Von Jürgen Klute

Seit dem 1. April 2012 steht Bürger*innen in der Europäischen Union, sofern sie das Wahlalter erreicht haben, das Instrument der Europäischen Bürgerinitiative (EBI) zur Verfügung. Das politische Ziel der EBI ist es, die Europäische Union bürger*innennäher und demokratischer zu machen sowie öffentliche Debatten über EU-relevante Themen zu befördern und damit zum Ausbau einer EU-weiten Öffentlichkeit beizutragen. In ihrem ersten Bericht über die EBI von 2015 betont die Europäische Kommission, dass die EBI „darauf ab[hebt], die Bürger stärker an der Bestimmung der politischen Ziele der EU zu beteiligen.“ (EU-COM 2015: 2).

Etwas anders formuliert: Die EBI will auf Demokratiedefizite antworten und verloren gegangenes Vertrauen von Bürger*innen in demokratische Entscheidungsprozesse wiederherstellen. Schon lange ist die EU mit dem Vorwurf konfrontiert, ihre politischen Entscheidungsprozesse seien intransparent, die Kommission und das Amt der bzw. des Vorsitzenden werden nicht durch Wahlen besetzt, es gäbe keine europäische Öffentlichkeit, die die Arbeit der EU-Institutionen kontrolliert, es gibt keine EU-weiten Wahllisten, das Europäische Parlament (EP) wird nicht nach dem Prinzip „one man, one vote“ besetzt (weil kleine Mitgliedsländer aus Gründen der Repräsentation im EP gegenüber großen Mitgliedsländern überproportional vertreten sind) etc. Das Agieren der Euro-Gruppe, die keine Rechtsgrundlage in den EU-Verträgen hat, und der „Troika“ aus Europäischer Zentralbank (EZB), EU-Kommission und dem Internationalen Währungsfonds (IWF) während der Banken- und der so genannten Eurokrise, die zu einer dramatischen Verschärfung sozialer Ungleich-heit innerhalb der EU geführt hat, hat die politische Legitimität der Europäischen Union untergraben.

Gleichzeitig verzeichnen rechte, autoritäre Parteien sowohl im EP als auch auf der Ebene der EU-Mitgliedsländer deutliche Stimmenzuwächse, vor allem in den nordwesteuropäischen Ländern. In Polen und Ungarn sind mittlerweile so genannte illiberale Demokratien entstanden, die die Gewaltenteilung und das Rechtsstaatsprinzip Schritt für Schritt außer Kraft setzten. In Großbritannien hat der über Jahre entwickelte Populismus von Nigel Farage und seiner rechtsextremen „United Kingdom Independence Party“ (UKIP) 2016 dazu geführt, dass eine knappe Mehrheit der Briten im Rahmen eines Referendums für den Austritt aus der EU gestimmt haben, der mittlerweile auch vollzogen ist. Ein tiefer liegender Grund für die Krise der Demokratie dürfte allerdings im Wandel der europäischen Industriegesellschaften liegen. In der Hochphase der Industriegesellschaften – vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg – gab es starke Gewerkschaften und linke Parteien, die den politischen und ökonomischen Interessen in der Öffentlichkeit und in den Parlamenten Gehör verschafften und sie auch durchsetzen konnten.

Im Zuge der Digitalisierung sind die klassischen industriellen Großbetriebe als soziale Basis der Gewerkschaften und traditioneller linker Parteien bis auf einige Restbestände verschwunden.Nicht zu vergessen ist der Untergang der Sowjetunion und die Auflösung des Warschauer Paktes, was zu einer völligen politischen Neuordnung Europas führte und 2004 zur Integration einer größeren Zahl ehemaliger Warschauer-Pakt-Staaten in die EU (die so genannte EU-Osterweiterung) mit einer völlig anderen politischen und ökonomischen Struktur und Geschichte als die westeuropäischen EU-Mitgliedstaaten. Mittlerweile dürften auch die mehr als zögerlichen politischen Antworten auf die immer spürbarer werdende Klimaerwärmung bei einem Teil der Bürger*innen Zweifel an den bestehenden demokratischen Entscheidungsprozessen bestärken.

Angesichts dieser gesellschaftlichen Entwicklungen in Europa und innerhalb der EU sind demokratische Reformen überfällig. Das mit der Einführung der EBI ein vorsichtiger erster Schritt in Richtung einer demokratischen Reform gemacht wurde, ist daher grundsätzlich zu begrüßen. Ob die EBI den Reformerfordernissen aber Rechnung tragen kann, ist eine andere Frage und im Rahmen dieses Reports zu behandeln. Der vorliegende Report lotet aufgrund der bisher durchgeführten EBI deren Möglichkeiten und Grenzen aus. Für wen ist die EBI tatsächlich ein nutzbares Instrument und für wen eher nicht? Die Zahl von einer Million Unterschriften aus mindestens einem Viertel der EU-Mitgliedsländer erweist sich als eine schwer zu überwindende Hürde, die bisher nur von sehr wenigen EBI übersprungen wurde.Ein anderer Punkt ist, dass zwar der Weg zur Einbringung von Gesetzen für EU-Bürger*innen geöffnet wurde. Hat jedoch ein solcher Vorschlag die administrativen Hürden überwunden, haben die Bürger*innen auf den anschließenden Gesetzgebungsprozess keinen Einfluss mehr.

Eine Demokratisierung des Aushandlungs- und Entscheidungsprozesses stellt die EBI also nicht dar. Der eigentliche Gesetzgebungsprozess bleibt also weiterhin weitgehend intransparent für die meisten Bürger*innen. Doch gerade diese Intransparenz ist problematisch und muss adressiert werden, um verloren gegangenes Vertrauen in demokratische Entscheidungsprozesse wiederzuerlangen.Bisher hat die EBI nicht zu den erhofften breiten und EU-weiten Debatten geführt, mittels derer die demokratische Funktionsweise der EU verbessert werden sollte. Und ob die EBI bei den Bürger*innen mehr Interesse für die EU und die EU-Politik erzeugt hat, scheint bisher auch eher zweifelhaft. Soll die EBI eine nachhaltig positive Wirkung haben, dann sind weitergehende Reformen und Ergänzungen nötig, die auch Beteiligungen von Bürger*innen am Aushandlungs- und Entscheidungsprozess der Gesetzgebung ermöglichen.

Ein Instrument könnten die so genannten Bürgerversammlungen bzw. Citizens’ Assemblies sein. Sie schaffen nicht nur Beteiligungsmöglichkeiten, sondern durch ihre Zusammensetzung nach dem Zufallsprinzips schaffen sie auch eine umfassende Repräsentation der Gesellschaft, die den EBI aufgrund ihrer spezifischen Struktur nicht möglich ist, da sie auf die Bündelung von Interessen zielt, um ein bestimmtes Anliegen zu Gehör zu bringen.

Deshalb plädiere ich meinem Report, den ich für das Brüsseler Büro der Rosa Luxemburg Stiftung erstellt habe, sowohl für eine zügige Weiterentwicklung der EBI im Sinne einer vereinfachten Nutzbarkeit als auch für eine Ergänzung der EBI im Sinne einer Demokratisierung von Aushandlungs- und Entscheidungsprozessen im Rahmen von Gesetzgebungsverfahren. Die EU-Kommission hat mit der neuen EBI-Verordnung von 2019 die Handhabung der EBI in einigen Punkten vereinfacht. So wurde unter anderem die Beteiligung von EU-Bürger*innen, die nicht in ihrem Herkunftsland leben, erleichtert, die EU bietet nun dauerhaft kostenfrei die Nutzung von Servern und Software für die Online-Unterschriftensammlung an und die EBI-Organisator*innen können nun selbst entscheiden, wann die Unterschriftensammlung innerhalb eines Zeitraums von sechs Monaten nach dem Registrierungsdatum beginnen soll. Es sind aber weitergehende Schritte denkbar und auch nötig.

Zusammenfassung des Reports

[Der Report berücksichtigt die vom 01.04.2012 bis zum 09.11.2020 eingereichten EBI]

Die Europäische Union (EU) hat zum 1. April 2012 die Europäische Bürgerinitiative (EBI) als ein Element der partizipativen Demokratie eingeführt. Sie gibt den Bürger*innen die Möglichkeit, der EU-Kommission einen Gesetzesvorschlag vorzulegen, sofern die EBI mindestens eine Million Unterschriften erhalten hat und das Anliegen der EBI in die Kompetenz der EU-Kommission fällt. Eine erfolgreiche EBI verpflichtet die EU-Kommission jedoch nicht zur Vorlage eines Gesetzesvorschlags. Sie muss sich lediglich mit dem Anliegen der EBI befassen. Lehnt sie eine Gesetzgebung ab, so hat sie dies öffentlich zu begründen. Ziel der EBI ist es, den Bürger*innen die EU näherzubringen und sie an der Gestaltung der EU aktiv zu beteiligen.

Seit ihrer Einführung wurden fast 100 Registrierungsanträge für eine EBI an die EU-Kommission gerichtet, 75 wurden registriert und sechs waren erfolgreich (für eine siebte läuft das Prüfverfahren der Unterschriften noch).

Einerseits zeigen diese Zahlen, dass die EBI durchaus auf eine positive Resonanz stößt. Andererseits zeigen sie aber auch, dass der Schwellenwert von einer Million Unterschriften eine nur schwer zu überwindende Hürde darstellt. Die nähere Betrachtung der EBI zeigt, dass bisher ausschließlich die EBI erfolg reich waren, die auf die finanzielle und organisatorische Unterstützung großer zivilgesellschaftlicher Organisationen oder professionell arbeitender Kampagnenplattformen zurückgreifen konnten. EBI, die nur von Bürger*innengruppen getragen oder mittelgroßen Organisationen unterstützt wurden, blieben mit ihren Unterschriftensammlungen weit unterhalb dieser Schwelle.

Trotz der geringen formalen Erfolgsquote halten Organisator*innen die EBI für ein sinnvolles politisches Instrument, da es zur Sensibilisierung für die jeweiligen Themen und zur EU-weiten Vernetzung von Akteuren, die sich für ein Thema engagieren, in relevanter Weise beiträgt. Das wiederum erhöhe den politischen Handlungsdruck.

Die EU-Kommission nimmt als Beraterin von EBI-Organisator*innen und gleich zeitiger Adressatin einer EBI eine problematische Doppelrolle ein (wobei gegen Entscheidungen der Kommission bezüglich einer EBI beim EuGH Beschwerde eingelegt werden kann). Gleichwohl bestätigen die befragten EBI-Organisator*innen, dass die Kommission generell unterstützend agiert. Eine Reihe technischer Probleme bei der Durchführung von EBI wurden im Rahmen der Revision der EBI- Verordnung von 2019 entschärft oder beseitigt. So beginnt die Sammlungsfrist nicht mehr mit dem Tag der Registrierung, sondern kann von den Organisator*innen innerhalb von sechs Monaten nach Registrierung selbst bestimmt werden. Die Übersetzung der EBI wird nach der neuen Verordnung von der Kommission übernommen. Das zunächst als befristete Zwischenlösung vorgesehene Angebot der Kommission, die Online-Unterschriftensammlung auf Servern der EU zu hosten, wurde zu einem dauerhaften datenschutzkonformen Angebot einschließlich des Angebots einer entsprechenden Software, die nun auch Schnittstellen zu sozialen Medien bietet, ausgeweitet. Der Zugang zur Online-Unterschriftensammlung ist mittlerweile barrierefrei. Die Haftung des EBI-Organisationsausschusses wurde begrenzt. Schließlich können EBI, deren Anliegen nur teilweise in die Kompetenz der EU-Kommission fallen, jetzt teilweise zugelassen werden; sie müssen also nicht mehr komplett abgelehnt werden.

Soweit die wichtigsten technischen Verbesserungen der neuen EBI-Verordnung von 2019. Sie berücksichtigen allerdings nur einen Teil der Vorschläge, die aus dem Kreis der EBI-Organisator*innen kommen. Vor allem fehlt es an einer finanziellen Ausstattung, die es den Organisator*innen ermöglicht, für die Dauer von zwölf Monaten eine wirksame Unterschriftenkampagne durchzuführen. Ebenso fehlt es kleinen EBI-Teams ohne großen organisatorischen Rückhalt an Zugang zu Kampagnennetzwerken. Nicht zuletzt beklagen Organisator*innen den geringen Bekanntheitsgrad der EBI, ihrer Möglichkeiten und ihrer politischen Bedeutung unter den EU-Bürger*innen wie auch unter Journalist*innen und fordern daher stärkere Anstrengungen seitens der EU, dies zu ändern.

Die politischen Begrenzungen der EBI bleiben jedoch unverändert. Nach wie vor dürfen EBI sich nur auf Anliegen beziehen, die in die Kompetenz der EU-Kommission fallen. Bei erfolgreichen EBI gibt es auch weiterhin keine Verpflichtung der EU-Kommission zu legislativem Handeln, was ebenfalls von Seiten der EBIOrganisator*innen kritisiert wurde. Um den Handlungsdruck auf die Kommission zu erhöhen, wurde deshalb vorgeschlagen, das Europäische Parlament solle sich erfolgreiche EBI zu eigen machen und der Kommission ebenfalls einen entsprechenden legislativen Initiativbericht vorlegen. Schließlich bezieht sich die Demokratisierung der EU-Gesetzgebung weiterhin nur auf die Möglichkeit des Vorschlags einer neuen Gesetzgebung, nicht aber auf den Aushandlungsprozess einer Gesetzgebung.

Vor diesem Hintergrund schlägt der vorliegende Report vor, die EBI mit dem partizipatorischen Instrument der Bürgerräte (bzw. Bürgerdialog oder Citizens‘ Assembly, wie sie beispielsweise in Ostbelgien, Irland und dem österreichischen

Bundesland Vorarlberg etabliert sind) zu verknüpfen. Die EBI übernähme dabei die Funktion, ein Gesetzesanliegen mit einer ausreichenden Legitimation in Form der erforderlichen Unterschriften auf die politische Tagesordnung zu setzen. Im Erfolgsfall wird das Anliegen der EBI von einem Bürgerrat, der per Losverfahren bestimmt wird, zu einem Gesetzgebungsvorschlag aufbereitet, der anschließend von der EU-Kommission auf seine Verträglichkeit mit den EU-Verträgen geprüft und in den üblichen Gesetzgebungsprozess der EU eingebracht wird.

Mit einer Kombination von EBI und Bürgerräten würde die partizipative Demokratie auf EU-Ebene deutlich ausgeweitet und gestärkt werden, ohne die demokratisch stärker legitimierten Gremien der repräsentativen Demokratie zu übergehen. Vielmehr würde diese Form der Kooperation von repräsentativer und partizipatorischer Demokratie das System von „Checks and Balances“ stärken, sodass die EBI für Vertragsänderungen geöffnet und letztlich thematisch gänzlich entgrenzt werden könnte, ohne dass befürchtet werden müsste, dass dieses Instrument von Populist*innen gekapert und missbraucht werden könnte. Artikel 48 EUV lässt ein solches Verfahren grundsätzlich zu. Danach können Mitgliedstaaten, das Europäische Parlament und die EU-Kommission dem EU-Rat Entwürfe für die Änderung der Verträge vorlegen. „Diese Entwürfe können unter anderem eine Ausdehnung oder Verringerung der der Union in den Verträgen übertragenen Zuständigkeiten zum Ziel haben“, heißt es in Artikel 48 (2) EUV. Im Falle einer EBI, die sich auf eine Vertragsänderung bezieht, wäre deren Anliegen zunächst im Bürgerrat zu behandeln und dann von Kommission und Europäischem Parlament zu beraten, um dann von den beiden EU-Institutionen dem EU-Rat vorgelegt zu werden.

Der komplette Report steht hier als PDF zum Download zur Verfügung

Titelbild: privat

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