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Von Jürgen Klute
Als am 7. Oktober 2023 die Hamas ihren Terroranschlag gegen israelische Bürgerinnen und Bürger startete, konnte niemand absehen, welche Folgen dieser nach Opferzahlen schlimmste Terroranschlag seit dem Ende der Shoa gegen Jüdinnen und Juden rund 14 Monate später zeigen würde. Die wegen ihrer Härte und unklaren politischen Ziele mittlerweile international heftig kritisierte militärische Antwort der israelischen Regierung auf den Anschlag vom 7. Oktober hat zum einen zu zigtausenden Toten und Verletzten – nicht nur innerhalb der Hamas – sowie zu flächendeckenden Verwüstungen in Gaza geführt. Zum anderen wurde sowohl die vom Iran kontrollierte und finanzierte Hisbollah durch die Israelische Armee und den israelischen Geheimdienst massiv geschwächt als auch der Iran selbst.
Das hat wiederum die Voraussetzung dafür geschaffen, dass nun die syrische Diktatur, die eine der gegenwärtig brutalsten weltweit war, zu Fall gebracht werden konnte. Der Iran und die Hisbollah waren infolge der israelischen Angriffe zu geschwächt, um Assad erneut zur Hilfe zu kommen. Und Russland, der andere Verbündete Assads, hat sich durch den Krieg gegen die Ukraine selbst soweit geschwächt, dass es ebenfalls keine Unterstützung mehr leisten konnte, Assad fallen ließ und sich sogar aus Syrien zurückgezogen hat. Syrien war der einzige Stützpunkt Russlands im Mittelmeerraum und zugleich Drehscheibe für seine Terroraktivitäten in Afrika.
Seit dem Sturz Assads haben sich als Spätfolge des Terroranschlags der Hamas vom 7. Oktober 2023 kurz vor Jahresende 2024 die Machtverhältnisse im Mittleren Osten grundlegend verschoben. Israel und die Türkei scheinen vorerst die Staaten in der Region zu sein, die von der aktuellen Machtverschiebung am stärksten profitieren.
Diese politischen Veränderungen haben das Potential, langfristig zu einer Stabilisierung der Region zu führen, sofern die jetzigen Chancen dazu genutzt werden. Das ist dringend nötig angesichts des aus klimapolitischen Gründen nötigen Ausstiegs aus der Nutzung fossiler Energieträger, von denen Teile der Region bisher ökonomisch abhängen. Vor allem die EU, die eine Energie- und Verkehrswende vorantreiben will, muss ein Interesse an einer politischen Stabilisierung der Region haben. Bisher steht die EU aber eher als Zuschauerin neben dem Spielfeld, statt sich aktiv an der Neustrukturierung der Region zu beteiligen un die Chancen für eine langfristige politische Stabilisierung zu nutzen.
Das liegt unter anderem an Frankreich und Deutschland als den beiden führenden EU-Mitgliedsstaaten. Frankreich steckt in einer massiven Regierungskrise. Deutschland ist mit vorgezogenen Neuwahlen im Februar 2025 beschäftigt. Zudem fehlen Deutschland außenpolitische Ziele und Strategien, die es in die EU-Außenpolitik einbringen könnte. Ob das neue Führungsteam der EU aus EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, dem ständigen Ratspräsidenten António Costa und der EU-Außenbeauftragten Kaja Kallas im Blick auf die Veränderungen im Mittleren Osten neue Ideen und Strategien entwickelt, muss sich noch zeigen.
Derweil wird in Deutschland und Österreich darüber diskutiert, wie man die Syrerinnen und Syrer, die vor rund 10 Jahren vor dem Bürgerkrieg in ihrem Herkunftsland nach Europa geflohen sind, möglichst schnell wieder zurückschicken kann nach Syrien, da Assad dort nicht mehr sein Unwesen treibt. Dabei sind zumindest in Deutschland viele der Syrerinnen und Syrer längst in die deutsche Gesellschaft integriert und arbeiten in wichtigen Berufen. Sie zurück zuschicken, würde in der deutschen Wirtschaft Lücken aufreißen, die kurzfristig nicht zu schließen sind. Vorausschauende Politik würde es im Sinne internationalen Rechts den ehemaligen syrischen Flüchtlingen freistellen zu bleiben oder zurückzugehen und mit ihnen gemeinsam eine politische, kulturelle und ökonomische Brücke zwischen Syrien und Deutschland sowie der EU zu entwickeln.
Ein weiterer kritischer Punkt ist die Situation der Kurden in Nordsyrien/Rojava. Die türkische Regierung will unter den veränderten Rahmenbedingungen unbedingt die politische Rolle der Kurden in Nordsyrien schwächen. Dementsprechend greift sie die in Nordsyrien lebenden Kurden verstärkt militärisch an. Von kurdischer Seite wird erwartet, dass die Türkei die Nordsyrische Grenzstadt Kobanê, die vor rund 10 Jahren von kurdischen Kräften in Zusammenarbeit mit den USA erfolgreich gegen den IS verteidigt wurde, angreifen wird.
Die Europäische Union hüllt sich dazu bisher in Schweigen. Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock (Die Grünen) hat laut dem deutschen Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL bei einem Gespräch mit dem türkischen Außenminister Hakan Fidan am 20. Dezember 2024 in Ankara gefordert, dass die kurdischen Selbstverteidigungskräfte und Anti-IS-Milizen in Nordsyrien ihre Waffen niederlegen sollen. Offensichtlich ist sich die deutsche Außenministerin nicht darüber im Klaren, dass sie mit diesem Kotau vor dem türkischen Außenminister Öl ins Feuer schüttet. Baerbocks Position passt allerdings zu den umstrittenen deutschen Waffenlieferungen an die Türkei, die in 2024 seit Jahren erstmals wieder angestiegen sind, wie das deutsche Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL bereits am 6. Oktober 2024 berichtete.
Angesichts der türkischen Vorbereitungen zu einem Angriff auf Kobanê wird die kurdische Seite der Forderung der deutschen Außenministerin nicht zustimmen können. Das türkische Vorgehen zielt letztlich auf eine Zerstörung der kurdischen Selbstverwaltung, die in den letzten Jahren in Nordsyrien/Rojava aufgebaut wurde. Das läuft einer politischen Stabilisierung der gesamten Region entgegen.
Nötig wäre es derzeit, den Druck auf die türkische Regierung deutlich zu erhöhen, damit sie ihr militärisches Vorgehen gegen die Kurden in Nordsyrien (und auch im Nordirak), die genau so völkerrechtswidrig sind wie der russische Angriff auf die Ukraine, unverzüglich einstellt.
Kürzlich brachte der Vorsitzende der rechtsnationalistischen türkischen Partei MHP, Devlet Bahçeli, überraschend den Vorschlag in die Diskussion, Abdullah Öcalan unter der Bedingung aus der Haft zu entlassen, dass die PKK die Waffen niederlegt (vgl. meine Kolumne „Ein Wendepunkt für den Frieden zwischen der Türkei und den Kurden?“ dazu). Ein solcher Vorschlag wäre allerdings nur dann realistisch, wenn es gleichzeitig von türkischer Seite Garantien gäbe, jedes militärische Vorgehen gegen Kurden einzustellen, in der Türkei inhaftierte kurdische PolitikerInnen und JournalistInnen freizulassen und den Kurden zugleich Autonomierechte im Rahmen des bestehenden türkischen Staates zu garantieren, wie es die Kurden fordern.
Sollte die deutsche Außenministerin an diesen Vorschlag des MHP-Vorsitzenden angeknüpft haben wollen, dann hätte sie ihre Forderung vom 20. Dezember jedoch mit entsprechenden Garantieforderungen gegenüber den Kurden an die türkische Regierung verknüpfen müssen.
In dem im Februar 2024 vom „Center for strategic and international Studies“ (CSIS) in Washington veröffentlichten Report „Global Terrorism Threat Assessment 2024“ heißt es auf Seite 80 (vgl. dazu meine Kolumne „Ist die PKK eine Terrororganisation?“):
„Die türkische Regierung hat ihre Kampagne gegen kurdische Gruppen über die Landesgrenzen hinaus ausgeweitet. Die Zahl der Angriffe in der Türkei ist seit 2020 zurückgegangen, aber die Gewalt zwischen türkischen Streitkräften und kurdischen bewaffneten Gruppen außerhalb der Türkei hat im gleichen Zeitraum drastisch zugenommen. Der Konflikt zwischen der Türkei und der PKK ist weiterhin ein Grund für die regionale Instabilität und indirekt auch für den Terrorismus im weiteren Nahen Osten. Die Türkei hat ihre Rhetorik gegen kurdische nationalistische Gruppen, einschließlich der Volksverteidigungseinheiten, die einen beträchtlichen Teil der von den USA unterstützten Syrischen Verteidigungskräfte (SDF) ausmachen, verschärft.“
Weiterhin schreiben die Autoren:
„Terroristische Anschläge stellen innerhalb der Türkei eine geringere Bedrohung dar, obwohl der türkisch-kurdische Konflikt nach wie vor eine bedeutende Ursache für Gewalt und Instabilität in der gesamten Region ist. […] Dieser Rückgang der terroristischen Gewalt in der Türkei geht mit einer erheblichen Zunahme der Konflikte zwischen der Türkei und der PKK im Irak einher. […] Die PKK stellt für die westlichen Länder mit Ausnahme der Türkei keine direkte Bedrohung dar. […] Eine Bedrohung der territorialen Integrität der Türkei durch die PKK ist ebenfalls zweifelhaft. Die Gruppe ist nicht in der Lage, das türkische Militär direkt herauszufordern, wie bei den türkischen Interventionen in Nordsyrien und im Nordwesten des Irak immer wieder deutlich geworden ist. Die PKK akzeptiert offiziell die derzeitigen Grenzen der Türkei und hat ihre Forderungen nach Unabhängigkeit durch Forderungen nach mehr Selbstbestimmung ersetzt. Gegenwärtig vertritt die PKK eine Ideologie, die Öcalan als „demokratischen Konföderalismus“ bezeichnet und die Selbstbestimmung anstrebt, „ohne die bestehenden politischen Grenzen in Frage zu stellen“[65]. Die öffentlichen Erklärungen der PKK lassen zumindest darauf schließen, dass die Gruppe keine nennenswerte Bedrohung der territorialen Integrität der Türkei darstellt.“
Die Schlussfolgerungen der AutorInnen des CSIS-Report sind deutlich: Nicht die Kurden gefährden die Stabilität des Mittleren Osten, sondern die Machtinteressen der türkischen Regierung in der Region. Dementsprechend gilt es, seitens der Europäischen Union und der Nato den Druck auf die türkische Regierung zu erhöhen, damit sie ihre völkerrechtswidrigen militärischen Angriffe auf die Kurden in der Türkei wie auch in ihren südlichen Nachbarländern einstellt und sich einer politischen Lösung öffnet. Gleichzeitig sollte die deutsche Bundesregierung ihre konzeptlosen außenpolitischen Querschüsse einstellen (ebenso wie ihre umstrittenen Waffenlieferungen an die Türkei) und sich mit der EU-Außenbeauftragten abstimmen, um das Zeitfenster, dass sich unerwartet geöffnet hat, für eine langfristige politische Stabilisierung des Mittleren Osten zu nutzen. Das ist sowohl im Interesse der Menschen im Mittleren Osten als auch im Interesse der Europäischen Union und ihrem Bemühen um politische Stabilität und einen Stopp der Klimaerwärmung.
Siehe auch:
Titelbild: Duncan Cumming CC BY-NC 2.0 DEED via FlickR
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