Beitrag von Vesna Caminades
Liebe Leserinnen, liebe Leser,
diese Woche brauche ich keine fünf Minuten, um zu wissen, worüber ich schreiben möchte. Es wühlt mich innerlich auf. Da geht es um Respektlosigkeit, verlorene Werte, ungerechte Behandlung, bröckelnder Glaube an eine Institution: die Olympischen Spiele und der Sport im Allgemeinen. Und natürlich hat das alles mit Tieren zu tun und nicht allein mit Menschen. Genau, es geht um den Skandal rund um Saint Boy und die entgangene Goldmedaille für die Spitzensportlerin Annika Schleu. Besonders bemerkenswert sind auch die Äußerungen des Kommentators. Hier einige Aussagen: „Das Pferd funktioniert nicht“ – „Das Pferd scheint ich gesammelt zu haben“ – „Das Pferd scheint ihr zu vertrauen“ – „Du musst wieder Vertrauen aufbauen“ – „Dass so ein Ritt deutsches Gold verhindert“ .
Die vereinfachte Version der Angelegenheit: beim modernen Fünfkampf will das zugewiesene Pferd nicht springen, die Reiterin ist verzweifelt und schlägt mit der Peitsche auf dieses ein. Die Trainerin haut ihm obendrauf eine mit der Faust auf den Hintern. Empörung im ganzen Netz, ein klarer Fall von Tiermisshandlung. Doch was sind die Fakten? Kann man diese Geschichte so einfach abstempeln? Ich glaube nicht, da spielen mehrere Faktoren mit. Wer bei dem allen verloren hat, ist in erster Linie der Sport. Sport soll ein Zeichen von Frieden, Werten und Leistung sein, von konstruktivem Kampf gegeneinander und miteinander. Sport ist eigentlich ein Lebensbeispiel für die Jüngeren und Jüngsten. Doch was sehen wir? Hochleistung verwandelt die Sportlerinnen und Sportler in gestresste Kampfmaschinen, die um jeden Preis gewinnen müssen, um für das eigene Land möglichst viele Medaillen (der richtigen Farbe wohlgemerkt) heimzubringen. Welch ein Druck. Wo bleibt die Freude am Sporteln? Das Adrenalin, das so wichtig ist? Irgendwo auf der Strecke liegen geblieben.
Ich habe bis jetzt einige Artikel zum Fall Schleu gelesen und eigentlich habe ich mir gedacht: was kannst du Interessantes und Neues liefern, damit es für Sie Wert ist, meinen Beitrag zu lesen? Vielleicht meine persönliche Sicht, da ich selbst gerne reite und in der Vergangenheit auch als Amateurin bei Springwettbewerben mitgemacht habe. Daher erlaube ich mir zu behaupten, dass ich irgendwo ganz im Kleinen nachvollziehen kann, was Frau Schleu mitgemacht hat. Die Verzweiflung, wenn man nach vorne reiten möchte, das Pferd aber wie ein Krebs seitlich oder nach hinten marschiert. Das Gefühl der Machtlosigkeit, wenn es sich aufbäumt und man nur noch Interesse hat, im Sattel zu bleiben. Der Frust, wenn man um sich die Besserwisser hört, die schreien „richtig reinsitzen im Sattel, gib ihm den Schwung nach vorne, Beckenarbeit, Zügel locker, nicht so zerren, und so weiter und so fort“. Das Ärgste bleibt für mich aber, wenn der Oberschlaue lauthals ruft „Zeig dem Ross, wer der Boss ist“. Leider habe ich das oft in den Unterrichtsstunden gehört, vor allem bei den Kleinsten, die man mit fünf oder sechs Jahren in den Sattel steckt. „Hau ihm die Beine richtig in die Flanken, der wird’s schon kapieren“. Das war der Tenor. Die Eltern haben sich da manchmal ratlos angeschaut. Doch nicht alle Reitlehrer sind so, ich hatte das Glück später, vor allem im Einzelunterricht, wunderbare einfühlsame Menschen zu treffen, die mir das Schönste vom Reiten beigebracht haben: man darf und kann mit dem Pferd eins werden. Es ist möglich, eine Art „complicity“ zu entwickeln. „Mittäterschaft“ ist wahrscheinlich nicht die richtige Übersetzung. Es ist eben ein Gefühl, wenn man es erlebt, weiß man, wie es sich anfühlt. Ich habe es erleben dürfen. Sowohl beim Ausreiten wie auch beim Hindernisspringen. Da wurde mir eines sofort klar. Dem Vierbeiner kann ich nichts vormachen, ich kann ihm keine Selbstsicherheit und Ruhe vorgaukeln, wenn ich diese nicht wirklich in mir empfinde. Das Pferd ist ein höchst sensibles Wesen. Es spürt unsere Angst, unser Zaudern; doch auch unsere Entschlossenheit, die sich auf ihn überträgt – er wird ein Kumpel, mit dem man durch all die Hindernisse reiten kann. Dieses edle Lebewesen, spürt unsere Selbstsicherheit, aber auch das Vertrauen, das wir ihm entgegenbringen. Und gerade das hat meines Erachtens hier gefehlt. Vertrauen und Respekt. Wie soll ein Pferd, das den Reiter erst zwanzig Minuten vorher zum ersten Mal „sattelmäßig“ kennen gelernt hat, diesem einen Vertrauensvorschuss schenken? Vor allem, wenn dieser Mensch gestresst ist und nur die Medaille im Kopf hat, nicht aber, die Tatsache, gemeinsam mit dem Vierbeiner durch diese Probe zu gehen? Wie oft hört man „das Pferd ist ein elegantes Geschöpf“. Vor allem ist es aber nicht dumm. Wer würde sich schon für einen Zappelpeter einsetzen, der auf unserem Rücken nervös mit der Peitsche auf uns einschlägt? Und genau das ist der Punkt, dieses edle Wesen der Schöpfung hat einen Charakter und vor allem einen Willen. Und das ist wohl das Problem. Reiten wird somit im krassesten Fall zunichte gemacht, denn es geht darum zu zeigen, wer der Chef ist – eben diesen Willen zu brechen, damit das Pferd das macht, was wir wollen. In diesem Moment der eindeutigen Verzweiflung der Reiterin ist mir klar geworden, dass im modernen Fünfkampf das Pferd so eingestuft wird, wie der Degen beim Fechten oder das Gewehr beim Schießen. Ein Objekt. Es ist schon geschehen, dass ein Sportler im höchsten Frust seinen Tennisschläger zerschlagen hat – hier das Beispiel von Zverev bei den Australian Open. Doch ich frage mich: wenn jemand bei einer Autoralley verliert, verprügelt er dann seinen Kopiloten? Oder beim Tandemfahrradrennen? Wird da dem Partner eine auf den Allerwertesten gehauen, weil er nicht schnell und gleichmäßig gefahren ist? Natürlich, wir dürfen Tiere nicht mit Menschen vergleichen. Doch geht es nicht vorrangig um Fair Play, Respekt und Achtung vor einem Lebewesen, das zu etwas gezwungen wird, woran es Null Interesse hat? Glauben wir wirklich, dass das Pferd in der Früh aufwacht und vor Freude strotzt, um 12- oder 15-mal über bunt angemalte Hindernisse zu hüpfen, die verdammt schmerzen, wenn man mit dem Bein dagegen stößt? Können Sie sich erinnern, wie das weh tut, wenn man mit dem Schienbein am Tisch anstößt oder wenn man mit dem kleinen Zeh irgendwo unachtsam reinhaut? Man könnte heulen, so sehr schmerzt das. Und das Pferd? Wenn es sich verletzt, nicht hoch genug springt oder sich nach einiger Zeit weigert zu springen und nur noch in die Box will, dann kriegt es eine über die Birne gedroschen. Behandeln wir „menschliche“ Sportler auch so? Das Pferd ist ein „Hochleistungssportler“, der darüber hinaus zur Maximalleistung „gezwungen“ wird. Ja, ich traue mich, Vergleiche anzustellen.
Alle Welt hat sich auf Annika Schleu konzentriert, wie sie in Tränen aufgelöst Saint Boy bezwingen wollte. Außerdem auch auf ihre Trainerin, die mit einem „kleinen freundlichen Faustklaps“, dem Pferd den richtigen Weg zeigen wollte. Doch niemand spricht darüber, wie die russische Spitzensportlerin Gulnaz sich die Zähne an Saint Boy ausgebissen hatte. Sie hatte ihn kurz vor Schleu auf demselben Parcous geritten. Was soll Saint Boy sich da wohl gedacht haben? Dasselbe wieder? Nein danke! Hier der Link dazu. Man sieht genau, wie Gulnaz ebenfalls auf ihn einpeitscht. Ehrlich gesagt, der Trainer ruft ihr ebenfalls ständig etwas zu, nur dass dies auf Russisch erfolgt und nicht alle verstehen diese Sprache. Daher kann er genauso gerufen haben, sie soll ihm eine hinten draufhauen. Also möchte ich eine Lanze zugunsten derer brechen, die sagen, man soll keine Hexen verbrennen. Schleu war am Ende der Nerven, zutiefst enttäuscht, frustriert, hatte keine Bindung zum Pferd aufgebaut oder aufbauen können.
Dass auf der anderen Seite, alles unter den Teppich gekehrt werden soll, in dem man die Trainerin bis auf weiteres aus Tokio ausschließt und Frau Schleu ihren Instagram-Account schließt, das finde ich Volksverdummung. Tatsache ist, dass auf das Pferd eingeschlagen wurde. Tatsache ist, dass der Blick dieses Tieres Bände spricht. Tatsache ist, dass nicht nur Angelika Schleu oder ihre Trainerin Ungutes getan haben. Der Besitzer des Pferdes, aber auch die Organisatoren der Olympischen Spiele, welche solche Sportarten zulassen, wo Tiere wie Objekte be- oder eher misshandelt werden, sind genauso zu verurteilen.
Wozu soll Springreiten beim modernen Fünfkampf als Disziplin beibehalten werden? Sind das die Fertigkeiten, die jemand im Mittelalter beherrschen musste, um zu überleben? Fechten, springend über Hindernisse fliehen, Schießen und Schwimmen, wenn das Pferd nicht über den Fluss springen wollte? Wo sind wir denn? Hier ein interessanter philosophischer Essay über Tiernutzung oder -ausnutzung im Sport:
Besonders bedenklich finde ich weitere Aktivitäten, bei welchen die Pferde zu kurz kommen, wie beispielsweise das Vielseitigkeitsreiten und das Rennen von Pisa.
Das Erstere ist eine Disziplin, welche aus Dressur, Geländeritt und Springen besteht. Hier sind aber die Hindernisse meist fix und wenn das Pferd hier daran anstößt, dann kann es sich sehr ernst verletzen, denn sie geben nicht nach indem sie fallen.
Das Rennen von Pisa braucht hingegen nicht beschrieben zu werden, es ist pure Grausamkeit. Und all das für die Touristen, die Eitelkeit der einzelnen „contrade“ und enorme wirtschaftliche Interessen. Hier ein paar Worte dazu:
Die rauen Sitten der Fantini
Gegen 20 Uhr beginnt das abschließende Rennen – fieberhaft von den emotional aufgeladenen Zuschauern erwartet. Zu allem bereit stürzen sich Pferd und Reiter in atemberaubender Geschwindigkeit in die Bahn. Um an das Ziel zu kommen, ist den Jockeys fast alles erlaubt.
Peitschenhiebe auf das feindliche Pferd, Körpereinsatz, vorher getroffene Absprachen und andere raue Vorgehensweisen ebnen den Weg zum Sieg. Tierschutzorganisationen forderten aus diesem Grund wiederholt die Abschaffung des Palio.
Besonders in der matratzengepolsterten Kurve von San Martino wird deutlich, wie gefährlich und rücksichtslos der Palio sein kann. Die Pferde können das Rennen übrigens auch scosso, ohne Reiter, gewinnen.
Und hier eine andere Art des Palio, diesmal auf Indonesisch:
Doch wir brauchen nicht so weit zu suchen. Hier ein Pferderennen mit tödlichem Ausgang – für das Pferd natürlich. Bein gebrochen, Stute eliminiert. War das nicht deutlich genug? Kein Problem, hier ein weiterer Fall, diesmal Beinbruch auf der Zielgeraden.
Leider haben es Sportpferde nicht einfach. Sie müssen rentabel sein, wie jemand sagt „man will früher oder später Geld sehen“. Mit zwei Jahren müssen sie meist schon rennfähig sein, mit drei Jahren sind sie in der Regel bereits Sportinvaliden und dienen wenn es gut geht der Fortpflanzung oder als Freizeitpferd – sonst wartet ganz einfach der Schlachter auf sie. Hier eine Doku des NDR.
Dieser Artikel der Süddeutschen ist besonders klar. Ein Sport, der das Sterben einkalkuliert.
Pferde werden gequält und geschunden bis zum Tode. Entweder sie sterben auf der Rennbahn oder landen im Schlachthaus, sobald ihre Leistung nachlässt. Wer findet das gut? Doch nur Menschen, die unmittelbar oder mittelbar an diesem Milliardengeschäft beteiligt sind. Es gibt überhaupt keine Rechtfertigung für die Grausamkeiten, die diesen armen Tieren angetan werden. Wir alle sind dafür verantwortlich, dass es aufhört.
Und gerade darum geht es. Es reicht nicht, dass wir uns im Internet über Frau Schleu und deren Trainerin aufregen. Wir müssen handeln. Solange wir fasziniert solche Sportarten bei den Olympischen Spielen bewundern, solange die Organisatoren damit Geld verdienen, solange wird es Saint Boys geben. Was besonders schockierend ist, was aber die wenigsten ahnen: Rennpferde werden zu Tausende geschlachtet; entweder sie gewinnen und leben oder sie verlieren und sterben. Hier ein schwer zu verdauender Bericht.
Es sind schockierende Enthüllungen: In England und Irland sollen laut BBC in den vergangenen beiden Jahren bis zu 4000 Rennpferde geschlachtet worden sein. Verdeckte Videoaufnahmen zeigen, wie bei den Schlachtungen auch geltende Vorschriften mehrfach verletzt worden sein sollen. Ist die Karriere vorbei, geht es zum Schlachthof. Dieses Schicksal teilen viele Rennpferde. Aber der Weg in den Tod soll nicht grausam sein. Für den letzten Gang der Tiere gibt es strenge Regeln. Die wurden offenbar in England und Irland ignoriert. Und das mehrfach. Die Pferde dürfen etwa nicht in Sichtweite zueinander getötet werden. Doch genau das passierte. Auch soll den Vierbeinern großes Leid erspart werden, es soll ein schneller Tod werden. Doch genau das passierte nicht. So wurden die Tiere vor der Schlachtung offenbar nicht betäubt.
Es liegt an uns, diese Dinge aufzuzeigen, uns dagegen auszusprechen, dieser Art von Sport, die nichts mit Respekt und Werten zu tun hat, den Rücken zu kehren. Erst dann besteht Hoffnung, dass wir solche Szenen nicht mehr sehen müssen, aber vor allem, dass kein Pferd mehr solche Szenen miterleben muss – Danke IAMA
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Titelbild: Jumping by PapaPiper CC BY-ND 2.0 via FlickR
Wer Fragen oder Anregungen zu diesem Thema an Vesna Caminades hat, kann sich unter dieser E-Mail-Adresse an sie wenden: iama4iwannaknow |et| gmail.com oder Mobile Phone +32488617321.
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