Europa steht nicht nur vor der Herausforderung, sich ohne Amerika gegen Russland verteidigen zu müssen, vielmehr muss es sich auch gegen Amerika verteidigen, schreibt Ilja Leonard Pfeijffer. Es ist daher höchste Zeit, dass wir anfangen, mit Selbstbewusstsein zu dem zu werden, was Trump fürchtet, das wir sind.
Essay von Ilja Leonard Pfeijffer | 12. März 2025
Es könnte zu den größten Kriegsverbrechen gezählt werden, die während des Peloponnesischen Krieges begangen wurden. Thukydides liefert am Ende des fünften Buches seines Berichts über den Krieg eine bemerkenswert detaillierte Beschreibung des Ereignisses, um seinen Lesern die Mechanismen des Machtmissbrauchs bewusst zu machen, die dieser schrecklichen Episode zugrunde lagen.
Im Sommer 416 v. Chr. beschloss Athen, die unbedeutende Insel Melos zu annektieren, deren Bewohner den Athenern nie etwas zu Leide getan hatten und die im Konflikt zwischen Athen und Sparta neutral geblieben war. Athen hatte ihre Neutralität bis dahin respektiert, war jedoch der Ansicht, dass der Zeitpunkt gekommen sei, an dem die Toleranz Athens gegenüber Melos als Zeichen der Schwäche ausgelegt werden könnte. Die Athener entsandten eine überlegene Streitmacht nach Melos und leiteten anschließend Verhandlungen über ein Friedensabkommen ein, was aus ihrer Sicht einer sofortigen bedingungslosen Kapitulation der Melier gleichkam.
Die Melier erklärten, eine solche Vereinbarung sei ungerecht. „Recht und Unrecht sind in diesem Zusammenhang irrelevante Kategorien“, erwiderten die Athener. „Gerechtigkeit mag unter Gleichen gelten. In der aktuellen Situation gilt eine andere Wahrheit, nämlich dass der Starke tut, was er will, während der Schwache zu ertragen hat, was er zu ertragen hat. Für die Erhaltung unseres Reiches ist es notwendig, dass unsere Macht auf den Inseln gefürchtet wird und dass auf den Inseln, auf denen es gute Gründe gibt, sich uns zu widersetzen, nicht über das Schicksal einer Insel gesprochen wird, das Hoffnungen auf Unabhängigkeit rechtfertigen könnte.
„Wenn es auf den anderen Inseln anscheinend so viele gute Gründe gibt, sich eurem Imperium zu widersetzen, wäre es eine inakzeptable Feigheit, wenn wir nicht bereit wären, alles in unserer Macht Stehende zu tun, um unsere Unterwerfung unter euer Imperium zu verhindern“, sagten die Melier.
„Es wäre töricht von euch, wenn ihr nicht bereit wärt, anzuerkennen, dass es keinen Weg gibt, dies zu vermeiden“, sagten die Athener. “Das Dilemma, vor dem ihr steht, ist nicht die Wahl zwischen Feigheit und Tapferkeit, sondern die Wahl zwischen Selbsterhaltung und totaler Vernichtung.“
Als Sklaven verkauft
Als die Melier sagten, sie vertrauten auf die Götter, erwiderten die Athener: „Das Gesetz des Stärkeren ist ein Naturgesetz, dem selbst die Götter gehorchen. Wir haben dieses Gesetz nicht erfunden. Es existierte schon lange, bevor wir die Bühne betraten, und wird noch lange existieren, nachdem wir wieder verschwunden sind. Wir haben dieses Gesetz in der göttlichen und menschlichen Natur gefunden und machen vorübergehend Gebrauch davon, das ist alles.“
Die Melier weigerten sich, dem Abkommen zuzustimmen. Nach einer kurzen Belagerung wurde ihr Staat im Januar des Jahres 415 v. Chr. von den Athenern zerstört. Alle männlichen Bewohner der Insel wurden getötet und die Frauen und Kinder in die Sklaverei verkauft.
Der wesentliche Unterschied zwischen diesen Verhandlungen zwischen Athen und Melos, wie sie von Thukydides aufgezeichnet wurden, und dem demütigenden Treffen des ukrainischen Präsidenten Volodymyr Zelensky mit dem US-Präsidenten Donald Trump und dem Vizepräsidenten J.D. Vance am Freitag, dem 28. Februar 2025, im Oval Office des Weißen Hauses in Washington, war stilistischer Art. Trump und Vance konnten nicht mit der Eloquenz der athenischen Unterhändler mithalten. In ihrem Bestreben, Zelensky vor den Fernsehkameras zu demütigen, ließen sie ihn kaum zu Wort kommen, während die Athener zumindest den Anstand hatten, die Melier während ihrer Drohungen ausreden zu lassen.
Alle anderen Unterschiede zwischen den beiden Situationen, die fast zweieinhalb Jahrtausende auseinander liegen, verblassen im Vergleich zu dem zugrunde liegenden Prinzip, das beiden gemeinsam ist. Im Gegensatz zu Athen ist Amerika zwar nicht der Aggressor, aber die Kapitulation, die Amerika von der Ukraine fordert, ist durch die amerikanische Gier nach den ukrainischen Bodenschätzen motiviert, ein Verhalten, das dem eines Aggressors ebenbürtig ist.
Die wichtigste und schockierendste Ähnlichkeit besteht darin, dass das Prinzip der Gerechtigkeit für irrelevant erklärt wird. „Wir sollten in diesem schrecklichen Krieg Opfer und Angreifer nicht verwechseln“, sagte der zukünftige deutsche Bundeskanzler Friedrich Merz ganz richtig. In Trumps Welt, die die neue amerikanische Realität ist, gilt nur das Recht des Stärkeren. „Ihr habt nicht die Karten“, sagte Trump. Die Starken tun, was sie wollen, während der Schwache zu ertragen hat, was er zu ertragen hat.
Die USA schädigen
Die Geschichte dieses Treffens, das acht Minuten Fernsehen lieferte, die die Welt schockierten, machte deutlich, dass die Vereinigten Staaten von Amerika nach einem Jahrhundert, in dem sie sich zumindest in Worten und gelegentlich auch in Taten als Hüter der Freiheit, Demokratie und Gerechtigkeit positioniert haben, unter dem neuen Trump-Regime jeden Anschein von Moral aufgegeben haben und das Gesetz eher als Hindernis denn als erstrebenswertes Prinzip betrachten.
Während US-Außenminister Marco Rubio die Isolation Russlands aufhob und die Position des Aggressors legitimierte, indem er am Dienstag, dem 18. Februar, in Riad Gespräche auf Augenhöhe mit seinem russischen Amtskollegen Sergej Lawrow aufnahm, erklärte Trump, dass die Ukraine für den blutigen Krieg die Verantwortung trage und dass Selenskyj ein Diktator sei, der nicht demokratisch gewählt wurde. Selenskyj wies zu Recht darauf hin, dass diese Ansicht ein Echo der russischen Propaganda sei.
Am Montag, dem 24. Februar 2025, drei Jahre nach der russischen Invasion in der Ukraine, stimmten die Vereinigten Staaten zusammen mit Russland, Belarus, Nordkorea, Ungarn und Israel unter anderem gegen die UN-Resolution ES-11/7, die die territoriale Integrität der Ukraine bekräftigte und den sofortigen Abzug aller russischen Truppen forderte. Die Vereinigten Staaten reichten einen eigenen Resolutionsentwurf ein, in dem ein Waffenstillstand gefordert wurde. Nachdem jedoch ein Änderungsantrag in den Text aufgenommen wurde, der einen Verweis auf die Souveränität der Ukraine enthielt, sahen sie sich gezwungen, sich bei der Abstimmung über ihren eigenen Resolutionsentwurf der Stimme zu enthalten.
Auch vor diesem Hintergrund kam die Hohe Vertreterin der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik und Vizepräsidentin der Europäischen Kommission, Kaja Kallas, in einer kurzen Stellungnahme nach dem desaströsen Treffen vom 28. Februar zu einem ebenso berechtigten wie weitreichenden Schluss: „Heute ist deutlich geworden, dass die freie Welt eine neue Führung braucht. Es liegt an uns Europäern, diese Herausforderung anzunehmen.“
Das ist wahr, aber die Aufgabe, vor der Europa heute steht, ist noch größer. Die Herausforderung besteht nicht nur darin, dass Europa die Rolle des Hüters von Freiheit und Gerechtigkeit von den Vereinigten Staaten übernehmen muss. Selbst wenn man hinzufügt, dass Europa nicht mehr auf amerikanische Unterstützung bei der Verteidigung seiner territorialen Integrität zählen kann, ist das Ausmaß der Herausforderung noch nicht vollständig beschrieben.
Der ehemalige portugiesische Minister für europäische Angelegenheiten, Bruno Maçães, schrieb: „Sehen Sie sich das gesamte Video des Treffens im Oval Office an. Was Sie sehen, ist ein tiefer Hass auf die Ukraine und Europa. Das ist die Quintessenz dessen, was passiert ist.“ Diese Schlussfolgerung steht im Einklang mit dem Ton von Vances viel diskutierter Rede vom Freitag, dem 14. Februar, in München und mit Trumps Erklärung vom Mittwoch, dem 26. Februar, als er Einfuhrzölle gegen die Europäische Union ankündigte und erklärte, dass „die Europäische Union gegründet wurde, um die Vereinigten Staaten zu schädigen“.
Schocktherapie
Europa kann nicht nur nicht mehr auf Amerika als Verbündeten zählen, sondern Amerika ist, wie die Abstimmungen über die UN-Resolutionen schmerzhaft veranschaulicht haben, ins Lager der Feinde Europas übergelaufen. Die Aufgabe, vor der Europa heute steht, besteht nicht nur darin, dass es sich ohne Amerika gegen Russland verteidigen muss, sondern auch darin, dass es sich zukünftige gegen Amerika verteidigen muss.
Vor diesem Hintergrund kann man begründete Zweifel an der Analyse vieler haben, die behaupten, Selenskyj habe im Oval Office mangelndes diplomatisches Geschick gezeigt, er habe sich provozieren lassen und er hätte seinen Oberherren wie ein Leibeigener die Füße küssen sollen, um sein Land zu retten. Die diplomatische Gewandtheit von Macron und Starmer, die nach Washington reisten, um Trump zu beschwichtigen, hat nicht viel mehr als Flugmeilen und Fotos hervorgebracht, die von einem Misserfolg zeugen. Wir können sagen, was wir wollen, aber in jedem Fall hat Zelenskys prinzipientreue Weigerung, sich den ungerechten Forderungen der stärksten Partei zu unterwerfen, dazu geführt, dass die Position des neuen Amerikas und die Aufgabe, vor der Europa steht, völlig klar geworden sind.
Trump hasst Europa, weil er es fürchtet. Keines der einzelnen Länder Europas ist eine Bedrohung für Amerika, aber in seiner Verehrung für das Gesetz des Dschungels sieht er ein vereintes Europa als einen gewaltigen Gegner. Deshalb weigert er sich konsequent, mit Vertretern der Union zu sprechen. Er hofft, die einzelnen Länder Europas mit bilateralen Abkommen gegeneinander ausspielen zu können. Wir könnten die Herausforderung, die sich uns stellt, auch so formulieren: Lasst es dann unsere Aufgabe sein, zu dem zu werden, was er fürchtet, dass wir sind. Es ist eine Frage des Selbstvertrauens und der Einigkeit, und leider sind dies nicht die größten Talente Europas. Doch wir haben keine Wahl.
„Génoi‘ hoîos essì mathôn“, sagt Pindarus in seiner zweiten Pythischen Ode. Die ersten drei Wörter wurden von Nietzsche mit ‚Werde, der du bist‘ übersetzt, aber ‚mathôn‘ ist wesentlich: Wir müssen zu dem werden, was wir sind, nachdem wir gelernt haben, wer wir sind. Dieser Lernprozess findet jetzt statt. Es ist eine Schocktherapie.
Dieser Essay von Ilja Leonard Pfeijffer erschien ursprünglich am 08. März 2025 unter dem Titel „De reden waarom Trump Europa haat, is dat hij het vreest“ in der belgischen Zeitung „De Morgen“. Übersetzung ins Deutsche: Jürgen Klute
Titelbild: Europa en de Stier no 6 . Door Evert den Hartog. Foto: Roel Wijnants CC By-NC 2.0 DEED via FlickR
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