Von Frederik D. Tunnat

Hätten nicht ein paar Zeitungen das Datum der zweiten Begründung eines einheitlichen Deutschlands, am 18. Januar 1871, zum Anlass genommen, daran mit einem Artikel zu erinnern, dieser Tag wäre dem Verschweigen und Negieren des offiziellen politischen Deutschland anheimgefallen.

Kompliment an unsere Befreier des Jahres 1945! Anhand der Reaktion der Bevölkerung, wie der Politiker Deutschlands auf besagte Reichsgründung, war wundervoll abzulesen, wie umfassend uns Deutschen die eigene Vergangenheit, und damit nahezu jegliche nationale Tradition nach dem Ende des Dritten Reichs „ausgetrieben“ wurde.

Statt sich an ein für die Deutschen und unser modernes Staatswesen einschneidendes, historisch wie politisch und gesellschaftlich bedeutendes Ereignis in feierlichem, staatlichem Rahmen zu erinnern, versuchen wir dieses bedeutende Datum entweder einfach unter den Tisch zu kehren, oder, schlimmer noch, uns davon in vorauseilendem Gehorsam gegenüber den möglichen oder tatsächlichen Befindlichkeiten anderer, europäischer Nationen – unserer heutigen europäischen Freunde und Partner – möglichst despektierlich und kritisch zu distanzieren. Das Hohenzollern-Bashing ist ja derzeit ohnehin gerade mal wieder en vogue – nicht völlig grundlos dem anmaßenden Verhalten des derzeitigen Chefs des Hauses Hohenzollern geschuldet. Also genügt Vielen bereits der Verweis darauf, dass mit besagter Reichsgründung – es war das zweite deutsche Reich, auf das das von Hitler propagierte unselige „Drittte Reich“ folgte, jene entsetzliche Phase Deutschlands, in der wir als Nation und Bürger für zwölf lange Jahre mehrheitlich jeglichen Anstand, Moral und Gewissen verloren, indem wir uns von einem österreichischen Immigranten namens Adolf Hitler gegen eine kleine, aber damals für unseren Staat bedeutende und kulturell wie wirtschaftlich und politisch ungemein positiv einflussreiche Bevölkerungsminderheit aufhetzen ließen: die deutschen Juden, die seit der Liberalisierung vornehmlich in Preußen, während des 19. Jahrhunderts, zu einem integralen Bestandteil der deutschen Kultur – Malerei, Literatur, Mäzenatentum – aber auch zu überaus bedeutenden Säulen der Wissenschaft, der Unternehmerschaft und nicht zuletzt der Politik geworden waren. Sie haben sich so unendlich vielfältig um Deutschland, seine Kultur, seine Wissenschaft, seine Wirtschaft und Politik verdient gemacht, dass die entsetzliche Lücke, die das Judentum Deutschlands in Folge des Holocaust hinterlassen hat, eine bis heute offene Wunde darstellt. Mich schmerzt, zu sehen, welch enormen Beitrag die wenigen deutschen Juden, denen die Flucht vor der Vernichtung durch unsere Vorfahren gelang, in ihren neuen Heimatländern – vornehmlich dem Vereinigten Königreich und den USA sowie im Staat Israel – für deren Wissenschaft, Wirtschaft, Kultur und Literatur seither leisten. Um wieviel reicher und vielfältiger hätte sich Deutschland ohne den „Betriebsunfall“ des Nationalsozialismus, des Dritten Reichs, gemeinsam mit unseren ermordeten jüdischen Mitbürgern entwickelt. Einfach nicht auszudenken.

Übrigens begrüßte ein beträchtlicher Teil der damaligen deutsch-jüdischen Bevölkerung unsere neue, die sog. kleindeutsche Reichsgründung von 1871. Zwar wäre den deutschen Juden, schon wegen ihrer zahlreichen Glaubensbrüder im Osten Europas, die „großdeutsche“ Reichsgründung lieber gewesen, doch als Realisten und Geschäftsleute begrüßten sie jegliche Form von staatlicher Vereinigung, da dies, wie die folgenden rund 45 Jahre des zweiten Deutschen Reichs bewiesen, zu einer nie zuvor gekannten Blüte der Wirtschaft, Kultur, Wissenschaft und des Staatswesens führte – außer dem Wehrmutstropfen des preußischen Militarismus, der das junge Staatsgebilde schließlich zum Einsturz brachte.

Dabei war das Zustandekommen besagter Reichsgründung, am 18. Januar 1871, alles andere als einfach und komplikationslos gewesen. Die Zertrümmerung des ersten Deutschen Reichs, 1806, durch den französischen Kaiser Napoleon I., hatte für die Deutschen überhaupt erst nach 1815 die Notwendigkeit eröffnet, sich in einem neuen Staatswesen national zu organisieren.

Die Sieger über Napoleon, die damaligen Alliierten, der Zar Russlands, der Kaiser von Österreich, sowie der König von Preußen und die von diesen abhängigen deutschen Kleinstaaten, hatten sich auf Druck wie durch starke Beeinflussung durch den österreichischen Reichskanzler Fürst Metternich dafür entschieden, das Deutsche Reich nicht neu zu errichten, sondern das vormalige Deutschland, zu dem ein großer Teil des österreich-ungarischen Reichs gehörte, in eine Art politischen Winterschlaf zu schicken. Die Ereignisse der Revolution von 1848/49, die die restaurative Politik und Kanzler Metternich hinwegfegte, wurden erneut nicht politisch, im Einklang mit der Bevölkerung gelöst, sondern erneut durch die Truppen der Monarchen. Dennoch war nach 1848/49 der politische Druck der durch das Militär unterdrückten Bevölkerung Deutschlands so stark, dass die Politiker an den Höfen zu Wien und Potsdam begannen, sich mit der erneuten Gründung des Deutschen Reichs zu befassen. Allerdings stand einer politischen Lösung der sog. Dualismus der beiden führenden deutschen Staaten – Österreich und Preußen – im Wege. Die Habsburger auf dem Kaiserthron Österreichs wollten die „Emporkömmlinge“ auf dem preußischen Königsthron, die Hohenzollern, die ihre politische Karriere als treue Beamte der Habsburger begonnen hatten – als Burggrafen von Nürnberg – nicht als gleichwertigen Partner um den künftigen Thron Deutschlands akzeptieren, was die Hohenzollern als „underdogs“ regelrecht zwang, eine politische Lösung zu finden, die Österreich quasi aus dem künftigen Deutschland ausgrenzte, ausschloss.

Damit begann der märchenhafte politische Aufstieg des zunächst relativ unbedeutenden preußischen Grundbesitzers und Landadligen Otto von Bismarck. Dieser hatte als Diplomat am Frankfurter Reichstag, dem „Parlament“ des Deutschen Bundes, der seit 1815 die Funktion des Deutschen Reichs übernommen hatte, sowie als preußischer Gesandter am französischen Hof, den zu Bismarcks Zeit ein Neffe Napoleon I., Napoleon III. als neuerlicher Kaiser repräsentierte, politische Erfahrungen gesammelt, die ihm in seiner neuen Funktion als Erster Minister bzw. Premierminister Preußens zu Gute kamen. Bismarck sorgte mit Hilfe zweier Kriege, die Preußen gegen Österreich gewann, dafür, den einzig ebenbürtigen politischen Konkurrenten um den Thron eines neu vereinigten Deutschlands quasi vor die Tür des Reichs zu setzen. Damit waren – bis auf zwei äußerst heikle Aspekte – die Voraussetzungen geschaffen, um zur Gründung eines neuen Deutschen Reichs zu schreiten, in diesem Fall, ohne Österreich, in Form der „kleindeutschen“ Version.

Doch bevor die Reichsgründung erfolgen konnte, hatte Bismarck besagte zwei Probleme zu lösen: a) den einzigen, einer neuen Reichsgründung feindlich gegenüberstehenden ausländischen Gegner zu neutralisieren: sprich das französische Kaiserreich dazu zu bewegen, der beabsichtigten Staatsgründung zuzustimmen, statt diese per Krieg zu vereiteln. Dazu sollte man sich in Erinnerung rufen, dass es seit der Amtszeit Kardinal Richelieus als Kanzler Frankreichs die oberste Maxime der französischen Politik war, das Deutsche Reich zu schwächen und den Rhein als „natürliche“ Staatsgrenze festzuschreiben. Napoleon hatte all dies, was die Kardinäle Richelieu und Mazarin, sowie die französischen Könige, einschließlich des „Sonnen-Königs“ Ludwig XIV. nicht geschafft hatten, vollbracht und vollendet: Frankreichs Staatsgrenze bis an den Rhein ausgedehnt, sowie das Deutsche Reich zerschlagen.

Unsere französischen Freunde, unsere heutigen EU-Partner, werden mir an dieser Stelle gestatten, auf einen wichtigen Umstand hinzuweisen: die Entstehung der deutsch-französischen Rivalität, die schließlich in deutsch-französische Feindschaft mit gegenseitiger Besetzung des jeweils anderen Staatsgebiets, gegenseitiger Demütigung und letztlich gegenseitigem nationalem Hass gipfelte, bevor, als Lehre aus dem Zweiten Weltkrieg, die damaligen Staatslenker, General de Gaulle und Kanzler Adenauer die deutsch-französische Freundschaft initiierten, die seither innerhalb der EWG und heute innerhalb der EU gepflegt und mehr oder weniger gut gehegt wird.

Besagte Rivalität ging seit dem frühen Mittelalter stets von Frankreich aus, das sich als einzig legitimen Erben des fränkischen Königs und Kaisers Karl des Großen betrachtete, während die deutschen Könige und Kaiser sich ihrerseits als Karls legitime Erben sahen, was bereits im Namen ihres Reiches zum Ausdruck kam: Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation. Denn das erste neuzeitliche Heilige Römische Reich, nach dem Untergang Roms 476, das Fränkisch-Europäische Karls des Großen, war Vorbild für die deutschen Könige und Kaiser, und das mittelalterliche Deutsche Reich umfasste einige Jahrhunderte lang ca. 80% des ehemals fränkischen Reichs Karls.

Frankreich, um seine Idee von der Rheingrenze, als östlicher Grenze seines Landes umzusetzen, nutzte viele Jahrhunderte lang den deutschen Partikularismus, die staatliche Zersplitterung wie die Schwäche zahlreicher Kaiser, um mehr und mehr ehemals zum Deutschen Reich gehörige Gebiete mittels kriegerischer Auseinandersetzungen und anschließender diktierter Friedensverträge zu annektieren und sich einzuverleiben. Dass ein solches Verhalten – über Jahrhunderte durchgehalten – sowie zur Zeit Ludwig des XIV. wie schließlich unter Napoleon I. exzessiv ausgeweitet, nicht gerade fröhliche Zustimmung bei den davon betroffenen Deutschen auslöste, dürfte heute jedermann bewusst sein.

Speziell die Art und Weise, wie Frankreich, in Zusammenarbeit mit Schweden, 1648 den Deutschen und ihrem damals in einem Dreißigjährigem Krieg zu 70% zerstörten Land, mit einer um die Hälfte reduzierten Bevölkerung den Westfälischen Frieden diktierte, hinterließ für Jahrhunderte und viele Generationen „böses Blut“ bei den Besiegten und Düpierten. Obwohl zwischen 1648 bis 1806, also über 150 Jahre lang noch einige, wie es Hitler später nannte „Sieg-Frieden“ erfolgten, d.h. Eroberungs- und Zerstörungskriege französischer Truppen in Teilen Deutschlands, mit anschließenden, erniedrigenden und mit immer neuen Gebietsverlusten verbundenen Friedensverträgen. Dass solche „Friedens-Diktate“ nicht dazu angetan sind, die Besiegten und dergestalt Erniedrigten zu Freunden der Sieger zu machen, hat sich erst nach Ende des Zweiten Weltkriegs herum gesprochen.

Wie gesagt, nicht von Deutschland oder „den Deutschen“ ging über viele Jahrhunderte kriegerische Aggression gegenüber Frankreich aus, sondern stets in umgekehrter Richtung. Erst im Lauf des 19. Jahrhunderts, in Folge der überaus demütigend empfundenen Maßnahmen Napoleons I. gegen Deutschland und die Deutschen, erfolgte als logische Gegenreaktion nicht nur ein Erstarken nationalen Empfindens und nationaler Gefühle; die durch Napoleons grausames Agieren ausgelösten Gegenreaktionen führten letztlich zu einem sowohl militärischem wie politischem Erstarken Deutschlands und seiner Mitgliedsstaaten.

Der Deutsch-Französische Krieg von 1870/71, den – da gibt es keinerlei Zweifel – von Bismarck mit Raffinesse initiiert, vom französischen Kaiser Napoleon III. jedoch ausgelöst, kehrte, nach der gemeinsamen, europäischen Besiegung des napoleonischen Frankreichs 1814/15, erstmals die militärischen wie politischen Verhältnisse in Europa zu Gunsten Deutschlands um, und ermöglichte es Preußen, sich an die Spitze der nationalen Aufwallung in Deutschland zu setzen. Man muss sich das, mit dem Abstand von 150 Jahren, einmal wirklich auf der politischen Zunge zergehen lassen: nach mehrhundertjähriger Demütigung durch französische Armeen und Diplomaten, war es Deutschland-Preußen erstmals gelungen, sich in umgekehrter Weise gegen Frankreich durchzusetzen: es militärisch zu besiegen – dazu noch in einer Art „Blitz-Krieg“ – und es erstmals ähnlich hart mit einem „Sieg-Frieden“ zu belasten, wie zuvor zwischen 1648 und 1806, unzählige Male die Franzosen Deutschland. Frankreich musste enorm hohe Kontributionen zahlen, die in Deutschland die sog. Gründer-Jahre auslösen halfen, und als Ausgleich für 300 jährige Gebietsverluste, das bis 1806 überwiegend zum Deutschen Reich gehörige Elsass und Lothringen zurück erstatten.

Natürlich hätten diese beiden Maßnahmen; hohe Strafzahlungen für den von Frankreich gegen Deutschland ausgelösten Krieg, sowie die Rückgabe von Land, das Frankreich 65 Jahre zuvor Deutschland fortgenommen hatte, bereits ausgereicht, um die bestehende deutsch-französische Rivalität gehörig anzuheizen. Bedauerlicherweise setzte Bismarck etwas geradezu Ungehöriges oben drauf: er demütigte den sehr gut entwickelten französischen Nationalstolz, indem er die Proklamation des neuen Deutschen Reichs nicht etwa irgendwo, an einem geschichtsträchtigen Ort in Deutschland, sondern quasi im Wohnzimmer der Franzosen, in deren geheiligten Hallen des Schlosses von Versailles stattfinden ließ.

Damit die Reichsgründung an diesem geschichtsträchtigen Ort, dem Schloss König Ludwig XIV., des Sonnenkönigs, dessen damaliges französisches Königreich Europa beherrschte und dominierte, überhaupt stattfinden konnte, bedurfte es, neben dem bereits gewonnenen Krieg, noch der Zustimmung aller, bisher souveränen deutschen Länder, ganz speziell eines im Süden Deutschlands gelegenen, einem damaligen Pufferstaat zwischen dem Deutschlands Preußens und dem Kaiserreich Österreich: Bayern. Das Land wurde damals von einem ähnlich märchenhaftem König regiert, wie weiland das Frankreich des Sonnenkönigs: Ludwig II. hieß der bayerische Monarch, der nicht nur des Sonnenkönigs Namen trug, sondern diesem in Vielem krampfhaft nachzueifern suchte, u.a. in einer manischen Bautätigkeit, heute Grundlage für Bayerns hoch entwickelten Tourismus.

Da das Bauen zahlreicher Schlösser und Paläste ein damaliges Agrarland wie Bayern fiskalisch weit überforderte, war König Ludwig II. von permanenten Schulden geplagt, während das preußische Staatssäckel damals eine Menge Geld enthielt. Daher konnte Bismarck dem „Märchen-König“ Ludwig II. etwas anbieten, dass diesem noch wichtiger war, als die bayerische Souveränität: Geld. Um es so zu nennen, was es war: für eine enorme Bestechungssumme, ließ sich König Ludwig II. vom Preußen Bismarck einen, den entscheidenden Teil der bayerischen Souveränität abkaufen. Das war der fehlende Mosaikstein, der erst sehr, sehr knapp vor der Kaiserproklamation erfolgte, und Bismarck den Erfolg der neuerlichen Reichsgründung ermöglichte.

Angesichts der beiden Haupt-Probleme vor der Reichsgründung – dem zu gewinnenden Krieg gegen Frankreich und der Bestechung Bayerns – wirkte das dritte Problem, welches Bismarck vor dem 18. Januar 1871 aus dem Weg zu räumen hatte, nahezu simpel: der preußische König Wilhelm wollte überhaupt nicht deutscher Kaiser werden, sondern preußischer König bleiben. Damit entwickelte er wohl eine prophetische Ader. Denn hätte er sich standhaft geweigert, Kaiser zu werden, eine Position, die er als eine Art „Grüßonkel“ empfand, gegenüber seiner angeborenen Königswürde, wäre Deutschland sein übergriffiger, clownesker Enkel als Wilhelm II. erspart geblieben. Wer weiß, wie sich ohne diesen Mann auf dem Kaiserthron Deutschland und Europa entwickelt hätten? Eventuell würden die Preußen noch als Könige in repräsentativer Form – wie die Könige Englands aus dem Haus Hannover – regieren?

Nun, es ist müßig, über was wäre wenn zu spekulieren. Die Kaiserproklamation fand statt, da es Bismarck, dem „Eisernen Kanzler“ gelang, alle drei Probleme zu lösen, und damit zum Gründer des zweiten Deutschen Reichs zu werden. Jedenfalls wirkte die empfundene Demütigung in den Herzen und Köpfen der Franzosen so stark, dass sie von da an nur noch auf eines aus waren: auf Rache, Revanche. Die führte zunächst zum Ersten Weltkrieg, eine Falle, die die Franzosen Kaiser Wilhelm II. ähnlich perfide stellten, wie seinerzeit Bismarck Napoleon III. Nachdem die Deutschen gegen die vereinigte Welt den Krieg verloren hatten, hatten sich der Kaiser und sein Reich erledigt.

Für die Franzosen kam die Revanche, indem sie die Deutschen natürlich nach Versailles anreisen ließen, um sie am Ort der größten französischen Demütigung nun ihrerseits kräftig zu demütigen, indem sie den Deutschen einen ungeheuer demütigenden Frieden und unbezahlbare Kontributionen aufbürdeten, und damit den Folgestaat, die Weimarer Republik, von Beginn an zum Scheitern verurteilten, und erreichten, dass die Deutschen erstmals als Nation Rachegelüste gegenüber Frankreich entwickelten, was auf geradem Weg zum Erstarken von Nationalisten um Hitler führte, was geradewegs in erneuter Revanche endete, indem Hitler gegen Frankreich einen zweiten „Blitz-Krieg“ führte und gewann, und nun seinerseits die Franzosen erneut demütigte, indem er deren Kapitulation erneut – na wo wohl? – in Versailles entgegennahm, ihre Hauptstadt Paris, das Herz der Republik, und große Teile Frankreichs besetzte, und damit geradezu ein Revanche-Trauma bei den Franzosen auslöste.

Angesichts der Orten innewohnenden Symbolik ist es gut und hilfreich, heutzutage, in EU-Zeiten, sich in Aachen, oder Straßburg, Maastricht oder Brüssel, denn in Versailles oder Potsdam zu treffen.

Zum Abschluss einige persönliche Anmerkungen zum 18. Januar 1871, dem Tag der Reichsgründung des zweiten Deutschen Reichs in Versailles. Wie es kaum anders sein kann, sind derart wichtige nationale Ereignisse oft im kollektiven oder privatem Gedächtnis gespeichert. Während die Reichsgründung für einen Großteil der Deutschen heute entweder keinerlei oder gar negative Bedeutung hat, besitzt sie für mich eine enorme, emotionale. Das hängt damit zusammen, dass gleich zwei meiner Vorfahren, zwei meiner Urur-Großväter, auf unterschiedliche Art und Weise, damals in Versailles anwesend waren, und dadurch in ihren Familien eine familiäre Legendenbildung einsetzte, ohne dass 1871 klar gewesen wäre, dass sich beide Familien ziemlich genau 30 Jahre später, durch Heirat, verbinden würden.
Am nächsten dran, am Geschehen von 1871, war mein Urur-Großvater Karl, der seinen Monarchen, den Großherzog von Baden, Friedrich I., als dessen Hof-Photograph begleitete. Dadurch war er unter Jenen, die zwar aus einer etwas fernen, aber doch inneren Perspektive des Spiegelsaals, persönlich der Reichsgründung beiwohnten. Ur-Ur-Großvater hatte den Auftrag, die Zeremonie, ähnlich wie der ebenfalls anwesende Maler Anton von Werner, festzuhalten, allerdings auf Glasplatten als Photographie, statt auf Leinwand als Gemälde. Als Augenzeuge hinterließ mein Vorfahr neben seiner persönlichen Schilderung, die in der Familie noch bis weit ins 20. Jahrhundert weiter gegeben wurde, besagte Glasplatten und Abzüge davon, als Fotos. Während die meisten Glasplatten wie Abzüge im Archiv des Großherzogs, der schließlich dafür bezahlt hatte, landeten, behielt Urur-Großvater ein paar Abzüge nebst einer Glasplatte vom historischen Ereignis für sich. Die Glasplatte hatte sich mein Großvater, aus dem Erbe des Vaters gesichert, und sie bis 1945 unbeschädigt verwahrt. Als jedoch die amerikanischen Soldaten ansetzten Göttingen und Umgebung zu besetzten, requirierten sie die Wohnung meiner Großeltern. Die einquartierten Gis zerstörten, während sie die großelterliche Wohnung besetzt hielten, nicht nur zahlreiche wertvolle alte Möbel, sie nutzten das Geschirr und Besteck der Familie, und es schien ihnen so gut gefallen zu haben, dass sie, bevor sie Göttingen verlassen mussten, um in Kassel stationiert zu werden, es gleich mitnahmen, um ihre Lieben in den USA damit zu beglücken. Natürlich war auch besagte historisch wertvolle Foto-Glasplatte nicht mehr vorhanden, als meine Großeltern ihre völlig zerstörte, verwohnte und besudelte Wohnung auf eigene Kosten wieder bewohnbar machen durften. Damit ging ein zeitgeschichtlich wichtiges Original, in später Folge eines Ereignisses verloren, das am 18. Januar 1871 in Versailles ausgelöst wurde, und 1945/46 zu obigem, marginalem Spätschaden führte.

Mein anderer Urur-Großvater, Franz Heinrich, ein ehemaliger preußischer Unteroffizier, war zum Zeitpunkt des Krieges als Ober-Lokomotivführer, mit Dienstsitz am damals preußischen Eisenbahn-Knotenpunkt Köln, einer derjenigen besonders zuverlässigen und langjährigen Lokomotivführer, die erneut dienstverpflichtet, die Ehre hatten, die Züge zu führen, denen sich der preußische König, der Kronprinz, sowie der Kanzler und Mitglieder des Generalstabs während des Deutsch-Französischen Krieges anvertrauten. Da wegen der Kriegshandlungen um Mitte Januar 1871 ein direktes Ansteuern Versailles per Eisenbahn nicht möglich war, hatte Urur-Großvater seinen Zug rund 50 Kilometer von Versailles entfernt abgestellt, und war, gemeinsam mit den Bediensteten des Herrscherhauses in Kutschen über Land nach Versailles gefahren, wo er der eigentlichen Proklamation nicht beiwohnen konnte, jedoch das Auf- und Ab der geladenen Gäste und Mitwirkenden vom Schlosshof und dem Haupteingang verfolgte. Zur Erinnerung an diesen Tag, sowie als Dank für die sichere Zugführung der königlichen Familie, erhielt Urur-Großvater Wochen später einen überdimensional riesigen Bierkrug nebst Anschreiben des frisch gebackenen Kaisers. Der Krug fasste gleich zwei Liter Bier. Mein Ur-Großvater, Sohn des Lokomotivführers, wurde mit diesem Krug am Feierabend in die nahe Gaststätte geschickt, wo der Wirt frisches Bier abzapfte, dass Ur-Großvater nach Hause, was das damalige Bahnhofsgebäude eines Kölner Vororts war, wo die Familie eine Dienstwohnung bewohnte, trug, damit sein Vater sich daran laben konnte. Stets prostete Urur-Großvater, ein überzeugter Fan der Hohenzollern, seinem Kaiser zu, dem er diesen Krug verdankte. Noch mein Großvater besaß diesen Krug und vererbte ihn einem meiner Onkel. Dessen Sohn konnte mit dem „Gelumpe“ des Vaters nach dessen Tod nichts anfangen und ließ den Hausrat des Vaters, zu dem auch der Krug gehörte, durch eine Firma „entsorgen“. Ein deutliches Zeichen für den von mir beklagten deutschen Traditions-Verlust, in diesem Fall innerhalb meiner eigenen, erweiterten Familie.

Epilog

Jeweils eines der Kinder dieser beiden Augenzeugen der Kaiserproklamation von Versailles, lernten sich im Jahr 1898 im badischen Ettlingen, nahe der großherzoglichen Residenz Karlsruhe, kennen, verliebten sich, verlobten sich Ende 1898, und heirateten im Mai 1899. Geld in Form von Krediten aus den französischen Reparationen hatte einen dieser Urur-Großväter enorm reich gemacht, da er sich erfolgreich als Unternehmensgründer betätigte, und eine Vielzahl von Firmen, Hotels und Pensionen, sowie Immobilien erwarb und seinen Kindern hinterließ. Er legte eine typische Gründerzeit-Karriere hin, die beweist, wie enorm die Chancen und Möglichkeiten Bürgerlicher, während der kurzen Zeitspanne des Kaiserreichs der Hohenzollern waren.

War das Geld aus Frankreich für unsere Familie bis 1918 ein Segen, änderte sich dies 1919 schlagartig. Frankreich besetzte das Rheinland, enteignete meinen Ur-Großvater teilweise, indem sie ihn und die Familie aus ihrer Villa warf, die alsdann ein hoher französischer Offizier bezog. Die Villa wurde nie zurück erstattet, sondern als angebliches Eigentum des französischen Staates zu Beginn der Dreißiger Jahre an neue Eigentümer verkauft. Ein Prozess gegen die Reichsregierung endete damit, dass diese nicht nur keinen Schadenersatz leistete, sondern den Bankrott der familieneigenen Aktiengesellschaft mutwillig herbeiführte.

Mein Großvater wurde, weil er versuchte, die örtliche Pfadfindergruppe nach 1920 wieder zu beleben, vom französischen Militär 1922 zum Staatsfeind erklärt und in Abwesenheit zum Tod verurteilt, und musste, um sein nacktes Leben zu retten, aus der besetzten Zone zu Verwandten bei Basel fliehen. Zeitgleich verliebte sich seine jüngere Schwester, später eine geschätzte Malerin, in einen französischen Besatzungsoffizier, der sie schwängerte, weshalb sie ihn gezwungenermaßen heiratete – worüber die von den Franzosen enteignete Familie nicht wirklich glücklich war. Zu allem Übel stellte sich später heraus, nachdem zwei weitere Kinder geboren waren, dass der Franzose ein doppeltes Spiel gespielt hatte, da er in Paris bereits eine Frau und Kinder besaß. Also wurde die nach deutschem Recht ungültige bigamistische Ehe aufgelöst. Eine Tochter aus dieser deutsch-französischen Verbindung ehelichte kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, 1947, in Göttingen einen englischen Besatzungsoffizier, dem sie 1950 nach England folgte, wo ihr Mann in Oxford an der Universität als Professor Karriere machte. Das Paar hat vier Kinder; ein Teil meiner englischen Verwandtschaft.

Damit enden meine persönliche Anmerkungen. Sie zeigen, obwohl die Folgen der Kaiser- und Reichsproklamation von Versailles, im Jahr 1871, Europa, Deutschland wie Frankreich politisch fast zerstörten, legte sie zugleich die Basis für die Wurzeln des modernen Europas. Inmitten all des Revanchismus entstand – ich bin sicher meine Familie ist kein Einzelfall – zugleich eine wahrhaft europäische Familie. Dieser Zweig meiner Familie setzt sich, wie beschrieben, aus deutschen, französischen und englischen Mitgliedern zusammen, die ihrerseits Wurzeln in weiteren europäischen Staaten haben.

Es war klug und weise von unseren Nachkriegspolitikern, den törichten Revanchismus nach 1945 zu beenden, und an dessen Stelle Versöhnung und Verständigung auf europäischer Ebene zu setzen. Ich bin überzeugt, dass sich, seit Gründung der EU die Anzahl ähnlicher, europäisch-multinationaler Familien stark ausgeweitet hat, was hoffentlich dazu beiträgt, dass ein staatliches Ereignis eines europäischen Landes, wie besagte Reichsgründung, in Zukunft keine derart katastrophalen Wirkungen mehr zeitigt, wie das 150 Jahre zurückliegende. Dennoch oder gerade deshalb wäre es aus meiner Sicht wünschenswert, dass sich Deutschland wieder auf seine Traditionen besinnt – die guten, schönen, wie die unguten, destruktiven – denn nur mit dem Wissen um die Erfahrungen unserer Vorfahren, die Folgen zurückliegender nationaler Ereignisse, lassen sich neuerliche Fehlentwicklungen erfolgreich vermeiden.

Titelbild: Füsilier-Regt. Prinz Heinrich von Preußen (1.Brandenburgisches) Nr. 35, (Brandenburg) III Armee Korps; Bild von Joe Robinson CC BY-SA 2.0 via FlickR

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