeblich schon verabredete „Friedensplan“ (s.o.) sei durch Johnson (und die NATO) abgelehnt worden. Daraufhin habe die ukrainische Führung weitere Verhandlungen abgebrochen. So jüngst die LINKEN Politikerin Sahra Wagenknecht, die sich darauf bezieht, dass Boris Johnson bei seinem Besuch für die westlichen Partner der Ukraine erklärt habe, dass man ein solches Friedensabkommen nicht wünsche.
Schauen wir uns die Sache genauer an und fragen nach den Quellen, auf die sich solche Behauptungen stützen könnten.
Die Quellenlage
Der Blick auf die Meldungen der Nachrichtenagenturen im Zeitraum der ukrainisch-russischen Gespräche bestätigt, dass es keine Originalquellen für diesen behaupteten Vorgang gibt. Einzig das eher zweifelhafte „Nachrichtenportal“ Heise/telepolis, lanciert eine solche Meldung – ohne Quellen- angaben.
Der Militärexperte Carlo Masala (Bundeswehr-Universität München) hat in dem SPIEGEL-Gespräch mit Sahra Wagenknecht darauf hingewiesen, dass es für die Johnson-Intervention nur eine Meldung im Kyiv Independent gegeben habe, die aber von den Regierungen in London und Kiew postwendend dementiert worden sei. Näheres dazu konnte ich nicht in Erfahrung bringen.
Wesentlicher scheint mir eine ukrainische Quelle zu sein, die Anhaltspunkte für die oben genannte Erzählung bietet. In der Online Zeitung Ukrainska Prawda beschreibt Roman Romanciuk am 5. Mai unter Berufung auf Informationen aus dem engeren Kreis um Präsident Selenskyi den Gang der Gespräche recht genau (Romanciuk 2022). Er kommt dabei auf den Punkt: Die Enthüllungen über die russischen Kriegsverbrechen hätten es für die Ukrainer nahezu unmöglich gemacht, mit Putin Friedensverhandlungen zu führen. Gleichzeitig sei dadurch die Zögerlichkeit „des Westens“ bei der Militärhilfe für die Ukraine beendet worden. Damit hätten sich für die Ukraine andere Perspektiven, als „Sich Ergeben müssen“, eröffnet. In dieser Situation hätte der Besuch Boris Johnson Anfang April den Gang der Ereignisse mitbestimmt. Johnson habe zwei Botschaften nach Kiew mitgebracht: „Die erste ist, Putin ist ein Verbrecher, er sollte unter Druck gesetzt werden, statt mit ihm zu verhandeln. Und die zweite ist, dass selbst wenn die Ukraine bereit sei, ein Agreement über (Sicherheits-)garantien zu unterschreiben, wir sind es nicht.“ Mit dieser Wendung habe er zum Ausdruck bringen wollen, dass der kollektive Westen zu dem Ergebnis gekommen sei, dass Putin doch nicht so mächtig sei, wie ursprünglich angenommen und infolgedessen unter Druck gesetzt werden könnte.
Auf diesen Artikel hat ein britischer Autor Bezug genommen, der am 7. Oktober 2022 auf einer britischen Website (Eagleton 2022) erschien. Er interpretierte den Romanciuk-Text dahingehend, dass Boris Johnson am 9. April Präsident Selenskyi unter Druck gesetzt habe, nicht zu unterschreiben. Großbritannien und andere westliche Staaten seien nicht bereit gewesen, die vorgesehenen Sicherheitsgarantien des Istanbul-Akkords zu verantworten.
Diesem Beitrag haben zwei Autoren an gleicher Stelle widersprochen. Sie hätten mit Romaciuk geredet, der wiederum die Interpretation Oliver Eagletons für falsch erklärte (Artiuk/Fedirko 2022). Der britische Premier – so Romaciuk – sei nicht nach Kiew gekommen, um die Beendigung der Friedensgespräche anzuordnen. Er sei nach seinem Rat gefragt worden und habe daraufhin sein Misstrauen gegenüber Putin („Kriegsverbrecher“, „Lügner“) ausgedrückt. Artiuk und Federko fügen an dieser Stelle zutreffend an, dass er diese Meinung mit der Selenskyi-Führung geteilt haben dürfte, die schon aus eigener Anschauung zu dem Schluss gekommen war, dass es sehr kompliziert sein dürfte, sich auf Verabredungen mit Russland zu verlassen. Und zu der in diesem Zusammenhang gemachten Bemerkung, Johnson habe sich nicht (als britischer Regierungschef) zur Übernahme von Sicherheitsgarantien bereit erklärt, ist zu sagen, dass dies nach den Erfahrungen mit dem durch Russland gebrochenen Budapest-Abkommen von 1994 nicht aus der Luft gegriffen ist.
Wir können an dieser Stelle vorläufig zusammenfassen:
- Eine Auftragsmission des innenpolitisch angeschlagenen Premiers Boris Johnson, um Friedensgespräche zu beenden, gab es nicht. Von einer Order der USA/ bzw. der NATO kann keine Rede sein.
- Möglicherweise ist Johnson um seine Meinung gefragt worden. Wenn die kolportierten Aussagen stimmen, so handelt es sich um Positionen, die Präsident Selenskyi nicht sonderlich beeindruckt haben dürften. Für die ukrainische Skepsis dürfte die Mehrheitsmeinung in der ukrainischen Bevölkerung, die sich nach Butscha, Irpin, Borodyanka herausgebildet hat, von größerer Bedeutung gewesen sein.
Es ist angesichts dieser Quellenlage überaus erstaunlich, dass es hochrangige Menschen gibt, die offensichtlich genau darüber Bescheid wissen, was in Istanbul auf dem Tisch lag und was zwischen Boris Johnson und Präsident Selenskyi am 9. April beredet wurde.
- Zu den Bescheidwissern gehört bspw. der frühere Bundeswehr Generalinspekteur Harald Kujat. Der General a.D. hat der rechtsextremen Preußischen Allgemeinen (vormals Ostpreussische Zeitung) ein Interview gegeben (30.11.2022), in dem er sich auf Putin beruft, der diesen Vorgang öffentlich gemacht habe. Genaueres wissen wir nicht. Aber für Kujat ist Wladimir Putin offenkundig ein glaubwürdiger Zeuge. Kujat verweist auf zwei amerikanische Zeitschriftenartikel (Samuel Charap, in Foreign Affairs vom 1.6.2022; Anatol Lieven in Responsible Statecraft vom 22.9.2022). Zu der „Order“ Johnsons steht darin allerdings nichts! Immerhin bezieht sich Kujat auch auf den Artikel von Romanciuk, den er wohl als seine wichtigste Quelle übernimmt.
- Ein anderer Bescheidwisser ist der hochrangige, inzwischen pensionierte deutsche Diplomat von der Schulenburg (u.a. Vize-Generalsekretär der UNO!) Er nennt in einem Beitrag für die Nachdenkseiten am 11.10.22 (Schulenburg 2022) überhaupt keine Quellen (!), behauptet aber, der einzige Zweck des NATO-Gipfels vom 23. März in Brüssel, sei gewesen, “die ukrainisch-russischen Friedensverhandlungen zu beenden“ – also vor den Istanbul-Gesprächen, die doch eine Einigung gebracht haben sollten. Konfuser geht es nicht. Der Abbruch der Gespräche sei wohl „auf Druck der USA und des Vereinigten Königreichs“ geschehen. Seine Spekulationen begründet er damit, die NATO habe in ihrem Gipfelkommunique von Russland den vollständigen Rückzug seiner Truppen vom ukrainischen Hoheitsgebiet gefordert. Damit sei jeglicher Kompromiss a prioi torpediert worden, Verhandlungen seien daher obsolet gewesen. Ein solcher Schluss ist wahrlich kühn. Hätte die NATO stattdessen die Ukraine zum Verzicht auf die Krim und die Donbass-Region auffordern und damit den völkerrechtlichen Angriffskrieg Russlands decken sollen? Und: Die UN-Generalversammlung hat in zwei Resolutionen identische Formulierungen beschlossen. Hat also die UNO den Frieden sabotiert?
Das OnlinePortal Die Nachdenkseiten, seit einiger Zeit verschwörungs“theoretisch“ unterwegs, hat am 4.12.2022 einen Beitrag veröffentlicht, der sich erstaunlich konkret, abwiegend, differenziert mit dem Thema befasst (Krause 2023). Ob sich die Nachdenkseiten damit wieder seriöser Publizistik
zuwenden wollen, darf bezweifelt werden.
Norbert Krause bezieht sich bei der Darstellung der unmittelbaren Ereignisse auch auf die hier genannten Quellen (Romanciuk, Eagleton, Artiuk und weitere) und vermeidet eine Festlegung darauf, dass Boris Johnson die ukrainische Führung unter Druck gesetzt habe, die Verhandlungen abzubrechen. Der Autor nähert sich dem Thema also betont vorsichtig. Er erwähnt auch die Pressemeldung über Johnsons Aussagen, die dieser in einem Gespräch mit Macron am 6. Mai verlautbarte: „Er (B. Johnson) sprach sich nachdrücklich gegen Verhandlungen mit Russland über Bedingungen aus, die das falsche Narrativ des Kremls über die Invasion stützen, betonte aber, dass dies eine Entscheidung der ukrainischen Regierung sei.“ Man sollte schon genau hinsehen: Die Absage an Verhandlungen ist hier mit Bedingungen verknüpft, die man nachvollziehen kann. Um diesen Punkt genauer beurteilen zu können, müsste man mehr Details wissen.
Krause räumt ein, ob Johnsons Position mit den anderen westlichen Ländern abgestimmt war, sei unklar, fügt aber hinzu, dass sich möglicherweise Boris Johnson und US-Präsident Biden in einem Telefonat zwei Tage danach (!) abgestimmt hätten. Zitate, die das belegen sollen, beziehen sich allesamt nicht direkt auf die Verhandlungen – Beweisführung sieht anders aus. Mit den Europäern sei diese „Linie“ (= nicht weiter verhandeln) mit Sicherheit nicht abgesprochen gewesen, so Krause weiter, hätten diese doch zur gleichen Zeit den österreichischen Bundeskanzler Nehammer in diplomatischer Mission nach Kiew und Moskau geschickt.
Erklärte Absicht des Beitrags von N. Krause bleibt dennoch, einer Publikation der Stiftung Wissenschaft und Politik zu widersprechen, die Russland „einseitig“ für das Scheitern der Friedensverhandlungen verantwortlich gemacht habe. Zur Klarstellung: Er bilanziert nüchtern genug, dass es keine direkten Beweise für eine westliche Sabotage von Friedensverhandlungen gibt. Er versucht seine These auf indirektem Weg zu begründen und verweist darauf, dass man den Kriegsverlauf Februar/März 2022 und die westlichen Reaktionen darauf, einbeziehen müsse. Diese Wendung des Krieges, auch als „Schlacht um Kiew“ überschrieben, die mit dem Rückzug der russischen Truppen endete, habe die westliche Staatengemeinschaft wie auch die Selenskyi-Regierung, zu dem Schluss veranlasst, dass man den Streitkräften Putins widerstehen und gestützt auf Waffenlieferungen diese zurückdrängen könne. Damit sei das anfängliche Motiv, verhandeln zu müssen, um ein Aufgeben zu vermeiden, entfallen.
Daran, dass auch in den westlichen Medien die Botschaft verbreitet wurde, nach dem Rückzug der Truppen Russlands aus dem Norden des Landes, man könne Putin eine Niederlage beibringen, mag Richtiges enthalten. Dies gilt auch dafür, dass die Abscheu über die Gräueltaten der Putin-Armee, die die Entschlossenheit der Ukraine zum Weiterkämpfen und die internationale Solidarität mit diesem Kampf bestärkt hat.
Dennoch ist eine solche indirekte Beweisführung alles andere als zwingend. Wenn man die Vermutung darauf gründen will, dass die Ukraine und der Westen aufgrund der für sie günstigen Entwicklung auf dem Kriegsschauplatz verhandlungsunwillig geworden seien, so ist auch zu bedenken, dass es in der Woche vom 17.-23. März erhebliche Landgewinne der russischen Armee im Südosten des Landes gab. Außerdem sollte man nicht nur den 29. März 2022 als Stichtag nehmen. Dort hatte Außenminister Lawrow den Rückzug der Truppen um Kiew und die „Umgruppierung“ verkündet, um sich „auf die Befreiung des Donbass zu konzentrieren“. Die Ukraine hat am 17. Juni erklärt, nicht weiter verhandeln zu wollen. Genau in diese Zeit Anfang April bis Juni fällt der großflächige und rasche Vorstoß der Streitkräfte Moskaus im Donbass und darüber hinaus (Landbrücke zur Krim). Der „Militärexperte“ Jacques Baud, ein ehemaliger Schweizer Offizier, hat voller Bewunderung davon gesprochen, dieser Vormarsch hätte in Tempo und Reichweite den Blitzkrieg der Hitler-Wehrmacht bei viel geringerem Kräfteeinsatz deutlich getoppt. Interessanterweise kommen die beiden, von Krause herangezogenen Experten (Jacques Baud, Scott Ritter – von Krause verlinkt) zu dem Schluss, die Erzählung vom großen Sieg der Ukraine in der Schlacht um Kiew sei ein Mythos gewesen. Der Vorstoß nach Kiew sei eine bloß taktische Umzingelung gewesen, die darauf gerichtet gewesen sei, ukrainische Kräfte zu binden, um im Donbass voranzukommen. Der Rückzug sei, wie es Moskau verkündet hat, als Friedensangebot gedacht gewesen. Nicht nur an dieser Stelle fallen Baud und Scott Ritter vor allem dadurch auf, dass sie in den russischen Medien (Russia Today) Widerhall fanden und die Narrative Putins 1:1 bestätigen (Genozid im Donbass, Nazi-Milizen, die auch den Euromaidan organisiert haben etc.pp.). Ihre Einschätzung war im April/Mai davon geprägt, dass sie das baldige Ende der ukrainischen Armee und den vollständigen Sieg Moskaus voraussagten. Expertise und Propaganda sind in diesen Texten schwer auseinander zu halten. Diese Interpretation des Kriegsgeschehens legt jedenfalls eher den Schluss nahe, dass es für den Kreml wenig Veranlassung gab, die Kriegsziele unterhalb des Sturzes der Regierung in Kiew zu korrigieren.
Nun ist eine These, die Bereitschaft zu Verhandlungen sei nicht zuletzt vom Kriegsverlauf abhängig, nicht abwegig. Die Motive auf der jeweiligen Seite aber sind gegensätzlich: Angesichts der ausgreifenden Eroberungspolitik des Kreml im Osten des Landes sah die ukrainische Führung keinen Sinn darin, mit der Pistole an der Schläfe sich auf Friedensgespräche einzulassen. Und es scheint doch so zu sein, dass sich die Gewissheit auf der ukrainischen Seite, die Oberhand gewinnen zu können, erst mit dem Landgewinnen im Herbst vergangenen Jahres herauskristallisiert hat. Das hat in der Tat die Neigung zu Friedensgesprächen erst einmal gedämpft.
Diese Sicht wird durch weitere Indizien erhärtet: Präsident Selenskyi erklärte noch am 10. April, dass er trotz der Grausamkeiten der russischen Armee (Butscha, Irpin) weiter Frieden wolle. Er könne als Familienvater diejenigen verstehen, die eine tiefe Abneigung gegen die Gespräche hätten, aber als Politiker wolle er keine Gelegenheiten für eine diplomatische Lösung verpassen (Quelle: Nachrichtenagentur AP vom 10.4.22). Präsident Putin dagegen erklärte am 12. April, Kiew habe die Friedensgespräche zum Scheitern gebracht – „wegen falscher Anschuldigungen Kriegsverbrechen betreffend und weil es Sicherheitsgarantien für die ganze Ukraine verlangt hätte“ (Quelle: Nachrichtenagentur Reuters von 12.04.22).
Das Thema, dass der Westen den greifbar nahen Frieden verhindert habe, erscheint in immer neuen Varianten. Die beiden US-amerikanischen Autor*innen Fiona Hill und Angela Stent, ausgewiesene Sicherheitsexpert*innen veröffentlichten in der September/Oktober-Ausgabe der Zeitschrift Foreign Affairs einen Beitrag, der sich – gespeist aus vielen Kontakten und Gesprächen in Washington – auch mit den Verhandlungen im Frühjahr 2022 beschäftigte. Der hier interessierende Passus lautete:
„Nach Angaben mehrerer ranghoher ehemaliger amerikanischer Regierungsvertreter, mit denen wir gesprochen haben, scheinen russische und ukrainische Unterhändler im April 2022 sich vorläufig auf Umrisse eines ausgehandelten Übergangsabkommens verständigt zu haben: Russland würde sich auf die Position vom 23. Februar zurückziehen, als es Teile des Donbass und die gesamte Krim kontrollierte. Und im Gegenzug würde die Ukraine versprechen, keine NATO-Mitgliedschaft anzustreben und stattdessen Sicherheitsgarantien von mehreren Staaten erhalten.“
Auch an diese Aussage hat sich das Gerücht geheftet, der Westen habe eine mögliche Übereinkunft verhindert. Der Journalist Majid Sattar hat in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 2. Februar 2023 den entscheidenden Punkt aufgemacht: „Man muss nur auf „Umrisse“, „vorläufig“ und „Übergang“ verzichten sowie den politischen Kontext ausblenden, die Frage nämlich, ob Putin sich einer solchen Vereinbarung seiner Unterhändler wirklich verpflichtet gefühlt hätte – und schon ist die Basis gelegt, um den Westen anzuprangern.“ Die beiden Autor*innen des Foreign-Affairs-Artikels zeigten sich fassungslos angesichts der manipulativen Interpretation ihrer Studie und weisen darauf hin, dass es unmittelbar nach Erscheinen des Beitrags eine Twitter-Kampagne mit den gleichen Unterstellungen in den USA gegeben habe, die höchstwahrscheinlich Putins Propagandisten zugeschrieben werden muss. Und sie merken an, dass sich in der Zeit nach dieser vorläufigen und unvollständigen Übereinkunft neue Bedingungen ergeben hätten: Dazu zählen einmal mehr die Enthüllungen über russische Kriegsverbrechen in Butscha und der Beginn der russischen Bodenoffensive im Osten des Landes, der einen Rückzug von Putins Truppen auf die alte „Kontaktlinie“ unwahrscheinlich gemacht hätte. Beide halten im übrigen die Annahme, dass Washington keine Friedensvereinbarung gewollt habe, schlicht für gezielte Desinformation. Auch hier also das gleiche Spiel der Putin-Apologeten, in dem Unwahrheiten, mit Halbwahrheiten, Fakten, die willkürlich interpretiert werden, gemischt werden. Dieses trübe Gemisch wird von den Adepten immer weiter getragen werden, auch wenn die Behauptungen nicht zu belegen sind oder gar widerlegt wurden.
Das letzte Glied in der Kette ist ein Interview mit dem ehemaligen israelischen Ministerpräsidenten Naftali Bennett, der auf einem rechten Podcast sich viereinhalb Stunden über seine Regierungszeit auslässt. Nach Meldung einer indischen Nachrichtenagentur hat er gesagt, dass die Verhandlungen nicht erfolgreich waren, weil es eine legitime Entscheidung des Westens gewesen sei, die Bekämpfung Putins fortzusetzen. Man habe den aggressiveren Ansatz gewählt, den er besonders dem damaligen britischen Premier Boris Johnson zuschreibt. Nachgefragt, ob die USA und ihre Alliierten den Friedensprozess zwischen Moskau und Kiew blockiert hätten, antwortet er: „Basically yes. They blocked it“. Er fügt hinzu, dass er nicht sagen könne, ob eine solche Entscheidung richtig oder falsch gewesen sei. Möglicherweise hätte ein Einlenken auch eine falsche Botschaft an andere Staaten ausgesandt.
Bennett hat inzwischen über Twitter versucht, die Aussagen etwas genauer einzuordnen:
„1. Es war nicht sicher, dass irgendein Deal gemacht werden konnte. Zu dieser Zeit gab ich einer Übereinkunft grob gesagt Fifty/Fifty-Chance. Die Amerikaner schätzen die Chance niedriger ein. Schwer zu sagen wer Recht hatte.
2. Es war nicht klar, ob ein solcher Deal wünschenswert gewesen wäre. Damals dachte ich so, aber nur die Zeit wird es uns sagen. Ich kann Pros und Cons für jeden Ansatz erkennen.“
Nun könnte man die Sache damit auf sich beruhen lassen, aber ein klares Dementi der ursprünglichen Aussage sieht anders aus. Und hat sich Bennett vielleicht äußeren Druck gebeugt, um seine steile These etwas zu relativieren? Daher soll doch noch ein Blick auf das viereinhalbstündige Podcast-Gespräch versucht werden. Es ist indes nicht leicht, sich beim Studium des Originaldokuments zurecht zu finden. Unvollendete Sätze, keine klare chronologische Zuordnung, die Mischung aus Fakten und sehr subjektiven Bewertungen machen es schwierig, die Essenz des Textes zu erschließen. Versuchen wir eine Rekonstruktion der besonders interessierenden Aussagen:
- Bennett ist in den Tagen nach dem Beginn des Angriffskrieges von Präsident Selensky angerufen worden, der Bennett um Vermittlungsbemühungen bat. „Es war ein Hilferuf“, so Bennett, da Selenskyi in diesen Tagen um sein Leben fürchten musste.
- Er, Bennett, sei der ideale Mediator gewesen, wegen der besonderen Lage Israels (ukrainische und russische Einwanderung, enge Beziehungen zu den USA wegen Waffenhilfe, aber auch zu Russland, mit dem man in Nahost kooperiere) und wegen seines persönlichen Drahts zu Selensky und Putin.
- Daraufhin habe er sich mit Scholz in Jerusalem getroffen, mit Macron. Johnson und Biden gesprochen und sich in dieser Phase eng mit diesen Staaten abgestimmt (die demzufolge allesamt an einer solchen Vermittlung interessiert waren).
- In Vorbereitung von Verhandlungen, die dann in Belarus auch stattfanden, seien zwischen beiden Seiten Kompromisspapiere/Vertragsentwürfe über ihn ausgetauscht worden. Dabei hätten Selens und Putin erhebliche Zugeständnisse gemacht: Selenskyi habe das Begehren auf NATO-Mitgliedschaft zurückgenommen, Putin habe die Kriegsziele „Entnazifizierung“, „Entmilitarisierung der Ukraine“ einkassiert und die Möglichkeit eines Truppenrückzugs angedeutet. Und Putin habe gesagt, man könne einen Waffenstillstand (sic!) erreichen.
- Er schätzt es so ein, dass ein Waffenstillstand in greifbare Nähe gerückt sei. In diesem Kontext fallen die oben zitierten Aussagen – die auch schon die Einschränkung enthielten, dass es möglicherweise legitim gewesen sei, weiterzukämpfen. Er fügt auch hinzu, dass die Enthüllungen über die russischen Kriegsverbrechen in Butscha die Lage gravierend verändert hätten.
Nun wäre es durchaus erhellend, sich näher mit der Selbsteinschätzung Bennetts („der Einzige, der eine Vertrauensbasis mit Putin aufbauen konnte, Erdogan ein bisschen“), mit seiner sicherheitspolitischen Expertise („vergessen Sie Sicherheitsgarantien“ – Israel als Vorbild für unabhängige Selbstverteidigung) und seiner Rolle als Regierungschef Israels (die Ukraine und Russland haben beide Recht) zu befassen.
Wichtiger scheint mir, was man aus dem Gespräch nicht erfährt. Was ist bspw. aus seinem Gespräch mit Putin in Moskau am 7. März herausgekommen? Die Nachrichtenagenturen haben damals vermeldet, man habe verabredet, weiter im Gespräch zu bleiben. Die Süddeutsche Zeitung stellt knapp fest: „Einen Plan für einen Waffenstillstand hat Bennett jedenfalls nicht mitgebracht.“ Da hätte man gerne mehr gewusst.
Was wusste Bennett konkret über die Verhandlungen in Istanbul und kann er etwas sagen, woran die Verhandlungen gescheitert sind? Auf diese Phase des Krieges bezogen (also später) belässt er es bei der oben genannten Pauschalaussage, die in einem weiten Sinne („in a broader sense“) verstanden werden müsse. Konkrete Belege dafür liefert er nicht. Aber er betont noch einmal: „Ich behaupte, dass es eine gute Chance gab, einen Waffenstillstand zu erreichen“. Und hier wird es spannend: Waffenstillstand und Friedensverhandlungen sind nicht dasselbe. Sie hängen zusammen, insofern ein Waffenstillstand mit der tatsächlichen Eröffnung von ernsthaften Friedensgesprächen verbunden sein sollte. Mitunter geht es aber um ein ad-hoc-Interesse der Kriegsparteien in einer konkreten Phase des Krieges. Hier ist davon auszugehen, dass die ukrainische Seite angesichts des Vormarsches der russischen Streitkräfte im Osten und Süden des Landes ein Interesse an einer Waffenruhe hatte; Russland hat in dieser Zeit über eine Umgruppierung seiner Verbände nachgedacht.
Auch wenn es eine Wiederholung ist: Dann gab es die Enthüllungen über russische Kriegsverbrechen beim Abzug der Armee aus dem Großraum Kiew, es gab die Erfahrung, dass Russlands Verhandlungsdelegation in Belarus nur drittrangig besetzt war und es gab die Erkenntnis, dass man den russischen Eindringlingen erfolgreichen Widerstand entgegensetzen konnte. Die vor diesem Hintergrund ansteigenden Zusagen westlicher Saaten, der Ukraine, die Waffen zu liefern, die sie für die Selbstverteidigung braucht, tat ein Übriges dazu , dass die ukrainische Führung und die mit ihr verbündete Staatenallianz, Verhandlungen wenig Chancen einräumte und auf stärkere militärische Gegenwehr setzte.
Grundsätzlich scheint es mir so zu sein, dass all diejenigen, die die Schuld für den Verhandlungsabbruch der ukrainischen Seite bzw. dem Westen zuschreiben, den springenden Punkt übersehen: Die Weigerung Russlands, seine Aggression zu beenden, die Truppen zurückzuziehen und das Recht der Ukraine auf territoriale Unversehrtheit anzuerkennen, ist bis heute die Klippe für einen fairen Verhandlungsprozess. Genau dies musste auch der italienische Ministerpräsident Draghi bezüglich der italienischen Friedensinitiative vom Mai 2022 feststellen (bei Krause nachzulesen). Er erklärte, Gespräche mit Putin seien „Zeitverschwendung“, weil die russische Führung nicht von ihrer Position abrücke, dass die Krim und der Donbass nicht Teil der Ukraine seien. Die Formel des Kreml lautet in zahllosen Erklärungen seitdem: Friedensverhandlungen Ja, aber zu unseren Bedingungen. Und: Von den Ergebnissen unserer Militäroperation (Annexion) rücken wir nicht ab. Worüber soll da verhandelt werden? Dieser Sachverhalt gilt bis heute. Ein Friede, der nicht die Grundlagen des Völkerrechts beachtet und stattdessen das Recht der Stärkeren bestätigt, lädt an zu weiteren Angriffskriegen. Ohne die eindeutig erkennbare Bereitschaft, die Truppen zurückzuziehen und die Annexionen zu widerrufen, wird es schwierig sein, zu Verhandlungen zu kommen. Appelle zu bedingungslosen Friedensverhandlungen werden aller Voraussicht nach ins Leere gehen. Was wiederum nicht bedeutet, dass es nicht vermehrte diplomatische Bemühungen geben sollte, wie zuletzt von Jürgen Habermas (Habermas 2023) zu Recht angemahnt.
Auch sollte grundsätzlich bedacht werden: Niemand mehr als die Ukrainer*innen, die die Hauptfolgen des Krieges zu tragen haben, sind an einer schnellen Beendigung des Krieges interessiert. Warum sollte man sich Gespräche über einen raschen Friedensschluss verweigern? Aller- dings hat man der russischen Seite nicht grundlos misstraut und man hat nüchtern die Bedingungen für einen Verhandlungsfrieden abgeschätzt. Der ukrainische Schriftsteller Serhij Zhadan hat dies in seiner Rede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels eindrucksvoll dargelegt (Zhadan 2022).
Literatur
Links zum Artikel
Titelbild: Terry Brock CC BY-NC 2.0 via FlickR
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die gesamte Entwicklung mach mich so traurig;(
Ludwig