Von Jürgen Klute
In der taz vom 28. Oktober 2020 (Corona und Gewaltenteilung) hat Christian Rath die Schläfrigkeit der deutschen Parlamente im Blick auf die Corona-Politik sehr schön nach gezeichnet und kommentiert.
Einerseits überrascht mich die Schläfrigkeit deutscher Parlamente nicht wirklich. Ironisch könnte man fragen, woher denn neben den vielen und oft sehr lukrativen Nebenbeschäftigungen etlicher Parlamentarier*innen auch noch die Zeit für die parlamentarische Haupttätigkeit kommen soll.
Zum andern war mir ehrlich gesagt nicht so klar, wie sehr die Parlamente in der Bundesrepublik tatsächlich schlafen. Ich habe eher die belgische Corona-Politik vor Augen. Auch in Belgien sind die Anti-Corona-Maßnahmen politisch umstritten, da alle Maßnahmen nunmal mit erheblichen überwiegend wirtschaftlich belastenden Folgen verknüpft sind. Doch es geht nicht um den politischen Streit als solchen. Der politische Streit um Corona Maßnahmen gehört – wie der Streit um alle anderen politischen Themen – zur Demokratie. Hier geht es um die Rolle der Parlamente.
Im Unterschied zum Bundestag ist das föderale Parlament Belgiens präsent in der Corona-Politik und lässt sich das Heft nicht aus der Hand nehmen, auch wenn die Regierung im März mit Sonderrechten ausgestattet wurde, damit sie schnell reagieren konnte, wo dies sachlich erforderlich war. Die Regierung handelt dabei in Zusammenarbeit mit dem Nationalen Sicherheitsrat (vgl. Nationaler Sicherheitsrat tagt über mögliche Lockerung der Ausgangsbeschränkung, Flanderninfo vom 24.04.2020; dort ist auch die Zusammensetzung des Sicherheitsrates aufgelistet). Dazu muss man/frau im Blick haben, dass Belgien seit Dezember 2018 nur eine geschäftsführende Regierung hatte. Die damalige Regierung war über den UN-Migartionspakt zerbrochen. Nach den Wahlen vom 19. Mai 2019 konnte lange keine neue Regierung gefunden werden. Erst seit Oktober 2020 hat Belgien wieder eine reguläre Regierung.
Die Befugnisse der so genannten Notstandsregierung waren klar begrenzt und zeitlich befristet. Das Parlament behielt die volle Kontrolle über die Regierung auch während der Corona-Krise. Hier die wichtigsten Regeln dazu:
Sonderausschuss kontrolliert die Umsetzung:
Dieser Coronaausschuss arbeitet, wie alle anderen Ausschüsse auf Ebene des Bundesparlaments auch, mit 17 Mitgliedern arbeiten. Der Ausschuss kann die Regierungsmitglieder zu ihren Erlassen und befragen, bevor diese umgesetzt werden. Das kann z.B. sein, wenn es um Verlängerungen von Maßnahmen geht, die eigentlich für drei Monate beschlossen wurden. Das belgische Vollmachtengesetzt schreibt übrigens vor, dass darin vereinbarte Beschlüsse nach maximal einem Jahr als Königlicher Erlass ratifiziert werden müssen.
Quelle: Parlament stattet die Regierung Wilmès mit Vollmachten zur Coronakrise aus, Flanderninfo vom 27. März 2020Dennoch erhält die Regierung keinen Blankoscheck. Die Vollmachten beschränken sich auf die Bewältigung der Coronakrise und sind zeitlich zunächst auf drei Monate beschränkt. Sie können auf weitere drei Monate verlängert werden. Außerdem behält das Parlament die klassische parlamentarische Kontrolle der Regierung. Zudem müssen alle Regierungsbeschlüsse durch das Parlament ratifiziert werden.
Quelle: Coronakrise: Geschäftsführende Regierung soll umfassende Vollmachten bekommen, BRF vom 15. März 2020In diesem Sinne soll die Regierung zwar formal voll handlungsfähig sein, ihr Mandat sich aber nahezu ausschließlich auf den Kampf gegen das Coronavirus beziehen. MR-Chef Bouchez sagt dazu: „Es ist ausgeschlossen, dass jetzt zum Beispiel an einer neuen Rentenreform gearbeitet wird. Das Vertrauen, das die zehn Parteien der Regierung entgegenbringen, ist ein Vertrauen darauf, dass die aktuelle Krise angegangen wird.“
Quelle: Belgien bekommt eine Corona-Regierung, BRF vom 16. März 2020
Vor diesem Hintergrund war ich dann doch etwas überrascht über das Agieren der Bundes- und Landesregierungen und das Nicht-Agieren der Parlamente in der Bundesrepublik. Das ist allerdings auch Folge des Fehlens klarer Regeln für einen solchen Notfall wie eine Pandemie. Christian Rath hat das in seinem Kommentar noch einmal dargelegt. Im Frühjahr 2020 zu Beginn des Lockdowns wurde darüber auch ausführlich auf dem Verfassungsblog diskutiert. Die politische Schlussfolgerung daraus kann nur sein, nach der Pandemie klare Regelungen für einen solchen Fall wie eine Pandemie zu schaffen, die vor allem den Parlamenten eine Schlüsselrolle zuweisen. Aus historischer Angst vor Notstandsregelungen einen Zustand zu erzeugen, wie er jetzt vorliegt in der Bundesrepublik, ist keine akzeptable Lösung. Es gibt keine eindeutige Rechtsgrundlage für das Handeln, Gerichte müssen Ad-hoc-Entscheidungen treffen, Bundestag und Länderparlamente schlafen und haben zudem keine klaren Regeln zur Kontrolle der Regierung in einem solchen Ausnahmefall. Wie eine solche Notsituation wie die aktuelle Pandemie politisch besser zu managen ist, kann man/frau sich in Belgien abgucken. Vorausgesetzt, die deutschen Parlamente wechseln nicht direkt vom Sommer- in den Winterschlaf über. Wie gesagt, gibt es auch in Belgien heftige Debatten um Corona-Maßnahmen. Doch insgesamt ist das Vertrauen in die belgische Regierung und deren Corona-Politik aufgrund der klaren Regelungen und Begrenzung der Befugnisse (für die Notstandsregierung) nach meinem Eindruck höher als in der Bundesrepublik.
Weitere (deutschsprachige) Links zur Implementierung der belgischen Corona-Regierung:
Flandern ruft erneut den zivilen Notstand für das Gesundheitswesen aus. Von Andreas Kockartz | Flanderninfo, 30.10.2020
Coronavirus in Belgien: Was ist ein nationaler Katastrophenplan, wie funktioniert er und wer führt in aus? Von Andreas Kockartz | Flanderninfo, 13.03.2020
Coronakrise: Geschäftsführende Regierung soll umfassende Vollmachten bekommen. Im Kampf gegen die Coronavirus-Epidemie erhält die amtierende Minderheitsregierung um Premierministerin Sophie Wilmès umfassende Vollmachten. Am Montagnachmittag kommen die zehn Parteien zusammen, um über die praktische Umsetzung zu sprechen. | BRF, 15.03.2020
Belgien bekommt eine Corona-Regierung. König Philippe hat die Chefin der Übergangsregierung, Sophie Wilmès, mit der Bildung einer vollwertigen Regierung beauftragt. Hinter sich weiß die MR-Politikerin eine überwältigende Mehrheit von zehn der zwölf Parteien im Parlament. Zusätzlich soll Wilmès Sondervollmachten erhalten, um die Coronakrise zu bewältigen. Die N-VA murrt, scheint aber an Bord zu sein. Von Peter Eßer | BRF, 16.03.2020
Belgien: Heutige Regierung wird vollwertige Regierung zur Bekämpfung der Coronakrise. Von Uta Neumann | Flanderninfo, 16.03.2020
Wilmès und Minister legen Eid ab – Regierungserklärung in der Kammer. Die Minister der Föderalregierung haben am Dienstag vor König Philippe den Eid auf die Verfassung abgelegt. Die Kammer wird der Regierung am Donnerstag voraussichtlich das Vertrauen aussprechen. In ihrer Regierungserklärung beschwor Wilmès vor allem die „Nationale Einheit“ im Kampf gegen die Corona-Krise. | BRF, 17.03.2020
Die Regierung Wilmès II: Wie sieht sie aus und welche Befugnisse hat sie? Von Andreas Kockartz | Flanderninfo, 18.03.2020
Die Regierung Wilmès II erhält das Vertrauen des Parlaments. Von Andres Kockartz | Flanderninfo,19.03.2020
Parlament stattet die Regierung Wilmès mit Vollmachten zur Coronakrise aus. Von Andreas Kockartz | Flanderninfo, 27.03.2020
Coronavirus: Fragestunde in der Kammer. Premierministerin Sophie Wilmès musste sich auch am Donnerstag wieder Fragen zu ihrer Handhabung der Coronavirus-Krise stellen lassen. Weil die Situation sich möglicherweise langsam entspannt, ging es dabei unter anderem um die Exit-Strategie. Aber auch die besorgniserregende Lage gerade in den Alten- und Pflegeheimen trieb die Abgeordneten um. Von Boris Schmidt | BRF, 09.04.2020
Rückhalt für Sondervollmachten bröckelt zusehends. Es wird immer wahrscheinlicher, dass die Sondervollmachten für die Regierung Wilmès nicht verlängert werden. Nach den Grünen von Ecolo und Groen haben am Nachmittag auch die frankophonen Sozialisten PS und die flämischen Christdemokraten CD&V signalisiert, dass sie einem entsprechenden Antrag nicht automatisch zustimmen würden. Zuvor hatten sich auch schon andere Parteien in diese Richtung geäußert. Von Roger Pint | BRF, 27.04.2020
Titelbild: Bundestag, Berlin. Foto: Lars Steffens CC BY-SA 2.0 via FlickR
Auch ein Blog verursacht Ausgaben ...
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