Die Trump-Regierung betrachtet die Abschaffung der EU als eine Frage der nationalen Sicherheit der USA, schreibt Ilja Leonard Pfeijffer. Es ist höchste Zeit, dass rechtsstaatliche Parteien ihre Kräfte bündeln. Ein leuchtendes Beispiel gibt es bereits: König Philippe.
Essay von Ilja Leonard Pfeijffer | 28. Juli 2025
Was die bemerkenswerten Äußerungen Seiner Majestät König Philippe von Belgien anlässlich des Völkermords Israels an den Palästinensern, in denen er in seiner Fernsehansprache am Vorabend des 21. Juli(*) dieses Jahres die humanitäre Lage dort als „eine Schande für die Menschheit“ bezeichnete, so brisant macht ist, dass sie im Kontext einer konstitutionellen Monarchie abgegeben wurden und dass der belgische Premierminister und die Minister angesichts der verfassungsmäßigen Unantastbarkeit des Königs die Verantwortung für eine Sichtweise tragen, die sie selbst nicht zu äußern wagten.
Obwohl derzeit kein Gedanke und kein Artikel sich mit etwas anderem als den Palästinensern befassen sollte, gilt mein Interesse hier für einen Moment dem Staatswesen. In modernen westlichen Monarchien ist die Macht eines Monarchen den verfassungsmäßig festgelegten Zuständigkeiten der Institutionen des demokratischen Rechtsstaats untergeordnet. Das Gegenteil einer solchen konstitutionellen Monarchie ist eine absolute Monarchie, in der die legislative, exekutive und judikative Gewalt ohne Einschränkungen in der Person des Monarchen zusammenfließen, der Gesetz, Wille und Struktur des Staates ist.
Es erscheint merkwürdig und umständlich, dasselbe Epitheton „konstitutionell” zur Qualifizierung einer Demokratie zu verwenden. Es scheint doch in der Natur eines demokratischen Systems zu liegen, dass Befugnisse verfassungsrechtlich definiert sind. Aber das einst tautologische Konzept der konstitutionellen Demokratie wird heute durch eine andere Sichtweise der Volkssouveränität in Frage gestellt, die analog zur absoluten Monarchie als absolutistisch bezeichnet werden kann.
Während eine konstitutionelle Demokratie dem Leitgedanken folgt, dass Machtenkonzentrationen vermieden werden müssen, notfalls auf Kosten der Effizienz, wie James Madison in seinem Federalist Paper Nr. 10 argumentierte, und dass eine konsequente Gewaltenteilung nach dem Modell der trias politica und ein ausgeklügeltes System von Checks and-Balance das Wesen der Staatsordnung bilden, ist es in einer absolutistischen Sichtweise der Demokratie undemokratisch, ein demokratisches Mandat Einschränkungen zu unterwerfen.
Streit um Begriffe
Eine absolute Demokratie zielt darauf ab, die legislative, exekutive und judikative Gewalt in der Person des demokratisch gewählten Führers zu vereinen. Während eine konstitutionelle Demokratie durch ein ständiges Suchen nach einem Gleichgewicht zwischen den Interessen der Mehrheit und der Minderheiten gekennzeichnet ist, errichtet die absolute Demokratie eine Diktatur der Mehrheit.
Eine derartige absolute Demokratie wird oft als „illiberal” bezeichnet, da sie im Namen der Mehrheit die Freiheit einschränkt. Die durch das Mandat der demokratischen Mehrheit legitimierte Wahrheit wird zur einzigen Wahrheit, die eine Daseinsberechtigung hat. Andere Ansichten werden als undemokratisch angesehen. Die Opposition wird missachtet, verdächtigt, zum Schweigen gebracht oder verboten. Die Presse wird nur noch toleriert, soweit sie die demokratisch gewählte Wahrheit bestätigt.
Es wird nicht mehr als akzeptabel betrachtet, dass die Regeln und Institutionen des Rechtsstaats der Allmacht derer, die behaupten, den Volkswillen zu vertreten, Grenzen setzen. Wer aus guten Gründen der Meinung ist, dass eine illiberale Demokratie nicht mehr als Demokratie bezeichnet werden kann, wird sich der Analyse anschließen können, dass solchen Fällen die Demokratie im Namen der Demokratie abgeschafft wurde. Eine illiberale Demokratie ist ein Widerspruch in sich.
Das ist unsere Sichtweise. Andere betrachten sich hingegen als Verfechter der Demokratie, weil sie diese von den Fesseln undemokratischer Institutionen befreien wollen. Sie bezeichnen uns als undemokratisch, weil wir den Willen des Volkes Gesetzen unterwerfen, die von nicht gewählten Richtern durchgesetzt werden, und Verfahren, die von nicht gewählten Bürokraten überwacht werden. Aus diesem Grund führe ich eine alternative Terminologie ein. Durch die Gegenüberstellung von konstitutioneller und absoluter Demokratie wird deutlich, dass beide Modelle einen demokratischen Anspruch erheben und dass die Anhänger des letzteren Modells der Meinung sind, sie müssten die wahre Demokratie gegen unsere entartete Demokratie verteidigen.
Dass eine absolute Demokratie mit der Zeit immer mehr einer absoluten Monarchie ähnelt, wovor bereits Alexis de Tocqueville warnte, und dass sich der Präsident der Vereinigten Staaten, Donald Trump, der derzeit absolutistischste Demokrat, sich tatsächlich königliche Allüren aneignet, die auf jedem Foto und jedem Video aus seinem Oval Office goldglänzend zur Schau gestellt werden, wird von der Mehrheit, die dem Führer sein demokratisches Mandat verschafft hat, als Sieg der Demokratie über die Institutionen angesehen.
Ausgehend von dieser Dichotomie lässt sich verstehen, warum der Vizepräsident der Vereinigten Staaten, J.D. Vance, in seiner berüchtigten Rede am Freitag, dem 14. Februar 2025, während der 61. Münchner Sicherheitskonferenz Europa zur Verblüffung und zum Ärger der anderen Anwesenden einer undemokratischen Gesinnung bezichtigen konnte. Der Kern seiner Anklage war, dass die Länder Europas konstitutionelle Demokratien sind, in denen der Wille des Volkes den in unseren Verfassungen verankerten Prinzipien untergeordnet ist.
Gesetzte Ordnung
Deshalb schützen wir die Rechte von Minderheiten, und deshalb zeigen wir die Tendenz, Politikern, Parteien und politischen Strömungen, die verfassungswidrige Ansichten vertreten, Beschränkungen aufzuerlegen. Da unser Demokratieverständnis nicht absolutistisch ist, glauben wir nicht, dass die Richtigkeit von Tatsachen und die Glaubwürdigkeit von Wahrheiten davon abhängen, wie viele Menschen sie vertreten. Deshalb unterscheiden wir zwischen Meinungsfreiheit und der Verbreitung von Desinformation, und deshalb halten wir es für wichtig, unsere Bürger vor Propaganda zu schützen.
Vizepräsident J.D. Vance hat in München deutlich gemacht, dass er Europa von seinen konstitutionellen Demokratien befreien will. Dies war mehr als nur eine beiläufige Bemerkung, in der er persönliche Ansichten äußerte. Es handelt sich vielmehr um die offizielle Politik der US-Regierung. Am 27. Mai 2025 wurde ein Dokument veröffentlicht, das dies zweifelsfrei klarstellt. Es trägt den Titel „The Need for Civilizational Allies in Europe” (Die Notwendigkeit zivilisatorischer Verbündeter in Europa) und wurde von Samuel Samson, Senior Advisor for the Bureau for Democracy, Human Rights, and Labor (DRL; leitender Berater für das Büro für Demokratie, Menschenrechte und Arbeit) des US-Außenministeriums, verfasst. Es trägt den Namen und das Siegel des US-Außenministeriums und wurde auf der Substack-Website des Ministeriums veröffentlicht.
Unter Verweis auf Athen, Rom, das mittelalterliche Christentum und das englische Gewohnheitsrecht, jedoch ohne Erwähnung der Aufklärung, wird in dem Strategiepapier argumentiert, dass die Vereinigten Staaten Europa grundlegende Werte verdanken und dass die Trump-Regierung Alarm schlägt, weil diese Werte gerade in Europa verschleudert würden. Die supranationalen Organisationen, die Europa am Morgen nach dem Zweiten Weltkrieg mit den besten Absichten ins Leben gerufen hat – gemeint ist vor allem die Europäische Union –, seien zu Waffen gegen die europäischen Traditionen und Bürger umfunktioniert worden.
„Europa ist zu einer Brutstätte für digitale Zensur, Massenmigration, Einschränkungen der Religionsfreiheit und unzählige andere Angriffe auf die demokratische Selbstverwaltung verkommen.“ Folgende Beispiele werden genannt: zwei Briten, die mit einer Geldstrafe belangt wurden, weil sie vor einer Abtreibungsklinik gebetet hatten, der Digital Services Act der Europäischen Union, die Versuche zur Regulierung des sozialen Netzwerks X, die Dämonisierung der Alternative für Deutschland, die Anklage gegen Marine Le Pen, Interventionen in die Wahlen in Polen und Rumänien sowie die Kritik an der „christlichen Nation“ Ungarn.
Die europäische Einheit und die konstitutionelle Demokratie werden derzeit sowohl aus dem Osten als auch aus dem Westen unter Druck gesetzt
„Unsere Bedenken sind grundsätzlicher Natur“, heißt es weiter in dem Dokument. „Die Unterdrückung der Meinungsfreiheit, die Förderung von Massenmigration, die Angriffe auf religiöse Äußerungen und die Untergrabung des Wahlrechts bedrohen die Grundlage der transatlantischen Partnerschaft. Ein Europa, das seine spirituellen und kulturellen Wurzeln verscherbelt, traditionelle Werte als gefährliche Relikte behandelt und die Macht in Institutionen zentralisiert, die keiner demokratischen Rechenschaftspflicht unterliegen, ist ein Europa, das sich externen Bedrohungen und internem Verfall nur schwer widersetzen kann.
Um Frieden in Europa und dem Rest der Welt zu erreichen, ist es notwendig, unser gemeinsames kulturelles Erbe neu zu definieren. Der Demokratieverfall in Europa hat nicht nur Folgen für die europäischen Bürger, sondern auch für die Sicherheit und die wirtschaftlichen Interessen der USA sowie für die Meinungsfreiheit der amerikanischen Bürger und Unternehmen.
Moralische Glaubwürdigkeit
Dies wird durch eine unmissverständliche Warnung ergänzt: „Minister Marco Rubio hat deutlich gemacht, dass das Außenministerium stets im Interesse Amerikas handeln wird.“
Die Trump-Regierung betrachtet es als ein Anliegen der nationalen Sicherheit der Vereinigten Staaten, dass die Europäische Union zerschlagen wird, dass Europa nationalistisch, christlich, konservativ und weiß wird, dass die Migration gestoppt und rückgängig gemacht wird und dass digitale Desinformation und Propaganda keine Hindernisse in den Weg gelegt werden. Sie wird aktiv zu dieser in ihren Augen wünschenswerten Transformation beitragen. Der Regimewechsel in Europa ist ein offizielles Ziel der Außenpolitik der Vereinigten Staaten.
Die US-Regierung sieht sich als Verfechterin der Demokratie, die den demokratischen Absolutismus nach dem Vorbild von Trump und Orbán auf europäische Gesetze und nationale Verfassungen übertragen will. Europäische Politiker und politische Parteien, die die konstitutionelle Demokratie ablehnen, können mit der Unterstützung der US-Regierung rechnen.
Es ist ein Paradox – oder vielleicht auch nicht –, dass diese neue amerikanische Politik die russische Strategie stärkt, die seit Jahrzehnten darauf abzielt, die Union durch die Unterstützung nationalistischer, anti-europäischer, absolutistischer politischer Strömungen in den verschiedenen Ländern Europas zu schwächen. Die europäische Einheit und die konstitutionelle Demokratie werden derzeit sowohl aus dem Osten als auch aus dem Westen unter Druck gesetzt. Sowohl im Osten als auch im Westen wird man versuchen, unsere künftigen Wahlen zugunsten antikonstitutioneller Parteien zu beeinflussen.
Diesem doppelten Druck kann allein getrotzt werden, wenn wir uns der Bedrohung und dem, was auf dem Spiel steht, voll bewusst sind, wenn unsere Politiker Weitsicht und reife Führungsstärke zeigen, anstatt sich ängstlich den Tagesstimmungen der öffentlichen Meinung anzupassen, und wenn es uns gelingt, die Kräfte der rechtsstaatlichen Parteien zu bündeln. Schließlich muss noch hinzugefügt werden, dass jedes Plädoyer für den Rechtsstaat nur dann glaubwürdig sein kann, wenn wir es wagen, dem leuchtenden Beispiel von König Philippe zu folgen und den Völkermord Israels an den Palästinensern beim Namen zu nennen und zu verurteilen.
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(*) Am 21. Juli findet seit 1890 der belgische Nationalfeiertag (er ist heute eher ein internationales Fest) statt. Der Tag erinnert an die Vereidigung von König Leopold I. als König der Belgier am 21. Juli 1831. Die Gründung Belgiens erfolgte bereits am 4. Oktober 1830 durch Abspaltung von den Niederlanden (die Anerkennung Belgiens durch die europäischen Großmächte Großbritannien, Frankreich, Österreich, Preußen und Russland erfolgte am 26. Dezember 1830). Obgleich Belgien zunächst als Republik gegründet wurde, entschloss sich die erste zunächst noch provisorische Regierung recht bald aus diplomatischen Gründen dazu, Belgien zu einer konstitutionellen Monarchie zumachen. Dementsprechend ist der König der Belgier – oder zukünftig auch die Königin der Belgier, denn im Zuge der Gleichstellung wird sein Nachfolger nicht mehr sein ältester Sohn sein, sondern sein ältestes Kind, und das ist seine Tochter Elisabeth – vor allem zuständig für die diplomatischen Beziehungen Belgiens mit anderen Staaten. Am Vortag des Nationalfeiertags hält der König Philippe regelmäßig eine Rede, die er in allen drei Landessprachen – Französisch, Niederländisch, Deutsch – vorträgt. Die Reden von König Philippe, der am 21. Juli 2013 sein Amt antrat, sind in der Regel ausgesprochen versöhnlich und integrativ und an den Menschenrechten ausgerichtet, er benennt aber ebenso politische Probleme beim Namen, wie in diesem Jahr die humanitäre Lage in Gaza. Die vollständige deutschsprachige Version der Rede von König Philippe vom 20. Juli 2025 kann hier nachgelesen und auch gehört werden.
Dieser Essay von Ilja Leonard Pfeijffer erschien ursprünglich am 26. Juli 2025 unter dem Titel „Het doel van de VS? Regimewisseling in Europa“ in der belgischen Zeitung „De Morgen“. Übersetzung ins Deutsche: Jürgen Klute
Titelbild: © Hanna Penzer
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