Ruth Dukes und Wolfgang Streeck haben sich in ihrem Buch  „Democracy at Work. Contract, Status and Post-Industrial Justice“ mit dem Thema Demokratie am Arbeitsplatz – oder um einen Klassiker von Fritz P. Naftali aufzunehmen „Wirtschaftsdemokratie – befasst. Wolfgang Kowalsky vom Europäischen Gewerkschaftsbund (EGB) hat sich den 2023 im britischen Verlag Cambridge Polity Press erschienen Band genauer angeschaut und kommt zu einer kritischen Einschätzungen der Ausführungen der Autorinnen.

Von Wolfgang Kowalsky

Die Autoren befassen sich mit den Themen Vertrag, Status und dem verflochtenen Verhältnis zwischen Arbeitsrecht und politischer Ökonomie im Kontext des „staatlich gelenkten Kapitalismus der Nachkriegszeit“, jedoch nicht – wie der Titel suggeriert – mit „Demokratie am Arbeitsplatz“ im engeren Sinne. Die Autoren führen den titelgebenden Begriff „Demokratie am Arbeitsplatz“ weder ein noch erklären oder definieren sie ihn. Die „zentrale Botschaft“ lautet, dass das Arbeitsrecht „im Zusammenhang mit der politischen Ökonomie und dem dynamischen Prozess der kapitalistischen Entwicklung analysiert und konzipiert werden muss“.

Die Autoren postulieren, dass die gängigen Argumente für mehr Demokratie am Arbeitsplatz im Vergleich zur Diskussion über industrielle Demokratie der Nachkriegszeit nicht neu sind. Die vielfältigen Entwicklungen in verschiedenen europäischen Ländern seit der Nachkriegszeit erwähnen sie nicht. Stattdessen finden sich zahlreiche allgemeine Behauptungen: Die „proletarische Bedingung“ umfasse sowohl Elemente des Status als auch des Vertrags. Die Autoren konzeptualisieren die neuen Arbeitsbeziehungen und aktuellen Trends von vier archetypischen Arbeitnehmern: Gigworker, Amazon-Lagerarbeiter, Pflegekräfte und Universitätsprofessoren (72). Die Globalisierung habe die Macht globaler Unternehmen gestärkt und zu einem „dramatischen Rückgang der Gewerkschaftsmitgliedschaft und gewerkschaftlich geführter Streiks“ geführt.

Nach der Einleitung greift das Buch „die wissenschaftliche Literatur zu Arbeitsbeziehungen und Arbeitsrecht aus dem späteren zwanzigsten Jahrhundert auf“. Zum einen den amerikanischen Soziologen Philip Selznick, zum anderen die kritische sozialrechtliche Tradition von Hugo Sinzheimer, Talcott Parson, Milton Friedman usw. Zu Vertrag und Status stützen sie sich weitgehend auf eigene Schriften. Der Schwerpunkt der Diskussion liegt auf angelsächsischen Autoren, die sich nie mit „Demokratie am Arbeitsplatz“ beschäftigt haben.

Die vorhandene Literatur diskutieren die Autoren nicht, betonen aber, dass die Demokratie am Arbeitsplatz „auf zwei Ebenen der wirtschaftlichen Organisation rechtlich institutionalisiert werden musste: Auf der Ebene der Gesamtwirtschaft, wo sie den nationalen Gewerkschaften und den sektoralen Tarifverhandlungen anvertraut wurde, und auf der Ebene des Arbeitsplatzes, wo sie durch gewählte Vertreter der Belegschaft oder Betriebsräte, die mit gesetzlichen Rechten auf Mitbestimmung ausgestattet waren, gesichert werden sollte“ (38). Diese Beschreibung deutet entweder auf ein tiefes Missverständnis hin oder reduziert die „Demokratie am Arbeitsplatz“ auf eine bestimmte Form von Tarifverhandlungen, die sektorale einerseits und die Wahl von Vertretern der Belegschaft andererseits. Es ist möglich, den Begriff „Demokratie am Arbeitsplatz“ weit zu fassen und Tarifverhandlungen einzubeziehen, aber wieso dann nur branchenbezogen? Es könnte sinnvoll sein, zwischen zwei Dimensionen von „Demokratie am Arbeitsplatz“ zu unterscheiden. Diese müssten aber weiter gefasst werden: einerseits umfassen sie das gesamte Tarifverhandlungssystem, das sehr dynamisch ist und nicht mehr dasselbe ist wie vor 50 Jahren, und andererseits das System der Arbeitnehmervertretung (durch Vertrauensleute, Betriebsräte, Europäische Betriebsräte) und nicht zuletzt die Unternehmensmitbestimmung. Letztere hat sich ebenfalls ständig weiter entwickelt, verwiesen sei nur auf die Europäische Aktiengesellschaft EAG und die Fusionsrichtlinie usw. ….

Aus der angelsächsischen Perspektive der Autoren ist es nicht verwunderlich, dass die meisten Beispiele aus den USA und Großbritannien stammen, vor allem aus nicht gewerkschaftlich organisierten Betrieben. Allein in Frankreich wäre es möglich, eine große Anzahl von Unternehmen mit Vertretern auf Vorstandsebene zu finden: Alstom, Axa, BNP, Michelin, Orange, Renault etc. pp. Die europäische Perspektive fehlt völlig, und damit natürlich auch die europäischen Betriebsräte (EBR) und die Auswirkungen der Richtlinie über die EAG, die zu einer begrenzten Europäisierung der Vertretung und Mitwirkung in den Unternehmensorganen geführt hat.

Die Autoren erklären nicht, warum sie die europäische Dimension der „Demokratie am Arbeitsplatz“ ignorieren und als unbedeutend abtun, obwohl sie in der Tat in einer großen Zahl von Mitgliedstaaten und einer großen Zahl von europäischen Unternehmen Auswirkungen hat: 17 EU-Mitgliedstaaten und Norwegen haben gesetzliche Bestimmungen für eine stimmberechtigte Arbeitnehmervertretung im Aufsichtsrat und/oder Vorstand von Unternehmen erlassen. Analoge Bestimmungen über die Vertretung der Arbeitnehmer in den Leitungsorganen sind in weiteren europäischen Gesellschaftsgesetzen festgelegt. Das Thema ist umstritten.  Wäre es nicht besser, sich an der Debatte zu beteiligen, auch kritisch, statt das Thema links liegen zu?

Neuere Beiträge zum Thema „Demokratie am Arbeitsplatz“ aus dem 21. Jahrhundert werden nicht erwähnt, wie z.B. die Website „more democracy at work“. Oder, um nur eine der EU-Quellen zu nennen, die breit angelegte Forschung des Europäischen Gewerkschaftsinstituts ETUI: Der Platz reicht hier nicht aus, um die umfangreiche Literatur über Europäische Betriebsräte, die Unternehmensmitbestimmung, die entsprechenden Kapitel in Benchmarking Social Europe usw. aufzulisten, aber um einige Namen zu nennen: Aline Conchon, Norbert Kluge, Jeremy Waddington, Michael Stollt, Sara Lafuente Hernandez, Johannes Heuschmid … Eine Suche auf der ETUI Website nach dem Begriff „board-level“ ergibt allein schon 127 Ergebnisse.

Die Vermischung von Tarifverhandlungen, die in der Tat ein wichtiges Instrument der Gewerkschaften für Mitbestimmung sind, mit diesem Kontext macht die Sache noch unklarer, denn sie sind trennbar, vor allem analytisch. Sie sind analytisch unterscheidbar, insbesondere im dualistischen System, aber auch im monistischen System, wo oft dieselben Akteure beide Aufgaben erfüllen. Der deutsche Begriff „Mitbestimmung“ umfasst sowohl die betriebliche Mitbestimmung durch Betriebsräte und Europäische Betriebsräte als auch die Unternehmensmitbestimmung, die Mitwirkung der Belegschaft und der Gewerkschaft durch Mitwirkung und Vertretung auf Vorstandsebene, einschließlich der Diskussion und des Ringens um Unternehmensstrategien. Deshalb trägt es nicht zu einem tieferen Verständnis bei, den deutschen Begriff Mitbestimmung umstandslos mit ‚codetermination‘ zu übersetzen. In Deutschland mag sich die Bedeutung des Begriffs Mitbestimmung aus dem jeweiligen Zusammenhang problemlos erschließen, nicht jedoch, wenn der Begriff ins Englische oder Französische übersetzt wird. Dann macht die Mehrdeutigkeit die Argumentation schwer nachvollziehbar oder es muss erraten werden, welche Dimension von „Demokratie am Arbeitsplatz“ gemeint ist. Der Rekurs im Englischen auf den deutschen Begriff „Mitbestimmung“ ist eben zweideutig. Klarer wäre es, die Begriffe „workers’ board-level representation (rights)“ oder „workers’ board-level participation (rights)“ zu verwenden. Statt  dies zu tun, bedauern die Autoren, dass die Begriffe „Betriebsrat“ und „Unternehmensmitbestimmung“ den Kern von „Demokratie am Arbeitsplatz“ darstellen statt Tarifverhandlungen mit einbezogen würden.

Alles in allem ist der Titel irreführend: Der größte Teil des Inhalts hat nichts mit „Demokratie am Arbeitsplatz“ zu tun, lediglich mit Status und Vertrag. Um es zu resümieren: Das Konzept „Demokratie am Arbeitsplatz“ wird weder eingeführt noch erklärt, und die gesamte europäische Dimension bleibt außen vor, wie auch der größte Teil der akademischen Literatur zu diesem Thema. Wenn jemand etwas über „Demokratie am Arbeitsplatz“ lernen will, gibt es eine Fülle von Literatur, die dazu besser geeignet ist (siehe nicht zuletzt auf der Website des ETUI).

Ruth Dukes, Wolfgang Streeck, Democracy at Work. Contract, Status and Post-Industrial Justice; Cambridge Polity Press 2023

Titelbild: IGMetall-Jugend Bayern CC_BY-SA 2.0 DEED via FlickR

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Zum Autor

Wolfgang Kowalsky, Dr., Dipl.-Soz., Studium in Berlin und Paris-Nanterre, tätig bei Grande Ecole HEC bei Paris, bei der IGMetall Grundsatzabteilung, Fellow am Wissenschaftszentrum NRW, zuletzt Referent beim Europäischen Gewerkschaftsbund. Diverse Publikationen zu europäischen und anderen aktuellen Themen.

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