Von Frederik D. Tunnat
Nach den drei, für Deutschlands Demokratie desaströsen Landtagswahlen in den Neuen Bundesländern, sind wir landesweit auf der Suche nach den Ursachen und Verantwortlichen.
Ich behaupte, Hauptursache für das Anschwellen der Extremen am rechten wie linken Rand sind in erster Linie wir Deutsche selbst. Es fällt auf, dass uns Deutschen, im Vergleich mit anderen Nationen, etwas sehr Entscheidendes vollkommen abgeht: das nicht vorhandene gemeinsame nationale Selbstverständnis. In diesem Zusammenhang sollte uns nicht trösten, dass eines, wenn nicht das klassische Einwanderungsland der Gegenwart, die USA, momentan, ebenfalls erhebliche Probleme haben, ein gemeinsames nationales Selbstverständnis zu definieren und zu artikulieren. Donald Trump und die ihn tragenden Republikaner haben den bis vor ein, zwei Jahrzehnten existierenden Grundkonsens ihrer Nation in Fragen des nationalen Selbstverständnisses verloren, nachdem die Republikaner erst mittels der sog. „Tea-Party“ Bewegung und schließlich durch Donald Trump den nationalen Konsens und damit das nationale Selbstverständnis der USA aufgekündigt haben, ja es aktiv bekämpfen.
Nahezu identisch, wie aktuell bei uns in Deutschland, brach der Konflikt um das nationale Selbstverständnis in den USA wegen Problemen in der Einwanderungspolitik aus. Zur Zeit meiner Geburt, Anfang der 1950er Jahre, betrug die Bevölkerung der USA rund 152 Millionen Menschen; gegenwärtig, also zu Beginn der 2020er Jahre, sind es rund 340 Millionen. Das zeigt, wir haben es mit einer Bevölkerungszunahme von weit über 100 Prozent zu tun, binnen 70 Jahren. Zum Vergleich: zwischen 1830 bis 1900 wuchs die Bevölkerung der USA von 13 Millionen auf 76 Millionen, was einem Zuwachs von satten 580 Prozent binnen vergleichbarer 70 Jahre bedeutet. Der entscheidende Unterschied zwischen den beiden Einwanderungsperioden (1830-1900) und (1950-2020) liegt vorwiegend in der Zusammensetzung der Einwanderer. Im 19. Jahrhundert dominierten Europäer den Einwanderungsprozess, man könnte salopp formuliert sagen: entfernte Verwandte der vorhandenen Bevölkerung. Heute hingegen wird die Einwanderung in die USA von Latinos aus Mittel- und Südamerika sowie Asiaten dominiert. Dies hat dazu geführt, dass die ursprünglich dominierende Bevölkerungsgruppe der USA, eingewanderte Europäer, inzwischen nur noch knapp 58% der Bevölkerung ausmachen, während die Latinos auf knapp 20%, Afroamerikaner auf 14% angewachsen sind. Hinzu kommen über 6% Asiaten. Immerhin dominiert in den USA noch immer die christliche Religion: ca. 74% der Amerikaner gehören zur protestantischen oder katholischen Kirche. Die Juden der USA stellen mit über 2% die zweitgrößte Religionsgruppe der USA, während nicht einmal 1% der Amerikaner Muslims sind.
Bei uns in Deutschland ergibt sich ein völlig anderes Bild. Zu Beginn der 1950er Jahre zählte das kriegsgebeutelte Deutschland knapp 70 Millionen Einwohner. 70 Jahre später, zu Beginn der 2020er Jahre hatten wir knapp 84 Millionen Einwohner. Die rein rechnerische Zunahme binnen 70 Jahren um 15 Millionen Einwohner bedeutet gerade mal gut 20% Zuwachs. Doch wie stets, im Zusammenhang mit Statistik, sind es die Erläuterungen und Interpretation, die den statistischen Daten ihre teils eruptive, politische Dimension verleihen. Die Zahl von 15 Millionen Bevölkerungswachstum erhält eine völlig andere Bedeutung, berücksichtigt man die Daten des Ausländerzentralregisters der Bundesrepublik. Danach lebten unter den 77 Millionen Deutschen im Jahr 1967 1,8 Millionen Ausländer, oder 2,3%. 2023 waren von 84 Millionen in Deutschland lebenden Menschen 14 Millionen Ausländer, weitere 10 Millionen besitzen zwar die deutsche Staatsangehörigkeit, sind jedoch Einwanderer. Mit anderen Worten: 2023 waren von 84 Millionen Einwohnern noch 54 Millionen Deutsche, 30 Millionen Einwanderer und Ausländer. Damit hat sich der Anteil der Ausländer im Land binnen 55 Jahren um 800 Prozent erhöht. Nimmt man die Eingewanderten mit deutschem Pass aber fast immer doppelter Staatsangehörigkeit hinzu, beträgt die Erhöhung nahezu 1600 Prozent.
Das sind statistische Daten, die zeigen, dass wir in Deutschland teilweise massivere demografische Veränderungen erlebten und erleben, als die durch ihre Einwanderungsproblematik aufgeheizten USA. Beziehen wir den religiösen Aspekt ein, verdeutlichen sich die Unterschiede zur Einwanderung in den USA und deren nationales Selbstverständnis nochmals beträchtlich. In Deutschland sind aktuell noch ganze 45 Prozent der Einwohner Mitglieder einer christlichen Religion, 46 Prozent gelten als religionslos; dafür gibt es 6% Muslims, während Juden mit marginalen 0,23% praktisch religiös wie bevölkerungsmäßig keine Rolle mehr spielen.
Die angeführten statistischen Daten verdeutlichen, was und weshalb die Einwanderungsproblematik unser Land aktuell umtreibt. Die Zahlen liefern zudem eine mögliche Erklärung für das Anschwellen einwanderungsfeindlicher Parteien und Gruppen.
Eingangs erwähnte ich das mangelnde, in Deutschland und seiner Gesellschaft nicht vorhandene nationale Selbstverständnis. Wie elementar ein derartiges Selbstverständnis für eine Nation ist, wird an den akuten Problemen der USA sehr deutlich. Solange ein nationaler Grundkonsens bestand, waren die USA nahezu mühelos in der Lage, die einströmenden Einwanderer aufzunehmen und in ihrer Gesellschaft zu integrieren. Der Einwanderungserfolg der USA über die längste Zeit ihrer Existenz ist auf ihre weitgehend erfolgreiche Integration der Einwanderer zurückzuführen. So steuerten die USA, ähnlich wie die anderen klassischen Einwanderungsländer Australien und Kanada, seit Langem ihre Einwanderung gezielt und bedarfsorientiert, etwa mit einem Punktesystem, um die kulturelle und wirtschaftliche Integration ihrer Einwanderer zu regeln und zu begünstigen.
Die Aspekte erfolgreicher sozialer Integration von Einwanderern umfassen vor allem die Landessprache, Bildung, Arbeitsmarkt, sowie die Übernahme der gesellschaftlich-politischen Werte sowie die Identifikation der Einwanderer mit dem Einwanderungsland. Exakt hier liegt unser aller, insbesondere jedoch das Versagen unserer Regierung samt der sie tragenden politischen Parteien! Doch was will man von einer Bundesregierung erwarten, die unter Kanzler Kohl noch 1993 erklärte: „daß die Bundesrepublik Deutschland kein Einwanderungsland ist und auch nicht werden soll“. Es war dieselbe Regierung, die uns Bürger bezüglich unserer Renten systematisch belog. Solange Kohl in der Regierungsverantwortung war, posaunte Minister Blüm stets lauthals: „Die Rente ist sicher“! Was für ein Hohn, 25 Jahre später, für Millionen von Armutsrentnern in Deutschland.
Obwohl es ebenfalls eine CDU Kanzlerin war, die 2015, vor knapp zehn Jahren über 1,5 Millionen Einwanderer auf einen Schlag ins Land ließ und lauthals in Kohl-Blümscher Manie posaunte: „Wir schaffen das“!, tat sie selbst, ihre Regierung und die Parteien ihrer Koalition – als da waren – CSU, FDP, SPD – rein gar nicht, Null Komma Nichts, in den Jahren nach 2015, um die Gesetze der Bundesrepublik an die massiv erweiterte Einwanderung anzupassen.
Ich selbst gehörte zu den Befürwortern, die damaligen Menschenmassen ins Land zu lassen und aufzunehmen. Doch bereits damals warnte ich in einem Artikel, das damit ins Land geholte Problem in typisch Merkel’scher Art einfach aussitzen zu wollen. Ich mahnte umgehende administrative und gesetzliche Maßnahmen an, um die Integration der Menschenmassen sicherzustellen, nicht die Fehler der unseligen „Gastarbeiter“- Problematik fortzuschreiben oder zu wiederholen. Doch geschehen ist seither wenig bis nichts. Deutschland lässt Einwanderer weiter völlig unsystematisch und ungelenkt ins Land. Es verteilt die Probleme regional und überlässt es untergeordneten, überforderten Behörden und dem freiwilligen Engagement der Bürger, mit den zahlreichen Problemen einer ungesteuerten, unkoordinierten Einwanderung fertig zu werden.
Da wir als Deutsche nach 1945, schmerzlicherweise selbst nach der Wiedervereinigung 1990, nicht in der Lage waren, uns kollektiv mit unserer düsteren Vergangenheit auseinanderzusetzen, noch willens und bereits waren – es war erneut Kanzler Kohl, der den vom Grundgesetz vorgegebenen Vereinigungsprozess aushebelte und somit die gesellschaftlich-inhaltliche-soziale und politische Auseinandersetzung der beiden unterschiedlichen gesellschaftlichen Systeme auf deutschem Boden unterband – uns eine neue, gemeinsame Verfassung, ein grundsätzlicher Mosaikstein für nationales Selbstverständnis, zu geben, auf das tatsächlich „zusammen gewachsen wäre, was zusammen gehört“, wie es Willy Brandt formulierte. So haben wir, da uns Kanzler wie Kohl und Merkel wie dumme, kleine Kinder behandelten, denen man keinerlei Entscheidung überlassen darf und kann, nun den „Salat“ in Form protestierender Wähler, vornehmlich in den neuen Bundesländern – doch es gibt sie zuhauf auch im Westen – die zumindest spüren, dass da Vieles in Unordnung ist, in Sachen Einwanderung und Integration, doch natürlich ist es nicht die Aufgabe des einzelnen Bürgers, Lösungen, Gesetze und Regeln zu finden, sowie eine breite politische Diskussion darüber einzuleiten. Das ist primär die Aufgabe unserer Regierenden und unserer Parlamente. Dass sie dieser, ihrer elementaren Aufgabe, nicht, zumindest nicht im notwendigen Maß und in der angemessenen Zeit nachgekommen sind, ist unbestreitbar und zeigt sich u.a. in den verzweifelten Wahlprotesten.
Dass die dabei Gewählten, vielfach verfassungs- und demokratiefeindlichen Abgeordnete eine völlig andere Agenda verfolgen, nämlich, statt die Einwanderungsproblematik im Sinne ihrer Wähler und unseres Landes positiv zu lösen, ihr Mandat nutzen, um unseren Staat, seine Institutionen und sein politisches Modell – die Demokratie – zu zerstören, um erneut eine Diktatur einzuführen, hat sich vielen der Protestwähler noch nicht erschlossen.
Die einlullenden Jahrzehnte Kohl’scher wie Merkel’scher Politik entfalten aktuell ihre ganze destruktive Wirkung. Wie sich zeigt, ist eine ideologiebasierte, klientelorientierte Politik wahrlich keine Alternative zu Kohl und Merkel. Doch da der gesellschaftliche wie politische Konsens in Deutschland bereits derart fragmentiert ist, so stark, dass der erforderliche gesamtgesellschaftliche, nationale Grundkonsens in Sachen Selbstverständnis als Nation, wie einer gemeinsam getragenen, angepassten Asyl- und Einwanderungspolitik ein frommer Wunsch bleibt, müssen wir wohl erst auf einen erneuten nationalen Notstand zusteuern. Dass dieser aktuell nicht allzu fern ist, machen die derzeitigen wirtschaftlichen, sozialen, gesellschaftlichen wie politischen Probleme deutlich, die, zusammengemengt, ein äußert explosives gesellschaftliches Klima schaffen, das förmlich nach einer Art von Explosion schreit. Bleibt abzuwarten wann, wie und woran sich die explosive Stimmung letztlich entzünden wird.
Eine Nation, die nicht mehr in der Lage ist, ihre Post termingerecht zu befördern, deren Infrastruktur zerbröselt, deren öffentlicher Verkehr am Zusammenbrechen ist, deren Politiker in Wolkenkuckucksheimen statt in der Realität leben, sind vermutlich nicht in der Lage, existentielle Probleme zu erkennen, zu benennen und gemeinsam zu lösen. Aus diesem Grund lande ich derzeit, nicht nur wegen der verfehlten Problemlösung in Sachen Einwanderung häufig bei Heinrich Hesse:
„Denk ich an Deutschland in der Nacht,
Dann bin ich um den Schlaf gebracht,
Ich kann nicht mehr die Augen schließen.
Und meine heißen Tränen fließen“.
Titelbild: Jürgen Klute
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